Studenten-Proteste von 1964: Der Aufstand von Berkeley
Studenten im Sitzstreik, überforderte Polizisten: 1964 beginnt in Kalifornien eine neue Zeit. Dabei entsteht der Slogan „Trau keinem über 30!“.
Setzen! Setzen? Was für eine Form der Revolution ist das denn, die im Sitzen stattfindet? Eine ziemlich erfolgreiche und mit Abstand die erste ihrer Art. Berlins Studenten wachten erst Jahre später richtig auf.
„Sit down“ rief es aus einer Ecke, „Sit down!“ kam das Echo zurück. Erst waren es ein paar Dutzend Studenten, die sich am 1. Oktober 1964 niederließen, dann einige Hundert, schließlich Tausende. Einen Tag und eine Nacht umzingelten sie das Polizeiauto, in dem ihr Kommilitone saß, auf dem Campus der University of California in Berkeley.
Jack Weinberg hatte getan, was er nicht tun sollte: Er hatte sich auf dem Unigelände politisch engagiert. Das war seit Beginn der erzkonservativen 50er Jahre strengstens verboten. Die sogenannte „Silent Generation“ hielt sich daran. Aber dann begannen die 60er, und im liberalen Kalifornien begannen sie früher als irgendwo sonst. Am Freitag, den 13. Mai 1960, um genau zu sein.
Damals hatte das berüchtigte Hexenjäger-Komitee mit dem unaussprechlichen Namen House Un-American Activities Committee mal wieder zur Inquisition geladen, diesmal ins Rathaus von San Francisco. Zum ersten Mal überhaupt kam es dabei zu massiven Protesten. Studenten verlangten Einlass in den Sitzungssaal, in dem einer ihrer Kommilitonen saß, vergebens; also traten sie in den Sitzstreik. Statt der Türen öffneten die Polizisten Feuerwehrschläuche. Mit der vollen Wucht des Strahls wurden die friedlichen Demonstranten die prächtigen Rathaus-Marmortreppen hinuntergespült, wurden hinuntergeschleift und -geschubst. Als „politische Entjungferung“ hat eine Studentin das Erlebnis beschrieben.
Die neue Generation machte den Mund auf. Viele engagierten sich in der Bürgerrechtsbewegung, deren Einfluss auf die US-Revolution der 60er gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Deren Methoden des zivilen Ungehorsams und gewaltlosen Widerstands, der Sit-ins, erwiesen sich als äußerst nützlich.
Angesichts des Politikverbots auf dem Campus war ihnen der schmale Streifen Meinungsfreiheit direkt vor dem Unigelände heilig: Auf dem Bürgersteig an der Ecke Bancroft/Telegraph Avenue stellten die verschiedenen Gruppen Klapptische mit Flugblättern und Broschüren auf, sammelten Spenden, diskutierten und warben für die jungen Bürgerrechtsorganisationen SNCC (Student Nonviolent Coordinating Committee) und CORE (Congress of Racial Equality). Jack Weinberg hatte sich sogar vom Mathematikstudium beurlauben lassen, um sich mit ganzer Kraft CORE zu widmen. Außerdem protestieren sie gegen den rechten Republikaner Barry Goldwater, einen Befürworter von Atomwaffen, die man seiner Meinung nach längst auf Vietnam hätte werfen sollen. Im November, ein Jahr nach der Ermordung John F. Kennedys, wollte er sich zum Präsidenten der USA wählen lassen.
Und jetzt hatte die Univerwaltung festgestellt, dass die Straße gar nicht städtisches, sondern noch Unigelände war. Also: Schluss mit der Politik!
Das sahen die Studenten gar nicht ein. Völlig weltfremd erschien ihnen die Forderung, noch dazu verfassungswidrig. Also packten sie ihre Klapptische ein und stellten sie mitten auf dem Campus wieder auf. An einem saß an diesem Herbsttag zu Semesterbeginn Jack Weinberg, der schon am Abend zuvor bei einem Sit-in geredet hatte. Als die Polizei den 24-Jährigen als Rädelsführer festnehmen wollte, blieb er einfach sitzen. Sollten sie ihn doch wegtragen.
Die Sitzblockade dauerte 32 Stunden
Weiter als bis zu ihrem Auto kamen die Cops allerdings nicht. 32 Stunden dauerte die Sitzblockade auf dem Sproul-Platz. Weinberg war, wie er dem Tagesspiegel am Telefon erzählt, weder ängstlich noch verschreckt. Als Bürgerrechtler war er Festnahmen gewöhnt, sie hatten damit gerechnet, ja, das Ganze einkalkuliert. Es bedeutete schließlich Aufmerksamkeit für ihre Sache. Er war stolz auf seine Kommilitonen, die in so kurzer Zeit einen Massenprotest organisierten. Sie reichten ihm auch Becher, in die er diskret pinkelte; aufs Essen verzichtete er, um nicht auf die Toilette zu müssen. Er wollte seinen Platz nicht räumen. Und die Polizisten waren freundlich zu ihm. „Das Ganze war ihnen eher unangenehm.“
Begeistert hörte Weinberg seinen Kommilitonen zu, die das Auto als Rednerbühne nutzten, er selber krabbelte auch einmal hoch. Sie sprachen über griechische Philosophie, die Französische Revolution und die Verfassung der Vereinigten Staaten – „und sie sprachen darüber, als ob es wirklich etwas bedeutete“, wie ein Veteran, noch Jahrzehnte später mit Staunen in der Stimme, in dem Film „Berkeley in the Sixties“ erzählt. „Es war,“ sagt Weinberg heute, „ein magischer Moment.“
Der Erste, der aufs Dach sprang – nachdem er seine Schuhe ausgezogen hatte, sie waren schließlich Vertreter des gewaltlosen Widerstands – war Mario Savio. Der Sohn italienischer Einwanderer war für den Posten des Anführers eigentlich denkbar ungeeignet, so heftig, wie er stotterte. Aber in diesem Herbst wurde der Philosophiestudent fast über Nacht zum charismatischen Kopf des Free Speech Movements (FSM), einer großen, basisdemokratischen Koalition, die von jungen Republikanern bis zur Kommunistin Bettina Aptheker reichte. Schon das war ungewöhnlich: dass so viele Frauen an vorderster Front mitmachten.
Savio hielt Reden, so feurig, humorvoll und sprachmächtig, dass er nicht nur Kommilitonen und Dozenten mitriss, sondern sich später auch Literaturprofessoren deren Analyse widmeten. Als „stark und leidenschaftlich“ beschreibt Aptheker ihn, mit dem sie bald im elfköpfigen Lenkungsteam der Bewegung saß.
Savios „moralische Klarheit und demokratischer Führungsstil inspirierte Tausende von Studenten“, steht auf einer Gedenktafel in Berkeleys Unicafé, das seinen Namen trägt: Mario Savio Free Speech Movement Cafe. Wenn die Studenten heute den Blick heben von ihren Laptops und Croissants, sehen sie Fotos von ihm. Sie sollen daran erinnern, dass die Freiheit in Berkeley nicht immer selbstverständlich war.
Als der 21-jährige Wuschelkopf aufs Dach des Polizeiwagens sprang, hatte er sein politisches Erwachen längst hinter sich. Zuletzt hatte er sich in den Semesterferien in Mississippi dafür engagiert, dass mehr Schwarze wählen gehen konnten. Der „Freedom Summer“ 1964 hatte ihn, wie viele weiße Studenten aus dem Norden, endgültig aufgerüttelt und radikalisiert. So hautnah waren sie noch nie mit dem Unrechtssystem Amerikas konfrontiert gewesen. Beflügelt von der Erfahrung, dass man gemeinsam etwas erreichen kann, kehrten er und die anderen Veteranen an ihre Unis zurück. In Berkeley hatte Savio eine führende Rolle bei SNCC inne.
Aus Angst vor blutigen Auseinandersetzungen bei der Sitzblockade am 1. Oktober schickte der kalifornische Gouverneur Pat Brown den Unipräsidenten, Clark Kerr, an den Verhandlungstisch. Am Abend des 2. Oktober hatten Univerwaltung und FSM zwar einen Kompromiss ausgehandelt – gegen Weinberg wurde keine Klage erhoben –, aber das war nur ein Waffenstillstand. Jetzt fing der Kampf erst richtig an.
Zäh und wochenlang zogen sich die Verhandlungen über die Meinungsfreiheit hin. Je störrischer sich die Verwaltung den Forderungen der Studenten widersetzte, desto größer wurde deren Anhängerschar. Dabei konnten die Studenten zwar die Dozenten auf ihre Seite bringen, die Verwaltung aber blieb stur. Im November kam es zum Eklat, als plötzlich doch Disziplinarmaßnahmen gegen die Führer der Bewegung beschlossen wurden.
In der Zwischenzeit hatte sich ziemlich viel Wut angestaut. Am 2. Dezember hielt Mario Savio die meistzitierte seiner vielen Reden auf der Treppe vor Sproul Hall, dem zentralen Verwaltungsgebäude, in der er dem Unipräsidenten sein utilitaristisches, in den Augen des Philosophiestudenten zutiefst undemokratisches Universitätskonzept um die Ohren haute, nach dem Studenten nur zu gefügigen Angestellten, als Futter für Privatwirtschaft und öffentlichen Dienst ausgebildet werden sollten. Sie forderten Bildung, nicht Ausbildung. Außer sich vor Empörung, brüllte er, sie seien Menschen und keine Rädchen im kapitalistischen Getriebe, und rief zum Widerstand auf. Längst ging es ums Ganze: die akademische Freiheit, das freie Denken. Um die Frage, wer an der Uni das Sagen hat, Studenten und Dozenten – oder Geldgeber, Aufsichtsräte und Bürokraten. Gehörte alle Macht den Firmen, welche die Unis unterstützten und deren Absolventen anheuerten?
800 Studenten wurden festgenommen
Während Joan Baez die Rebellen mit der Hymne der Bürgerrechtsbewegung, „We Shall Overcome“, anfeuerte, zogen mehr als 1000 Studenten hinter Savio her ins Gebäude, um es zu besetzen. Sie breiteten sich im ganzen Haus aus, sangen und guckten sich Filme an, gaben sich in Teach-ins den Unterricht, den sie sich wünschten.
Gouverneur Brown (Vater des heutigen Gouverneurs von Kalifornien) schickte die Polizei los, das Gebäude zu räumen, was in der größten Massenverhaftung von Studenten in der amerikanischen Geschichte mündete – insgesamt knapp 800 wurden festgenommen. Keine leichte Aufgabe für die Polizei, machten sich die Vertreter des friedlichen Widerstands doch, wie sie es bei den Sit-ins gelernt hatten, steif und mussten einzeln weggetragen werden, was ziemlich ruppig geschah.
Eine knappe Woche später, am 7. Dezember, rief Unipräsident Clark Kerr eine Vollversammlung im großen Freilufttheater auf dem Campus ein. Reden durften allerdings nur Univertreter. Als auch Savio am Ende das Wort ergreifen wollte, stürzten sich zwei Polizisten, noch bevor er was sagen konnte, auf ihn. Der eine legte ihm die Hand um die Gurgel, der andere Handschellen an, sie rissen ihn von der Bühne. Schlimmer hätte es für den Unipräsidenten nicht kommen können.
Am nächsten Tag beschloss der Akademische Senat mit überwältigender Mehrheit (824 zu 115 Stimmen), die Suspendierung der Wortführer aufzuheben und den Studenten die volle Meinungsfreiheit zu gewähren. Eine Zensur fand nicht mehr statt. Die Studenten jubelten – und sangen Savio ein Ständchen: Es war sein 22. Geburtstag. Dieser Tag, so sein Biograf Robert Cohen, markierte für viele das endgültige Ende der 50er Jahre. Die Gedanken waren wieder frei.
Der Backlash kam ziemlich schnell, die Bewegung hatte vehemente Gegner. Savio, der längst unter FBI-Überwachung stand, wurde als „neuer Hitler“ beschimpft. Gouverneur Brown bekam Tausende von Protestbriefen empörter Kalifornier, die in dem „Rädelsführer“ einen Terroristen sahen. Für Mario Savio, dem viele eine glänzende akademische Karriere vorhergesagt hatten, ging es nach dem Moment des größten Triumphs bergab. Wegen Hausfriedensbruchs musste er für vier Monate ins Gefängnis. Sein Dasein als Superstar („er war so bekannt wie Bob Dylan“, sagt Weinberg) überforderte den eher zurückhaltenden Mann, der 1996, mit knapp 54, starb.
Dafür stieg ein anderer auf, mit dem niemand gerechnet hatte, ein zweitklassiger Schauspieler, der die Wahlen zum Gouverneur von Kalifornien gewann, sein erster Meilenstein auf dem Weg nach ganz oben: Ronald Reagan. Der Republikaner sorgte schnell für die Entlassung von Unipräsident Kerr, der seiner Meinung nach viel zu lasch mit den Studenten umgegangen war.
Aber am Ende konnte auch Reagan die Geschichte nicht aufhalten. Das Free Speech Movement ging nahtlos über in andere Bewegungen. Als Nächstes wurde massiv gegen den Vietnamkrieg demonstriert.
Als er gefragt wurde, ob die Neue Linke sich nicht von der Alten Linke steuern ließe, antwortete Jack Weinberg nur: „Wir trauen niemandem über 30.“ Ein Satz, der zum Leitspruch einer ganzen Generation wurde. Die Neue Linke war nicht so ideologisch wie die Alte, schon gar nicht so hierarchisch und dogmatisch, ihr Ziel: „partizipatorische Demokratie“. Sie war auch keine Partei, sondern eine Vielzahl von Bewegungen – etwa der feministischen. Denn Revolution bedeutete für die neuen Kämpfer ein weites Feld, Sexualität und Drogen gehörten ebenso dazu wie das Essen – auch das, was die Amerikaner die „Food Revolution“ nennen, nahm in Berkeley seinen Anfang, in Alice Waters’ Restaurant „Chez Panisse“. Auch die Hippies trafen sich ganz in der Nähe, in San Francisco, auf der anderen Seite der Bucht.
Die kurzen Monate des des Free Speech Movements haben das Leben der Teilnehmer für immer geprägt. Jack Weinberg arbeitete lange als Arbeiter in der Stahlfabrik und als Gewerkschaftsaktivist, bevor er Umweltschützer wurde, zehn Jahre bei Greenpeace; bis heute reist der 74-Jährige dafür um die Welt. Bettina Aptheker engagierte sich gegen den Vietnamkrieg und intensiv für die Freilassung ihrer Freundin Angela Davis, wurde Feministin und Historikerin. Als Professorin an der University of Santa Cruz gibt die 70-Jährige Studenten die eigenen Erlebnisse weiter. Und überlässt es ihnen, was sie daraus machen.
In diesen Tagen sind die Veteranen wieder in Berkeley, wo die Uni stolz an das Free Speech Movement erinnert. Am 1. Oktober trifft man sich zur Gedenkdemo auf den Stufen vor Sproul Hall, die heute den Namen Mario Savio Steps tragen.
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