Deutsche Arktiserkundung: Der erfundene Pol
Der Geograph August Petermann schickt ab 1868 Expeditionen los, um das „offene Polarmeer“ aufzuspüren. Doch die Forscher finden nur Eis, Eis und Eis.
Wenn August Petermann 1878 die Karten der Arktis betrachtete, an deren Vervollständigung er mitgewirkt hatte, war das zänkische Gemüt des berühmten Kartographen in einem Punkt befriedigt. Überall sehe er jetzt auch deutsche Namen verzeichnet, meinte er: König-Wilhelm-Land, Bismarck-Spitze ... Es war ihm ein Trost, ein schwacher, denn er hatte sich viel mehr erhofft. Am 25. September jagte er sich eine Kugel durch den Kopf.
Zehn Jahre zuvor, im Herbst 1868, war der deutsche Kapitän Karl Koldewey von einer sechsmonatigen Erkundungsreise in die Arktis zurückgekehrt, auf die August Petermann ihn geschickt hatte. Doch wenn der Seemann sich nun fragte, wie er die Fahrt in den hohen Norden bewerten sollte, erschien sie ihm als „eine unglückliche, gänzlich misslungene“. So begann vor 150 Jahren die Geschichte der deutschen Polarforschung zunächst mit einer herben Enttäuschung.
Koldeweys Hoffnung war gewesen, den Eisring zu überwinden, hinter dem sich ein sagenhaftes eisfreies Meer hätte auftun sollen. Doch überall, schrieb der Kapitän in seinem Bericht, seien ihm „Hindernisse entgegengetreten, die nicht zu überwinden waren“. Er war am Eispanzer der Arktis abgeprallt wie ein Insekt.
Schlitten oder Schiffe, das war die Frage
Koldeweys kleine Expedition war der erste Vorstoß eines Landes, das sich so recht als Nation nicht fühlen konnte und deshalb umso mehr nach Anerkennung trachtete – nun auch in der „Polarfrage“. Die Suche nach einem Weg zum Pol hatte schon viele kühne Leute in die Arktis geführt und dort scheitern lassen. Die Deutschen glaubten, sie hätten die bessere Theorie. Damals beherrschten zwei Vorstellungen die Debatte, wie der Pol zu erreichen sei. Entweder über das Eis, indem man es mit Schlitten befuhr, was den Seefahrernationen Heidenrespekt einflößte. Oder durch das Eis, indem man auf Schiffe setzte. Schlitten oder Schiffe, das war die Frage.
August Petermann war eindeutig für Schiffe. Er, der Geograph und Aufklärer, der als „der Weise von Gotha“ galt, hatte dafür eine äußerst reizvolle Erklärung: Am Pol gebe es gar kein Eis, sagte er.
Für ihn waren Landkarten nicht bloß Abbilder dessen, was man sah und wusste, vielmehr durchaus geeignet, Linien über den Kartenrand hinaus ins Unbekannte zu ziehen und mit Informationen aus anderen Wissensgebieten zu verknüpfen.
Dass sein Interesse für die Polargebiete erwachte, hatte mit der Franklin-Expedition zu tun, die 1845 zur Nordwestpassage aufgebrochen und spurlos verschwunden war. Nur weniges regte die Fantasie der Zeitgenossen damals so sehr an wie der rätselhafte Verbleib der 129-köpfigen Mannschaft. Die britische Marine, die stärkste Streitmacht der Welt, hatte Sir John Franklin drei Schiffe gegeben und sie mit reichlich Proviant – für drei Jahre – sowie den besten Köpfen des königlichen Offizierskorps ausgestattet. Sie konnten doch nicht einfach so nirgends sein. Wie sich herausstellen sollte, war das Unheil in Form von Konservendosen an Bord gekommen, die schlecht verlötet waren, sodass Franklins Männer an Bleivergiftung erkrankten. Auf ihrem verzweifelten Todesmarsch verloren sie den Verstand und griffen sich vor Hunger gegenseitig an, was die Inuit sorgsam Abstand halten ließ.
Petermann vermutete ein „offenes Polarmeer“
Ein Dutzend Suchexpeditionen wurden in die Region entsandt, einige gingen selbst verloren, andere stießen weiter nach Norden vor als je ein Mensch zuvor, sodass sich das Rätsel um Franklin allmählich mit der ungelösten Polarfrage verband. Der Verlust so vieler Schiffe schien Schiffe überhaupt ungeeignet zu machen für das Vordringen im Eis. Das verstärkte die Suche nach einem Landpunkt, von dem aus eine Schlittenreise zum Pol unternommen werden konnte. Der Smith-Sund westlich von Grönland schien vielen Gelehrten der beste Zugang zu sein.
Petermann glaubte das nicht. Er stänkerte gegen die erfolglos bleibenden Bemühungen von Amerikanern und Briten. Um sie zu widerlegen, entwickelte er mit wissenschaftlicher Methodik seine Theorie, der zufolge der Weg zum Pol durchaus per Schiff zurückgelegt werden könne. Sein Argument war der Golfstrom. Das warme Wasser, dem Großbritannien und Skandinavien ihre Vegetation verdankten, könne nicht einfach versiegen. Petermann stellte sich vor, dass es einen „thermometrischen Zugang“ ins Eis schmelzen müsse.
Der „Professor“, wie ihn die Engländer abschätzig nannten, sollte seinen Schreibtisch nie verlassen, um seine Hypothesen in der Natur zu überprüfen. Er ließ reisen, regte eine deutsche Expedition an, um das „offene Polarmeer“ dort aufzuspüren, wo er es vermutete – bei Spitzbergen. Die Kosten für eine Vorexpedition, die im Mai 1868 von Bergen aus in See stach, übernahm der Geograph selbst. Zum Leiter des Unternehmens machte er Karl Koldewey, den 31-jährigen Obersteuermann aus Hannover. Über Expertise in Sachen Eis und Abenteuer verfügte der nicht. Aber er hatte einen Blick für das richtige Schiff und kaufte in Norwegen einen Robbenfänger, den er umsichtig ausrüstete. Zehn Mann nahm er mit auf die Grönland, Wissenschaftler waren nicht dabei.
Koldewey kehrte ernüchtert zurück
Petermanns Instruktionen sahen vor, dass Koldewey entlang der grönländischen Ostküste so weit nach Norden segeln sollte, wie das Eis es zulassen würde. Niemand hatte zu jener Zeit eine Vorstellung von der Ausdehnung der riesigen vergletscherten Landmasse. Falls im Nordosten kein Durchkommen war, sollte Koldewey einen zweiten Versuch bei „Gillis Land“ unternehmen, einer Insel irgendwo östlich von Spitzbergen, die nur einmal 1707 von einem niederländischen Walfänger gesichtet worden war – und seither nie wieder.
Koldewey kehrte ernüchtert zurück. Mehrfach war sein kleiner Schoner im Treibeis eingeschlossen worden. Und nach Gillis Land kam er gleich gar nicht. Aber der junge Kapitän kam mit Messdaten zurück, die Petermann zur Untermauerung seiner Theorie nutzte. Er hatte sich zudem als „glänzender Führer“ erwiesen. Nun sollte Koldewey auch die nächste Expedition im Folgejahr leiten. Sie bestand aus zwei Schiffen, den Bau der Germania finanzierte Petermann sogar aus eigenen Mitteln. Ansonsten war die Unternehmung getragen von Spenden, die großzügig flossen, weil weite Teile des deutschen Bürgertums den Vorstoß nach Norden als Zeichen nationaler Größe betrachteten. „Es gilt zu zeigen“, schrieb Koldewey, „dass deutsche Seeleute gleich tüchtig, gleich kühn, gleich ausdauernd sind wie ihre Berufsgenossen anderer Nationalität.“
„Wir fühlten uns am Eingange einer neuen Welt“
Am 15. Juni 1869 legten die Germania und die Hansa unter dem Getöse von Blaskapellen in Bremerhaven ab. Die Germania, ein Segel-Dampfer von 170 Tonnen, war von Petermann eigens für den thermometrischen Zugang konstruiert worden. Mit Eisenplatten am Rumpf verstärkt und mit starken Querbalken versehen, sollte sie in der Lage sein, sich mit der rabiaten Energie von Dampfkraft voranzuarbeiten. Doch nun kam Petermann der Mut abhanden. Er ließ die Schiffe nicht dem Golfstrom folgen, sondern schloss sich der Meinung seiner englischen Widersacher an, dass in Küstennähe das Eis besser zu bewältigen sei.
So nahmen Germania und Hansa Kurs auf Grönland. Die Aufregung unter den 31 Männern war groß. Sie lasen die Berichte ihrer zahlreichen Vorgänger, die die Zumutungen der Arktis in grausamsten Farben schilderten. Doch als sie Grönlands Küste dann selbst erblickten, verflogen die Zweifel. „Wir fühlten uns am Eingange einer neuen Welt, deren ganzer Zauber uns entgegenleuchtete“, meinte Koldewey. Aber hier an diesem Eingang zeigte sich der Denkfehler, der die Expedition mit zwei unterschiedlich starken Schiffen losgeschickt hatte.
Die Hansa hatte vorher schon Schwierigkeiten gehabt, mit der größeren Germania mitzuhalten. Nun, als die ersten Eisfelder auftauchten, konnte sich die Germania ihren Weg bahnen, die Hansa jedoch nicht. Koldewey setzte ein Flaggensignal, um mit seinem Kollegen Paul Hegemann zu beratschlagen, wie sie ihre Fahrt fortsetzen sollten. Der Hansa-Kapitän missverstand den Befehl, auf Rufweite heranzukommen, als Aufforderung, sich Richtung Westen zur Küste durchzuschlagen. Die Hansa verschwand im aufziehenden Nebel, „und zwar für immer“.
Die Hansa wurde vom Eis eingefangen
Nach diesem Vorfall machte sich Koldewey zunächst wenig Sorgen. Er und Hegemann hatten für den Fall einer Trennung vereinbart, sich bei der Sabine-Insel wiederzutreffen. Und die lag nicht weit entfernt. Doch als die Hansa dort auch nach einer Woche nicht auftauchte, setzte die Germania ihren Weg alleine fort, gelangte bis zum 75. Breitengrad und überwinterte. Bei ausgedehnten Schlittentouren schaffte es die Mannschaft bis zum 77. Breitengrad, wo sie das Neuland eifrig mit deutschen Namen spickte – König-Wilhelm-Land, Bismarck-Spitze, Koldewey-Inseln, Payer-Spitze, Franz-Joseph-Fjord, Tiroler-Fjord. Im September 1870 lief die Germania wohlbehalten in die Weser ein. Da waren die Männer der Hansa ebenfalls heimgekehrt. Wenn auch nur acht Tage früher und ohne ihr Schiff.
Die Hansa war nach der Trennung ein Jahr zuvor schnell vom dichter werdenden Eis eingefangen worden. Hegemann versuchte zwar, zur Sabine-Insel zu gelangen, musste es aber aufgeben, als die Hansa endgültig festfror. Für seine Leute war das zunächst vergnüglich. Sie übten sich im Erklettern schroffer Eisberge, die sie „Teufelsdaumen“ und „Brandenburger Tor“ tauften. Da nicht klar war, ob das Schiff den Pressungen des Eises standhalten würde, ließ Hegemann auf einer kilometerlangen Scholle eine stattliche Hütte errichten, die der Mannschaft als Unterschlupf dienen konnte. Zum Glück war die Hansa das Versorgungsschiff der Expedition gewesen.
Tatsächlich setzte der Druck ziemlich bald ein, das Eisfeld wurde vom Wind Richtung Festland getrieben, die Schollen schoben sich übereinander, brachen auf. „Es dröhnte und knallte, quetschte und pfiff unter dem Eise“, schrieb Hegemann. „Bald klang es wie das Knarren von Türen, bald wieder wie ein Durcheinander vieler Menschenstimmen, bald endlich wie das Bremsen eines Bahnzuges.“ Es war der 18. Oktober, da wurde die Hansa unter gewaltigem Krach hochgedrückt und schlug leck. Die Männer räumten die letzten wertvollen Gegenstände aus dem Schiff. Nach drei Tagen versank es lautlos.
Hegemann hielt seine Leute mit strengen Tagesabläufen bei Laune
Da hatten sie nun die Art von Abenteuer, wie sie in den Büchern der Bordbibliothek zuhauf beschrieben stand. Sie kämpften ums Überleben. 200 Tage drifteten die zwölf Seeleute und zwei Wissenschaftler auf der Scholle nach Süden. Als Erstes bekam der Schiffsarzt einen Nervenzusammenbruch. Sie konnten nur jagen, sofern Winterstürme es zuließen, und auf das Aufbrechen des Eises warten. Ihre Scholle schrumpfte dabei zusehends. Doch Hegemann hielt seine Leute mit strengen Tagesabläufen bei Laune. Mitte Januar züngelte plötzlich ein Riss mitten durch ihre Behausung, die Männer retteten sich ins Freie, bauten danach ein neues, halb so großes Haus. Im Frühjahr zeigten sich immer öfter Wasserrinnen. 1100 Meilen hatten sie mit dem Eis zurückgelegt.
Hegemanns Plan war, sich mit seinen Leuten in die Beiboote zu begeben, sobald die Puzzlestücke des Eises auseinanderdriften würden. Anfang Juni stießen sie auf schiffbares Wasser, setzten Segel, umrundeten den südlichsten Punkt Grönlands, das Kap Farvel, und entdeckten schließlich zwei rot gestrichene Häuser einer Missionsstation. Dort wurden sie zu ihrer Überraschung von einem Deutschen begrüßt. Die Freude über Kaffee, Zwieback, dick mit Butter bestrichen, über selbst gebrautes Bier wurde getrübt durch die Auskunft des Geistlichen, dass Schiffe hier nicht vorbeikommen würden. Hegemanns Trupp musste in seinen Booten weitere 150 Kilometer nach Julianehåb zurücklegen. Von dort brachte ihn ein dänisches Frachtschiff nach Kopenhagen.
Am Bahnhof von Hamburg, wo die Seeleute schließlich mit dem Zug eintrafen, beachtete man sie kaum. Sie fanden die Stadt „in märchenhaftem Lichterglanze“, wie es heißt. Denn: „Sie feierte soeben den Sieg der deutschen Soldaten bei Sedan.“
Waren die Deutschen nicht gemacht für die Arktis?
So ging dieser deutsche Shackleton-Moment im nationalen Taumel unter. Wen interessierte noch die wundersame Selbstrettung von Hegemann und seinen Männern? Zweimal war man aufgebrochen und hatte nichts erreicht, außer zu lernen, dass Eisbären im Winter ausgesprochen gefräßig sind und die Siedler in Grönland, dieser dänischen Kolonie, „weit unter dem Niveau des Gefälligen“ bleiben, wie Hegemann sich ausdrückte. Waren die Deutschen nicht gemacht für die Arktis?
Sie brachten das Scheitern jedenfalls ohne Drama zu Ende.
Wie beschwerlich der Weg zum Pol sein sollte, stellte sich erst Jahrzehnte später heraus. Tatsächlich hatte ein Teil der Lösung mit einer Meeresströmung zu tun, aber nicht mit der, die Petermann im Blick hatte. So wurden 1884 Wrackteile eines US-Schiffs, der Jeannette, an der Ostküste Grönlands angespült, das drei Jahre zuvor nördlich von Sibirien im Eis gesunken war. Daraus zog der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen den Schluss: Es musste eine Eisdrift geben, die ein Schiff zum Pol transportieren würde, das sich an der richtigen Stelle im Eis einschließen ließ. Er baute die Fram, und diesmal stimmten Theorie und Praxis weitgehend überein.
„Erbittert verfluchten wir Petermann und alle seine Werke, die uns in die Irre geführt hatten“, schrieb Koldewey in seinem Tagebuch.
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