Glindower Alpen in Brandenburg: Das sind die neuen Attraktionen der Beelitzer Heilstätten
Barfußpark, Baumwipfelweg und Ruinenromantik: Die verfallenen Heilstätten sind auch heute noch heilsam. Die Spuren ihrer Geschichte bleiben erhalten.
Die Bäume und Büsche gedeihen prächtig an ihrem Luftkurort. Sprießen aus den Fenstern, schlagen Wurzeln im Dachgeschoss, wickeln sich ums Mauerwerk. Nicht nur zu dessen Schaden, schützen sie doch die demolierten Bauten vor dem endgültigen Ruin: Das Grün saugt gierig alle Nässe auf. Man sieht’s, wenn man über den Baumkronenpfad wandelt, auf Augenhöhe mit den obersten Geschossen des „Alpenhauses“.
Die Fahrt in die Alpen dauert eine halbe Stunde mit dem Zug, ab Bahnhof Zoo. Fehlt nur die Blaskapelle, die die Berliner früher am Halt Beelitz-Heilstätten abholte, wenn sie ihre Lieben in der Kur besuchten, wo die ausgehobene Erde zu Hügeln aufgetürmt, zu Alpen ernannt und bepflanzt wurde. So wie das ganze weitläufige, im Wald gelegene Gelände, das eher einer englischen Gartenstadt glich als einer medizinischen Einrichtung, der größten Lungenheilanstalt im preußischen Land. Den Tuberkulosekranken erschien es wie ein Paradies.
Daheim lebten die Arbeiter zusammengequetscht in winzigen, feuchten Wohnungen im dritten Kreuzberger Hinterhof, unter grauenhaften hygienischen Bedingungen, litten Hunger und spuckten eifrig jene Bakterien aus, mit denen einer den anderen ansteckte. Oft mit tödlichem Ausgang. Denn ein Heilmittel gab es um 1900 noch nicht.
Alles zur Wiederherstellung der Arbeitskraft
Der Bergführer im Trachtenlook, den es in Beelitz einst gab, fehlt heute zwar genauso wie die Blaskapelle, aber sein Nachfolger macht seine Sache außerordentlich gut. Roland Fuhs, rheinische Frohnatur, bringt den Besuchern von heute die Geschichte der Heilstätten in atemlosen Tempo auf Kölsch nahe. Dabei macht er das, was davon noch übrig blieb, so lebendig, dass man das Gefühl hat, selber zwischen den Kranken in der Sonne zu liegen – die Luftliegekur stand im Mittelpunkt der Behandlung.
Untergebracht waren die Patienten, der neuen Landesversicherungsanstalt sei Dank, in herrschaftlichen Häusern, mit riesigen Räumen (Luft!), nach Süden ausgerichtet (Sonne!). Alles zur Wiederherstellung der Arbeitskraft. Sie hatten, wovon sie daheim nur träumten, ein eigenes Bett und Badewannen, die Ausstattung war state of the art: dreifach gebrannte Kacheln von Villeroy und Boch, die garantiert keine Risse bekamen, Heizkörper zum Abklappen, moderne Lüftungsanlagen, ein eigenes Heizkraftwerk, das heute ein technisches Denkmal ist.
Eigentlich glaubt man als Berliner die Beelitzer Heilstätten längst zu kennen, tausendmal hat man sie gesehen, in sozialen Netzwerken, Modezeitschriften, Filmen. Als Kulisse ist die ruinenromantische Anlage bei Profis ebenso begehrt wie bei Fotosafari-Amateuren, viele brüsteten sich damit, über Absperrungen geklettert, in Gebäude gestiegen zu sein. Ein Abenteuerspielplatz für Großstädter.
Die Heilstätten haben eine rumpelige Geschichte hinter sich
Jetzt ist ein Teil des Geländes eingezäunt, man muss Eintritt zahlen, um in den Park „Baum und Zeit“ zu kommen, der im früheren Bereich der Lungenheilstätten für Frauen liegt, im Quadranten A. Straße und Bahnlinie trennten das Areal in Viertel auf, Männer von Frauen und Lungen- von Knochentuberkulosekranken separiert. Die Heilstätten haben eine rumpelige Geschichte hinter sich, dienten zwischendurch als Lazarett, nach dem Krieg, bis 1994, übernahm die sowjetische Armee das Krankenhaus. Honecker fand hier mit seiner Frau nach der Wende Zuflucht.
Immobilienentwickler Ernst übernahm die Heilstätten, endete in der Insolvenz, viele Jahre lang standen die meisten historischen Gebäude vogelfrei herum (in einige zogen Kliniken und ein Hotel ein), Schrottsammler rissen Kupfer und andere Kostbarkeiten raus, andere machten Vandale und Randale. Dass die gesamten Heilstätten seit 1996 unter Denkmalschutz stehen, machte die Wiederbelebung nicht einfacher.
Jetzt entwickelt Familie Hoffmann aus dem Rheinland den Quadranten A mit einem Partner zum „Freuzeitland“, wie sie es nennen. Anstelle von Bergen steigt man in den Beelitzer Alpen nun Stufen hoch, zum 23 Meter hohen Baumkronenpfad auf Stelzen. 2015 eröffnet, ist er noch recht kurz und führt auch nicht die ganze Zeit durch Baumwipfel, manchmal geht’s einfach durch die Luft. Er soll noch ausgebaut werden. „Baum und Zeit“ ist ein Park im Werden, das Angebot verbreitet sich, nicht ganz so schnell wie Bakterien. Aber das Gras wächst ja auch nicht schneller, wenn man daran zupft. Und das ist das Konzept: Das Grün soll erhalten werden, so wie es sich in die verlassenen Gebäude gesetzt hat, die zum großen Teil lediglich gesichert werden. Eine romantische Ruinenlandschaft mit Kinderspielplatz.
Barfußpark: Kneipp lässt grüßen!
Neueste Attraktion ist ein Barfußpark auf dem Nachbargelände, mitten im Wald, vor zwei Wochen erst wurde Eröffnung gefeiert. Betrieben wird er von Familie Müller-Braun, zusammen mit einem erfahrenen Barfußparkbesitzer. Ein Wohlfühlgelände des 21. Jahrhunderts, durchaus mit Heilgedanken: Sohlenkitzel gegen den Stress, Entschleunigung heißt das Motto. Denn nur wenn man sich vorsichtig über spitze Steine und Glasscheiben tastet, wie eine Ballerina balanciert, tut’s nicht weh. Der Mulch zwischendurch wirkt wie Watte, die Zehen aalen sich in Sand und Schlamm. Dann der Schock des eiskalten Wassers: Kneipp lässt grüßen, dessen Methoden einst auch in den Heilstätten nebenan angewendet wurden.
Aus drei großen Rundgängen kann man wählen, jeder ein bis anderthalb Stunden lang, Ehrgeizige machen gleich alle drei Parcours. Zur Stärkung gibt’s hinterher Cheesecake, von einem Mutter-Tochter-Team in Wannsee gebacken, oder Bio-Pulled Pork. Der schön gestaltete Barfußpark hebt auch die kulinarische Versorgung der Heilstätten-Ausflügler auf ein neues Niveau.
Der letzte Stopp auf der zeitgeschichtlichen Tour mit dem Kölschen Bergführer führt ins Innere der Chirurgie, eines Gebäudes aus den 20er Jahren. Gruselig? Von wegen. Auch hier: lichte Räume, modernste Technik. Wer noch das Alpenhaus oder die Küche von innen sehen will, schließt sich einer Alltagsführung an.
Das Essen spielte eine zentrale Rolle im Heilprozess
Ach ja, der Spargel. Fast vergessen. Beim Verlassen des Parks kommt man an einem Stand vorbei, der die letzten Beelitzer Stangen verkauft. Im großen Wald kann man Blaubeeren pflücken. Oder man überquert die Straße, hinter der, im einstigen Männerteil, in einem renovierten Gebäude eine Rehaklinik liegt. Das eigene Café ist zwar mit Krankenhausmöbeln von heute eingerichtet, und wegen des Kuchens würde man auch keine Postkarte nach Hause schicken, doch der riesige schmucke Speisesaal ist unbedingt einen Besuch wert.
Das Essen spielte eine zentrale Rolle im Heilprozess, auf seiner ebenso lustigen wie berührenden Tour hat Bergführer Fuhs erzählt, wie die Kranken gemästet wurden, mit Fleisch, Bier und Butterbroten, erstem Frühstück, zweitem Frühstück, literweise Milch. Wie die Schwestern auf Galerien standen, um aufzupassen, dass niemand sich was von den Leckereien in die Tasche steckte, um damit die ausgehungerte Familie zu füttern, wenn sie zu Besuch nach Beelitz kam. Und wie es gewesen sein muss, nach all den Wochen im Paradies zurückzukehren in den dritten Kreuzberger Hinterhof, ohne Luft, ohne Licht, ohne Ruhe, Hygiene und Butterbrot.
Tipps für die Heilstätten
HINKOMMEN
Mit dem Regionalexpress Richtung Dessau bis Bhf. Beelitz-Heilstätten.
BAUM UND ZEIT
Straße nach Fichtenwalde 13, 14547 Beelitz, Tel. 033204/634723, baumundzeit.de. Dort Infos zu Führungen. Bis Oktober tägl. 10–19 Uhr, am 23./24. Juni auch 20–2 Uhr. Erwachsene 9,50 Euro, 7–17-Jährige 7,50 Euro. Nov/Dez: Sa/So 10–16 Uhr.
BARFUSSPARK
Tel. 0162/290 9999, derbarfusspark.de, Juni–Oktober tägl. 10–18 Uhr, am Wochenende bis 19 Uhr, Erwachsene 7 Euro, Kinder ab vier Jahren 5 Euro. Kombitickets mit B&Z.