Deutscher Kolonialismus: Es war einmal in Afrika
Frieda von Bülow gilt als Erfinderin des Kolonialromans. Deutsch-Ostafrika ist für sie 1893 die Chance ihres Lebens: Hier kann sie unverheiratet bleiben und von vorn anfangen.
In der deutschen Kolonie Ostafrika dauerte der Erste Weltkrieg zwei Tage länger. Und selbst am 13. November 1918 war Generalmajor Lettow-Vorbeck nicht geneigt, der Nachricht zu glauben, die er da eben unter den Papieren eines gefangengenommenen britischen Motorradfahrers fand. Der Krieg sei zu Ende? Generalmajor Lettow-Vorbeck wusste genau, was das war: eine Finte! Eine typisch britische Finte.
Genau ein Jahr zuvor war das Deutsche Reich auf die Idee verfallen, seine von jedem Nachschub abgeschnittene Kolonie mittels eines Zeppelins zu versorgen. 6757 Kilometer lagen vor der L59, als sie am 21. November 1917 in Bulgarien losflog. Sie war ein ingeniöses Luftschiff, hatte 50 000 Kilogramm Fracht an Bord, der Zeppelin selber war vollständig recyclebar. Die Umhüllung sollte zu Verbandsmaterial und Uniformstoff werden, der Drahtkörper zu Zelten und Funktürmen. Die Laufstege im Schiff waren aus Leder, zum späteren Besohlen der Stiefel.
Die L59 hatte schon das Mittelmeer und Ägypten hinter sich, als sie auf der Höhe von Karthum, nach mehr als der Hälfte der Strecke, einen Funkspruch aus Nauen bei Berlin erhielt: „Letzter Stützpunkt Lettow-Vorbecks, Revala, verlorengegangen … Sofort umkehren.“
Die L 59 kehrte um und landete nach 95 Stunden wieder wohlbehalten im bulgarischen Königreich. Das war ein neuer Rekord der Luftschifffahrt. Leider erwies sich der Funkspruch aus Nauen als Falschmeldung der Briten.
Nein, das Vereinte Königreich hatte den Deutschen nie verziehen, dass sie sich ein Stück Afrika angeeignet hatten, das eigentlich ihm gehörte. Zwar hatte London sich nie die Mühe gemacht, das extra zu erklären oder gar schriftlich darzulegen, aber auch das Besitzen ist eine Gewohnheit der Seele.
Mai 1893. Fünf Tage schon treibt ein kleiner deutscher Dampfer willenlos auf dem monsungepeitschten Ozean, irgendwo hinter dem Cap Guardafui vor der Küste Afrikas. Ein Zylinder ist gesprungen. Die Passagiere schauen abwechselnd auf die bleichen, machtlosen Bordtechniker und über die Reling. Haie umkreisen das Schiff. Seit jemand vorgeschlagen hat, sie zu angeln, herrscht eine leicht hysterische Ausgelassenheit an Bord.
Es ist ein rohes Schauspiel. Die alleinreisende Baroness Frieda von Bülow entdeckt an sich eine unvermutete „gewisse Empfänglichkeit“ dafür, die sie ihrer „zivilisierten Frauenseele“ gar nicht zugetraut hätte. Und sie formuliert, da hat noch kein Mensch von Sigmund Freud gehört, die quasifreudsche Einsicht, wie dünn doch die Schicht dessen sei, was sie und ihre Miteuropäer Zivilisation zu nennen sich angewöhnt haben und für einen Exportschlager erster Klasse halten.
Frieda von Bülow, mütterlicherseits in weitestem Sinne vom Lügenbaron Münchhausen abstammend, väterlicherseits von jener Familie, nach der man in Berlin bald U-Bahnhöfe und Plätze benennen wird, hat unlängst das Genre des deutschen Kolonialromans erfunden. Sechs Jahre zuvor, als sie zum ersten Mal nach Afrika fuhr, hielt sich ein britischer Offizier den Bauch vor Lachen, als sie ihm die Flagge von Deutsch-Ostafrika beschrieb: Dass diese germanischen, etwas zur Tölpelhaftigkeit neigenden Kleinstaatler jetzt schon eigene Kolonien gründen wollen, schien ihm zu spaßig. Dichter und Denker bringen sie in Massen hervor, auch Musiker, aber doch keine Menschen der Tat. Nicht zuletzt der Ärger darüber hatte Frieda von Bülow zur Schriftstellerin gemacht. Den Deutschen fehle „das Tastgefühl der Seele“, um fremde, ursprünglichere Völker und Sitten zu verstehen? Sie glaubt das nicht.
Sind die Europäer Selbstverfolger?
Augen wie Pfützen, Haare wie Bindfäden und eine Hautfarbe wie gekippte Milch. Wenn diese Muzungu, die Europäer, nur nicht so hässlich wären! Und dazu ihre ständige Eile. Als liefen sie den ganzen Tag lang vor sich selber weg. Glücklich sind die nicht. Es muss sich, anders können die Afrikaner sich das nicht erklären, um Selbstverfolger handeln. Aber dürfen diese Flüchtlinge darum die Heimat fremder Leute zu ihrer Heimat machen wollen?
„Kolonialismus“ kommt von colere, Land bebauen, viel mehr heißt es erst einmal nicht, aber sollte dazu nicht jeder sein eigenes Land nehmen? An dieser Stelle würde der Gründer Deutsch-Ostafrikas, der entlaufene Privatdozent der Philosophie Carl Peters, ausgewiesener Rassist und Antisemit, Autor von „Willenswelt und Weltwille“, einer grundstürzenden Verbesserung der Philosophie Arthur Schopenhauers, vermutlich ein ganzes Vertragswerk in die Höhe halten.
Er war vor bald zehn Jahren gemeinsam mit seinem besten Schulfreund und einem etwas derangierten Grafen gen Afrika aufgebrochen, um dem jungen Deutschen Reich eine Kolonie zu erwerben, sehr zum Zorn Bismarcks. Der Kanzler hielt deutsche Kolonien für Humbug. Sie seien wie der Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden besäßen. Auch hocke der Deutsche am liebsten am Ofen, und zwar „mit dem Rücken zum Meer“.
Der Aufbruch des Annexionstrios galt Beobachtern als rein suizidale Unternehmung, und in der Tat verdankte es seine Rückkehr, obgleich halbtot vom Malariafieber, nur den treuen afrikanischen Führern. Peters’ Dolmetscher Ramassan hat im Dezember 1884 die historische Chance vertan, seine prämortalen Pflegefälle lautlos in der großen, allesverzeihenden Erde Afrikas zu entsorgen. Wir kennen nur seinen Namen. Ohne Ramassan hätte es Deutsch-Ostafrika nie gegeben.
140 000 Quadratkilometer. Kaiser Wilhelm und Bismarck mussten das Land, auf dem sehr viel später einmal die Staaten Tansania, Ruanda und Burundi entstehen sollten, schließlich doch annehmen, schon aus Selbstachtung, denn sonst hätte Carl Peters es dem belgischen König verkauft, einem Sekundärmonarchen mit Kleinstkönigreich.
Frieda von Bülow sah die Dinge anders als Bismarck. Für sie wurde Deutsch-Ostafrika zur Chance ihres Lebens. Sie hat eine Chance genutzt, die neu war, die die Generationen vor ihr nicht kannten, alleinstehende Frauen schon gar nicht: Noch einmal ganz von vorn anfangen dürfen! Sich auf einem anderen Erdteil einfach neu erfinden. Sie war eine Frau, bald 30, sie musste heiraten. Aber sie kannte niemanden, der vorhätte, sie zu heiraten, und, fast schlimmer noch: Sie kannte auch niemanden, den sie heiraten wollte. Und dann plötzlich stand der ganze Horizont offen: Afrika! Auswandern statt heiraten!
Damals, 1887, wollte sie die Krankenpflege in der jungen Kolonie aufbauen, sie wollte das erste Krankenhaus Deutsch-Ostafrikas eröffnen. Es war vielleicht die schönste Zeit ihres Lebens. Leider kam es zu Unstimmigkeiten, sie musste zurück nach Berlin.
Dies hier war der zweite Versuch. Doch kein Laut der Schiffsmaschine seit vier Tagen. Der Sturm wirft den kleinen Dampfer hin und her. Eigentlich erstaunt sie das nicht. Es ist doch mehr eine Verzweiflungstat, was die erste Afrika-Korrespondentin und Erfinderin des deutschen Kolonialromans da vorhat. Innerhalb eines Jahres hat sie beide Brüder auf diesem Erdteil verloren. Obwohl Kuno von Bülow aus Deutsch-Südwestafrika extra nach Hause gekommen ist, um sich zu erschießen. Wegen einer Frau! Albrecht von Bülow aber starb am Kilimandscharo.
Deutsche Missionare hatten den Berg zuerst entdeckt, und ein Leipziger Buchhändler, Hans Meyer, stand als erster Mensch ganz oben. Darum heißt der Kilimandscharo jetzt Kaiser-Wilhelm-Spitze. Unser höchster Berg ist 6010 Meter hoch!, glauben seitdem die etwas dümmeren Deutschen.
Tanga liegt sieben Tagesmärsche vom Berg entfernt an der Küste. Frieda von Bülow wollte die Farm und den Kalkbruch ihres toten Bruders in Tanga übernehmen, allein, ohne Begleitung eines Mannes. Doch jetzt sieht es eher so aus, als fände sie ein frühes nasses Grab. Sie ist einverstanden, denn sie ist ungewöhnlich begabt für die Schwermut, die Depression ist die treue Begleiterin ihres Lebens. Nur in Afrika hat sie sie noch nie gespürt.
Gemeinhin, und Frieda von Bülow macht da keine Ausnahme, betrachten die Europäer die Afrikaner als Kinder. Denn all die Sphären, die in Europa in ihrem Jahrhundert endgültig auseinandergetreten sind – Recht, Ökonomie, Wissenschaft, Kunst, Moral – sind in Afrika noch kaum geschieden. Darum nannte Hegel diesen Erdteil das „Kinderland der Geschichte“, denn es kenne keine Entwicklung, es bleibe „jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht getaucht“. Keine Entwicklung?
Das nächste Jahrhundert wird von „Entwicklungshilfe“ sprechen und sich dabei für selbstlos halten. Es mag naiv sein, aber so begreift Frieda auch den Kolonialismus, wenn er denn gelänge. Manchmal jedoch ahnt sie, dass die Schuld der Europäer tiefer liegt: Welches Recht hatten wir, diesen Erdteil in seinem selbstgenügsamen Dasein zu stören? In einer Daseinsform, die das Band zur Natur noch nicht ganz zerschnitten hat?
Mit tausend Seelenfäden sind die Afrikaner noch an sie gebunden. Das Kind ist der vollere, der wachere Mensch. Sind die Europäer nicht ruinierte Kinder, Hinterbliebene ihrer eigenen Möglichkeiten, aus der eigenen Mitte gefallen? Und wenn es nur die Art ist zu gehen, dieser lautlose Schritt: Frieda von Bülow könnte den Schwarzen ewig beim Laufen zusehen.
Ihre Ankunft in Tanga
Und dann, am fünften Tag, geschieht es doch: Alle hören das schon fast entwöhnte und doch so vertraute Stampfen und Fauchen der Schiffsmaschine wieder.
Es geht weiter. Nicht länger als Treibgut, als Floß des Lebens, wie es traditionale Kulturen sind, sondern nach der Fortbewegungsart der Weltgegenden, die sich mit allem Zivilisationshochmut als Bürger begreifen, als Kinder des Industriezeitalters, der Aufklärung und des Fortschritts. Auf eigenem Kurs!
Sie haben da eine völlig neue Dimension entdeckt, die kein Naturvolk kennt: die Zukunft. Und die, sagen sie, gehört uns! Man könnte diese Überzeugung auch die mentale Voraussetzung des Imperialismus nennen.
Und dann fällt sie mitten hinein in das Grün von Tanga. Seine Häuser „liegen zwischen einem Wald von Kokospalmen, so etwa wie die Villenkolonie Grunewald zwischen Kiefern. Wo man hinschaut: Palmen! Palmen! Palmen! Bewegt der Wind die Wipfel, so ist es ein Geräusch wie stark fallender Sommerregen“, wird die Afrikakorrespondentin bald ihren Lesern erklären. Wie hatte sie diesen Laut vermisst, mehr als sechs Jahre lang. „Sehen Sie dort, gnädiges Fräulein?“, ruft der Kapitän, als sie in die Bucht einlaufen, „das ist Ihre Insel. Die Insel Jambe.“
Eine eigene Insel. Albrecht, ihr Bruder, hatte sie einem alten Araber abgekauft, von ihrem gemeinsamen Vermögen. Und dann steht sie, eine Wiedergeborene des Meeres, in Tanga vor dem Empfangschef des Hotels Schlunke, die erste Nacht auf nicht schwankendem Boden zum Greifen nahe. Doch der Direktor bedauert. Sein Hotel sei nicht vorbereitet auf Damen. Wahrscheinlich verbirgt sein Blick notdürftig die entscheidende Konkretisierung: auf allein reisende Damen.
Es gibt nichts Unseriöseres als eine allein reisende Frau, sie weiß es. Hoch über der Bucht sieht sie ein Eisenhaus in der Sonne blinken, in allen Einzelteilen aus Deutschland herübergebracht, es gehört dem Baron von Saint-Paul-Illaire. Saint Paul ist der Bezirksamtmann von Tanga, auch ein Schulfreund von Carl Peters, aber sonst ein Anti-Peters. Ihm ist gelungen, wovon die Romantiker träumten: Er hat die blaue Blume gefunden. In den Bergen hinter Tanga entdeckte er das Veilchen, das nun seinen Namen trägt: die Saintpaulia, das Usambara-Veilchen. Das ist sein Anteil an der Unsterblichkeit.
Als Frieda von Bülow zum ersten Mal nach Afrika kam, holte er sie in Sansibar vom Hafen ab. Damals hatte er gerade, obgleich erst kurze Zeit in Afrika, seine Suaheli-Sprachlehre beendet. Sie beginnt: „Zunächst ist es nicht der Neger, der etwas von uns will, sondern wir sind es, die zu ihm gleichviel mit oder gegen seinen Wunsch gekommen sind und etwas von ihm wollen. Billiger Weise haben wir also auch das, was wir wollen, in seiner Sprache zu sagen.“ Saint Paul war, was die Afrikaner einen „guten Herrn“ nannten.
Leider ist er nicht zu Hause. Es gibt noch eine zweite Herberge in Tanga, es ist das Hotel der Preußischen Seehandlung, von den Europäern der Stadt nur das Radau-Lokal genannt, denn seit Kurzem wohnen dort neben hunderten Ratten acht junge deutsche Eisenbahner. Die Strecke von Tanga zum Kilimandscharo ist bald fünf Kilometer lang.
Suaheli mit Stuttgarter Akzent
Das Radau-Lokal nimmt Frieda von Bülow auf. Wegen der Ratten muss das Licht in allen Zimmern auch in der Nacht anbleiben. Nachdem die Baronin zum ersten Mal mit der hoteleigenen Arbeiterklasse im Speisesaal auf Rattenjagd geht, ist sie eine der ihren. Und wird mit ihr das gleiche Feindbild teilen. Eisenbahnbaudirektor Bernhardt ist der bestgehasste Mann in ganz Tanga, schon weil er sich für den Einzigen hält, der hier wirklich arbeitet.
Vormittags sitzt Frieda von Bülow an ihrem Schreibtisch, während gegenüber in der ersten nicht konfessionellen Schule Ostafrikas ein alter Württemberger mit den schwarzen und braunen Jungen „Ich hatt’ einen Kameraden“ übt. Nicht auf Deutsch, sondern auf Suaheli mit Stuttgarter Akzent. Ein Volk kann sich nur in seiner eigenen Sprache entwickeln, wusste Herder. Nachmittags versucht sie den Ertrag ihrer Kokosnussfarm zu steigern und sucht nach Absatzmöglichkeiten für den auf ihrer Insel produzierten Kalk.
Fast alles, was sie jetzt zu leben beginnt, wird einmal Eingang finden in ihren Roman „Tropenkoller“. Den immer gleichen Rahmen bildet der tägliche Sonnenuntergangsempfang auf der Veranda von Saint Pauls Eisenvilla, nur einer ist nie eingeladen: Eisenbahnbaudiktator Bernhardt. Sie misstraut Landsleuten wie ihm, die „die Schwarzen zur Arbeit erziehen“ wollen. Im Zweifel für den Müßiggang, diesen Nachglanz des Paradieses! Wenn Faulheit die Angewohnheit sein sollte, sich auszuruhen, bevor man müde ist – was eigentlich spricht dagegen? Ihre Bernhardt-Diagnose lautet: Delirium acuttissimum aequatoriale, klassischer Tropenkoller.
Die Usambara-Bahn war die erste Eisenbahnlinie Deutsch-Ostafrikas.
1956 gruben erstaunte Afrikaner hinter Tanga einen ganzen Eisenbahnzug aus der Erde. Die Deutschen hatten ihn kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs hier beerdigt, zur Weiterfahrt im Frieden. Es war die alte Geschichte: Die Engländer sollten ihn nicht finden.
Die Autorin hat zum Leben von Frieda von Bülow geforscht und dazu kürzlich das Buch „Meine Farm in Afrika“ (Berlin Verlag) veröffentlicht.
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