Herbe Geschmacksrichtungen: Das ist bitter
Chicorée schmeckte einst herb und streng, das wurde unbeliebt und weggezüchtet. Doch eine Küche ohne Bitterkeit unterfordert unseren Gaumen – und ist weniger gesund. Ein Report.
Für Freunde knalliger Schlagzeilen war das richtig guter Stoff. „Sein Gesicht verfärbte sich gelb“, „Tod durch Zucchini“ und: „Das Gemüse hat ihm den Darm zerfetzt.“ In einem schwäbischen Dorf bei Heidenheim hatte sich ein Rentner diesen Spätsommer mit selbst gezogenen Zucchini vergiftet. Nach Aussagen der Ehefrau, die das Eintopfgericht überlebte, soll das Gemüse besonders bitter geschmeckt haben.
Das Chemie- und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart gemahnte die Verbraucher sogleich zu verstärkter Wachsamkeit. Wenn etwa Zucchini und Kürbisse, die in der Regel nur schwach oder gar nicht bitter schmecken, sich plötzlich besonders grimmig verkosteten, könnten sie giftiges Cucurbitacin enthalten. Allerdings wurde auch eingeräumt, dass der tragische Zucchini-Zwischenfall seit Bestehen des Amts die erste tödliche Vergiftung dieser Art war.
Trotzdem bestärkte der toxische Eintopf die Igitt-Haltung vieler Verbraucher gegenüber Bitterstoffen. Ob Radicchio oder Chicorée, Artischocke oder Brokkoli, Grapefruit oder Kumquats – viele Esser verziehen, wenn sie nur daran denken, das Gesicht zur Leichenbittermiene.
Dabei schmecken die als Bitterlinge gescholtenen Gemüse- oder Salatsorten heute gar nicht mehr so streng. Manche, wie etwa der Spargel, zeigen bereits kindisch-süßliche Aromen, vor allem zu Beginn der Saison, wenn die bleichen Stangen im Gewächshaus gezogen werden.
Stress macht bitter
Der Geschmack hängt beim Spargel direkt mit der Anbaumethode und dem Wetter zusammen. Peter Paschold, über Jahrzehnte Fachgebietsleiter Gemüsebau beim Institut für Gartenbau in Geisenheim, sieht vor allem Stress als Auslöser für Bitternoten.
Starke Temperaturwechsel mit kalten und warmen sowie trockenen und nassen Tagen seien häufig die Ursache für intensive Strenge. Folienanbau und Gewächshäuser mildern solche Temperaturwechsel. Auch Gurken werden deutlich bitterer, wenn sie unter Wetterkapriolen wie etwa Trockenheit leiden.
Eine andere Ursache ist die „Ortsfestigkeit“ von Pflanzen. Sie können nicht weglaufen, wenn sich das Maul eines Tieres nähert. Deshalb produzieren manche Wirkstoffe, die den Räuber warnen, vertreiben, lähmen oder töten. Viele dieser Abwehrsubstanzen schmecken bitter.
Eine Ausstellung will den Ruf retten
Die Besucher des „Bitterlabors“, einer Ausstellung des Berliner Künstlers Markus Binner in der Koch-Kunst-Galerie Zagreus in Mitte (bis zum 30. September, am 24. und 26. 9. werden Menüs mit Bitternoten serviert), lassen sich auch von strammen Bitternoten nicht vertreiben und mümmeln tapfer ihren zur Vernissage gereichten Salat mit reichlich Bittergurke, Rucola, Radicchio, Chicorée und wildem Brokkoli. „Das Bittere schützt uns vor dem Irrglauben, alles in der Welt sei in Ordnung“, sagt die Kunstpädagogin Eva Sturm bei der Ausstellungseröffnung.
Der Künstler Markus Binner bleibt bei seiner auf Plakate geschriebenen Materialsammlung dagegen ganz bodenständig bei Messer, Gabel und Gaumen. Wir Menschen hätten „die Geschmacksrichtung bitter aus unseren alltäglichen Essgewohnheiten weitestgehend verbannt“, steht da geschrieben.
Dabei würden Bitterstoffe doch Cholesterinwerte senken und die Verdauung unterstützen. Testesser würden spürbar abnehmen, wenn ihre Kost mit bitteren Wildkräutern angereichert werde. Dennoch: Das Bittere wird ausgerottet, selbst klassisches Bittergemüse wie etwa Gurken, grüne Paprika oder Chicorée enthielten laut Binner nur noch wenige Bitterstoffe.
Züchter sortieren Aromen aus
Der Demeter-Pflanzenzüchter Dietrich Bauer, der in Bad Vilbel Saatgut herstellt, kann das nur bestätigen: „Chicorée schmeckt heute nach nichts mehr!“ Bei den Geschmacksselektionen der Züchter würden bitter schmeckende Aufzuchten systematisch aussortiert und nicht mehr weiter vermehrt. Doch damit, sagt Bauer, gingen viele wertvolle Aromen verloren.
Wird unser Speiseplan also endgültig von kitschiger Süße dominiert? Nein, Plakatkünstler Binner hat eine Gegenbewegung entdeckt, ein Einverleiben von Bitterem vor allem in flüssiger Form: Kräuter-Smoothies seien der neue Hit, dazu die Absinth-Welle, die Aperol-Spritz-Epidemie, Mate, Gin-Tonic, reichlich Bier und: „Bitte noch einen Espresso!“ Alles ganz schön bitter. Wobei der bissige Geschmack allerdings meist durch Beigaben gepuffert wird: der Zucker im Espresso und Kräuterlikör, das Malz im Bier. Beim bitteren Salat hilft die Vinaigrette.
Genug Rezeptoren für herben Geschmack
Auch die berühmte Bitter- oder besser Zartbitterschokolade wird durch Fett- und Zuckeranteile, Vanille und andere Aromen milder gemacht.
Der Gaumen des Menschen ist übrigens ungewöhnlich gut mit Rezeptoren für den herben Geschmack ausgerüstet. Die Potsdamer Ernährungsforscherin Sophie Thalmann erinnert daran, dass die menschliche Zunge nur einen einzigen Rezeptortyp für die Süßwahrnehmung hat, aber gleich 25 fürs Bittere.
Und unter den 25 gibt es noch 150 verschiedene Subtypen, also genetische Variationen. Die Ausstattung variiert von Mensch zu Mensch, von Ethnie zu Ethnie – genau wie die Wahrnehmung höchst unterschiedlich ist.
Bei einzelnen Bitterstoffen wie etwa PTC (Phenylthiocarbamide) ist das minutiös erforscht worden. Jede vierte Testperson hat bei PTC keinen Bittereindruck, während die große Mehrheit sich angewidert schüttelt.
Alles eine Frage der Genetik
Bei anderen Bitterstoffen in der Nahrung gibt es die Dreiteilung in Sensitive, Über-Sensitive und Null-Responder, die nicht einmal einen Hauch von Bitterkeit wahrnehmen. Ob Chicorée-Hasser, -Liebhaber oder -Tolerierer, das ist auch eine Frage der Genetik.
Bitterrezeptoren gibt es dabei nicht nur im Mund, sondern auch im Magen- Darmtrakt, in Lunge, Bronchialsystem und – sogar in den Hoden. Ständig werden neue entdeckt, ohne dass die Wissenschaft ihre Funktionen genau definieren könnte. Die Rezeptoren im Atmungssystem, soviel weiß man immerhin, sorgen dafür, dass Versuchstiere automatisch flacher Luft holen, sobald sie toxischen Dämpfen ausgesetzt sind.
Starköche gehen das bittere Problem an
Der französische Starkoch Alain Ducasse sagte einmal, eine gute und bekömmliche Küche werde am Herben und Bitteren gemessen. Womöglich hätte er seine Freude an der anhaltenden RucolaMode. Die Rauke, wie sie auf Deutsch heißt, wird nicht nur allerorten wie Hagelzucker über die fertige Pizza gestreut. Sie ist in manchen vegetarischen Restaurants geradezu zum Grundnahrungsmittel aufgestiegen.
Hausapotheke auf der Wiese
Auch Wildkräuter haben trotz feiner bis explosiver Bitternoten ein positives Image, sie gelten als gesunde und besonders natürliche Kost. Wenn dann noch Naturschützer zur Wildkräuterwanderung rufen, von wichtigen Vitalstoffen und der Hausapotheke auf der Wiese schwärmen, ist die Bitterkeit am Gaumen kein Hindernis. Dann kommen Löwenzahn-Salat und Bibernelle-Würze zu Ehren, auch Gänseblümchen werden gern vernascht.
Wie viele Bitterstoffe muten eigentlich Berliner Sterneköche ihren Gästen zu? Fragen an Sebastian Frank vom Horvath: „Bitter ist schwierig, unser Urinstinkt sagt uns erst einmal, Vorsicht, das ist ungenießbar.“ Frank will das bittere Geschmacksuniversum aber keinesfalls aus seiner Küche verdammen. Er dämpft es ein wenig, legt Bittersalate, um sie milder zu machen, ins Eiswasser, das er nach einiger Zeit komplett erneuert und er mischt Bitteres mit Süßem. Aber auch Frank sagt: „Bitter muss man lernen!“