Abenteurer Arved Fuchs: Expedition ins Ich bei Minus 52 Grad
Er hat als Erster in nur einem Jahr Nord- und Südpol zu Fuß erreicht. Arved Fuchs ist Abenteurer von Beruf - und geht dabei an die eigenen Grenzen.
Wenn einer weiß, wie es ist, voll auf die Zwölf zu bekommen, dann er. Erst vergangenen Sommer, auf der Rückreise von Patagonien nach Deutschland, geriet Arved Fuchs mit seinem Haikutter Dagmar Aaen bei den Falkland-Inseln in „schweres Wetter“. So nennt er das.
Schweres Wetter ist in der Sprache der Seeleute dasselbe wie Sturm, ein Wort, das sie selten benutzen. Sei es, dass es zu präzise auf Windgeschwindigkeiten gemünzt ist, ein Sturm auf dem Meer aber aus sehr viel mehr Gefährlichem als bloß Wind besteht; sei es, dass Seeleute unter schwerem Wetter praktisch alles verstehen, was ihnen die Laune verdirbt.
Die Dagmar Aaen geriet also in schweres Wetter. Die Böen erreichten Windstärke 10, erzählt Fuchs, der Vollbart und die Schläfen ergraut. Seit einem Vierteljahrhundert bereist der 62-Jährige jene frostigen Erdregionen, in denen die schärfsten Winde toben und Eiskristalle mit einem ortlosen Rauschen über endlos weite Ebenen treiben. Doch furchteinflößend ist, was der Wind mit dem Meer anrichtet. Große, vornüber kippende Brecher seien über das Schiff gerollt und hätten es unter sich begraben.
„Das ist eine elementare Erfahrung gewesen“, sagt Fuchs. Es sei ja nun kein großes Schiff, lediglich 18 Meter lang, und man selbst auch ziemlich winzig. „Eine brechende Welle, die sich über das Deck ergießt, wäscht einen einfach weg, man kann sich nicht festhalten.“ So viele Tonnen Gewicht und kinetische Energie, wie in einer solchen Walze stecken – „dem hast du nichts entgegenzusetzen. Das ist dann schon ein Überlebenskampf.“ Und eine Frage der Sicherheitsleine.
Für Dramen sind Engländer zuständig
Dass Fuchs Monate später an einem kreisrunden Tisch in seinem Haus in Bad Bramstedt davon so unaufgeregt wie möglich erzählt, zeigt natürlich, „dass es viel schlimmer hätte kommen können“. Aber auch: dass Fuchs das Gemüt eines Mannes besitzt, für den von A nach B zu kommen ein technisches Problem darstellt.
Er macht nicht viel Wind darum. Sicher, eine Geschichte sollte schon dabei herausspringen, aber kein Drama.
Für Dramen sind Engländer wie der Polarforscher Robert Falcon Scott zuständig, die den Heldentod starben, aber eigentlich nur schlecht vorbereitet waren.
Seit Fuchs 1989 als Erster in nur einem Jahr Nord- und Südpol zu Fuß erreichte, führt er das Leben eines Abenteurers. Er erwarb seinen seetüchtigen Kutter und konnte das Haus kaufen, in dem er als Kind aufgewachsen war. In die Ferne bricht er von demselben Zuhause auf. Im Erdgeschoss das Expeditionsbüro. Hier werden die nächsten Polarfahrten vorbereitet und die Vortragsreisen organisiert, mit denen er das Geld für seine Exkursionen verdient.
Die See ist ein gnadenloser Lehrmeister
Das Besprechungszimmer mit dem runden Tisch ist eingerichtet wie ein Museum. Schwemmgut vergangener Unternehmungen ist apart liegen geblieben. Eine Wand wird von einer monströsen Weltkarte bedeckt. Auf ihr sind Fuchs’ Seereisen mit fein gezogenen Strichellinien verzeichnet.
Er ist ein amphibisches Wesen. Ein Seemann, der an Land steigt, um mit Hundeschlitten oder auf Skiern über das Eis zu fahren. Schon im Jahr 1980 wollte er zum Nordpol, allein, war der logistischen Herausforderung jedoch noch nicht gewachsen. Er betrachte sich nicht als Einzelkämpfer, sagt Arved Fuchs. Seine Mannschaften bestehen aus treuen Mitstreitern, die ihn seit Jahren immer wieder begleiten. Mehrfach haben sie auf der Dagmar Aaen im Eis überwintert und gemeinsam lange Stunden in der Finsternis verbracht.
Fuchs sieht sich als romantischer Vertreter des „klassischen Expeditionsreisens“. Die Langsamkeit der Fortbewegung bewirke, dass er sich viel stärker mit der Aufgabe identifiziere, sagt er.
Hinzu kommt, dass er nicht der Typ ist, der überrumpelt werden möchte. Man merkt es an seiner sachlichen Korrektheit, wenn er sagt, dass „man in einem Sturm gedanklich die ganze Zeit beschäftigt“ sei. Nicht, dass Denken die Wogen glätten würde. Aber es ist doch besser, auf ein losgeschlagenes Teil vorbereitet zu sein und eine Anweisung für die Mitsegler an Bord parat zu haben. Er selbst muss nicht mehr hinauf in den Mast, auch wenn er es könnte, wie er betont, das übernehmen heute Jüngere, die darauf brennen. „Die See ist ein gnadenloser Lehrmeister“, meint Fuchs. „Was einen immer wieder ernüchtert, ist ihre Gleichgültigkeit dir selbst gegenüber“, und seine Augen sehen bei diesen Worten ein bisschen kummervoll aus.
„Es war ein Kampf mit mir“
Er gibt zu, Angst gehabt zu haben. „Sie äußert sich in Bruchteilen einer Sekunde“, erklärt er. „Wenn man plötzlich der Heftigkeit einer Welle gewahr wird“ ... aber dann rollt auch die vorbei.
Ein Sturm gebiert den Stoiker. So erzählt es Joseph Conrad in „Taifun“, einer der besten Schilderungen eines infernalischen Sturms. Dass sein Held Kapitän MacWhirr sein Schiff – wenn auch zerschlagen – in den Hafen bringt, schreibt Conrad dem Mangel an Fantasie des bedächtigen Mannes zu. Die eigentliche Kunst ist: den Sturm von den eigenen Nerven fernzuhalten.
Seelisch ist er ungeschoren davongekommen, sagt Fuchs. Zu einer inneren Prüfung wurde der Wind für ihn allerdings an der Seite Reinhold Messners in der Antarktis. Um den Kontinent zu durchqueren, wollten sie die Arbeit den Wind tun lassen. Jedenfalls so oft, wie’s ging. Die Idee war nicht neu. Nansen hatte bei seiner Grönland-Durchquerung 1888 mit Segeln auf seinen Schlitten experimentiert. 100 Jahre später hofften Messner und Fuchs, sich von den gerade in Mode kommenden Gleitschirmen ziehen lassen zu können. Doch zu ihrem Leidwesen ließ es entweder das Gelände nicht zu, weil der Wind zerklüftete, scharfkantige Bodenwellen aufgeworfen hatte, sogenannte Sastrugi, oder der Wind kam von vorne.
Der am Südpol gescheiterte Robert Falcon Scott hatte über das Eisplateau geschrieben: „Stumme, winddurchfegte Unermesslichkeit“. Was das bedeutete, bekam Fuchs jetzt zu spüren. Vor ihm lagen 2800 Kilometer, eine riesige Eiskuppe. Als Seemann, der die Scheibe des Ozeans gewohnt war, habe ihm die Eintönigkeit des Eisschildes nichts ausgemacht. Aber er haderte mit den ungeheuren Dimensionen. „Es war ein Kampf mit mir.“
Es ist der kindliche Impuls, der ihn bis heute antreibt
Wenn er abends im Zelt den Standort in die Karte eintrug, den er als Navigator mit dem Sextanten gemessen hatte, setzte er nur einen weiteren unmaßgeblichen Punkt ins weiße Nichts. Und zwischen diesem und dem davor lagen nur Millimeter. Der Kraftakt und die Schinderei des Tages wurden nicht belohnt. 92 Tage sollte das Duo schließlich für die Durchquerung des Kontinents benötigen. Nie war es so bitter zu ertragen, dass der Weg das Ziel ist.
Erst auf der zweiten Etappe vom Südpol zur Küste bewährte sich das Patent mit den Schirmen. An einem Tag schafften sie 127 Kilometer unter Segeln und kamen am Ende auf durchschnittlich 30,43 Tageskilometer. „Wenn es mir schlecht geht unterwegs, dann bilde ich einen Trotz aus nach dem Motto, du hast gewollt, dass du jetzt hier bist, also sieh zu, dass du da wieder herauskommst.“
Seine Großeltern hatten auf Sylt gelebt. Er war oft bei ihnen gewesen, dort auch zur Schule gegangen. Er sieht sich noch heute am Strand stehen, aufs Meer blickend, das in der Ferne in sich zusammenzufallen schien. Damals habe er sich bereits gefragt, wie es dahinter wohl aussehen würde. Es ist dieser kindliche Impuls, der ihn bis heute antreibt. Er sieht eine unzugängliche Landschaft, er hört die Geschichte eines in dieser Landschaft unglücklich Gescheiterten und fragt sich, was dazu geführt haben mag. Dann bricht er selbst dorthin auf.
Es gibt auf der Welt keinen weißen Fleck mehr
Es ist ein naiver Ansatz. Trotzdem vielleicht der beste, den einer aus dem Umstand ableiten kann, dass es das Einmalige auf der Welt nicht und keinen weißen Fleck mehr gibt. „Aber für mich ist es doch der weiße Fleck“, sagt Fuchs. „Ich hab’s doch noch nicht gemacht.“ Damit sei er Stellvertreter für viele, die es niemals an solche Orte schaffen würden.
Wenn alles schon gesagt ist, kommt es wirklich darauf an, dass es von allen gesagt ist?
Fuchs regte sich vor bald 20 Jahren sehr darüber auf, wie viele selbst ernannte Experten sich ein Urteil über Ernest Shackleton anmaßten, den britischen Polarforscher, der als Erster eine Durchquerung der Antarktis plante – nachdem sein Rivale Scott den Südpol erreicht hatte. Sie hätten Bücher über den Mann geschrieben, aber „keine Ahnung von der Materie gehabt“, sagt Fuchs in der Erinnerung. Denn sie seien nicht einmal in die Nähe der Antarktis gelangt.
Der Klimawandel ist real
Er hingegen fuhr im Jahr 2000 selbst hin, um jene verwegene Reise Shackletons in einem originalgetreuen Nachbau jenes winzigen Rettungsbootes zu wiederholen, das der nach dem Verlust seines Expeditionsschiffes für seine Überfahrt vom antarktischen Weddellmeer nach Südgeorgien benutzt hatte. Es war ein Reenactment. Er geriet in dieselben Stürme des Südpolarmeers, erlebte dieselbe quälende Enge und Kälte auf dem 700-Meilen-Trip.
Nicht, dass die Rätsel, die Shackleton der Nachwelt aufgegeben hat, nicht auch mit den Mitteln von Historikern beantwortet werden konnten. Und Fuchs fragte sich lange, wie legitim es war, eine einmalige Tat, die aus purer Verzweiflung unternommen worden war, nachmachen zu wollen. Hatte der Engländer doch Hilfe für seine auf einer unwirtlichen Landzunge gestrandeten Männer herbeiholen wollen und es also gewagt, sich auf den stürmischsten Ozean der Welt zu begeben.
Doch Fuchs will die Natur, auch die Natur eines Menschen, fühlen und sie sich in einer Art historischen Aufführungspraxis aneignen, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Was ihm an Shackleton auffiel? Fuchs sagt: „der Mangel an Planung, der bisweilen an Fahrlässigkeit grenzte“.
An den Rändern der Zivilisation spürt man die Auswirkungen der Erderwärmung
Es klingt, als würde ihm selbst das natürlich nie passieren. Denn über die Jahre ist Fuchs zum versierten Weltenwanderer und Experten des Klimawandels geworden. Zuerst fielen ihm bei seinen Nordlandtörns subtile Verschiebungen auf, die auch eine Laune der Natur hätten sein können. Er sprach mit Einheimischen, um sie sich erklären zu lassen. Allmählich wurde der systematische Zusammenhang sichtbar.
Ein Schlüsselerlebnis für ihn war 2002 die Durchquerung der Nordostpassage. In den Jahren 1991, 1992 und 1994 hatte er bereits gescheiterte Versuche unternommen, diesen Seeweg nördlich um Sibirien herum zu bewältigen. Jedes Mal war er im Eis stecken geblieben. Er hatte aber wenig Lust, ein viertes Mal zu scheitern. Die Crew redete auf ihn ein. Dann erlebten sie, dass sich das Eis weit zurückgezogen hatte und sie problemlos in einem Rutsch, ohne weitere Überwinterung, hindurchfahren konnten.
An den Rändern der Zivilisation spürt man die Auswirkungen der Erderwärmung am deutlichsten. Auch für Fuchs selbst bleibt dieser Wandel nicht ohne negative Folgen. Für seine Expeditionen bekäme Wetternavigation eine immer größere Bedeutung.
Dabei nimmt die Intensität von Stürmen in letzter Zeit merklich ab. Nach Angaben der US-Wetterbehörde NOAA, die die Stärke und destruktive Energie von Wirbelstürmen erfasst, sind die zurückliegenden fünf Jahre die schwächsten überhaupt gewesen. Wobei unter den zehn aktivsten Hurrikan-Saisons fünf aus den vergangenen zehn Jahren stammen – mit 16 bis 19 Orkanen im Jahr. Deshalb vermuten Klimaforscher, dass die in den erwärmten Meeren gespeicherte Energie zu heftigeren Wetterphänomenen führt.
Der Wind ist sein Freund - und sein tödlicher Gegner
Die Dagmar Aaen lag letztes Jahr lange in Patagonien fest, in einer Bucht und halbwegs geschützt vor bestialischen Winden, die mit 180 Stundenkilometern über sie hinwegfegten. Auf einem Grat in Südgeorgien war der Anprall der Luft einmal so stark, dass Fuchs sich ihm mit Skistöcken und Steigeisen entgegenstemmte, aber einfach hochgehebelt und ins Geröll geworfen wurde.
Aber das sind immer nur seltene Spitzen in der atmosphärischen Balance. Was Wind vor allem macht: „Er frisst Energie“, sagt Fuchs. Er nimmt einem Körperwärme, lässt noch den Zähesten auskühlen, zermürbt ihn. Der Wind, sagt Arved Fuchs, das sei „mein Freund, der mich vorantreibt, und mein Gegner, der mich umbringt“. Mit dieser Ambivalenz leben wir.