Als Nicht-Akademikerkind an die Universität: „Dann wirst du doch eh nur Taxifahrer"
"Arbeiterkind"-Gründerin Katja Urbatsch über die Ausgrenzung aufgrund von sozialer Herkunft, Identitätskonflikte und finanzielle Hürden auf dem Weg ins Studium.
Frau Urbatsch, wenn Sie an eine Uni kommen und durch die Flure gehen, sich ins Seminar setzen – woran erkennen Sie ein Nicht-Akademikerkind?
Es gibt einen Unterschied in der Ausstrahlung, im Auftreten, dem Selbstbewusstsein. Viele, die in nicht-akademischen Familien aufgewachsen sind, fühlen sich unwohl, sind schüchtern. Wobei – eine Fachhochschule ist bodenständiger. Unangenehm sind Hochschulen mit altehrwürdigen Gebäuden. Wenn man als 18-Jähriger vor dem Haupteingang der Humboldt-Uni steht, ist das furchteinflößend.
Von Akademikerkindern studieren 79 Prozent der Abiturienten, unter Nicht-Akademikerkindern 27 Prozent. Sie und Ihr Bruder waren in Ihrer Familie die Ersten. Wie waren Ihre Anfangstage an der FU?
Ich habe mich unsicher gefühlt. Allein der Campus! Zum ersten Mal Großstadt! Leute aus ganz anderem Elternhaus. Eine, deren Vater einen Doktortitel hat und Bücher schreibt. Außerdem haben mir alle erzählt, was für tolle Praktika sie schon absolviert haben. Am Anfang bin ich nur zu Seminaren von wissenschaftlichen Mitarbeitern gegangen. Zu Professoren habe ich mich nicht getraut.
Gab es jemanden, mit dem Sie darüber sprechen konnten?
Ja, mein Bruder. Wir lebten plötzlich zwischen zwei Welten. An der Hochschule hatte man das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, und dann geht man nach Hause und hat sich dort auch entfernt. Ich war daheim eine andere Katja als an der Uni. Ein wahnsinniger innerer Konflikt. Dazu kommt der Wunsch nach Anerkennung für das, was man macht, für gute Noten – oft vergebens. Da herrscht häufig so eine Sprachlosigkeit. Das belastet.
Viele machen solche Erfahrungen. Ist das Problem die Machtverschiebung in der Familie?
Ja, die Kinder wachsen über einen hinaus, sprechen eine andere Sprache, wechseln das Milieu. Man hat Angst, nicht mehr wertgeschätzt zu werden: „Bist du jetzt was Besseres?“ Die Eltern fürchten, ihre Kinder zu verlieren.
Vor zehn Jahren haben Sie, gemeinsam mit Ihrem Bruder und Ihrem Partner, arbeiterkind.de gegründet, um anderen in der gleichen Situation zu helfen. Die Resonanz war riesig. Ihnen wurden zahlreiche Auszeichnungen verliehen, diese Woche das Bundesverdienstkreuz. Wie fanden Ihre Eltern die Initiative?
Das weiß ich bis heute nicht. Sie waren, glaube ich, schon irritiert, haben aber gemerkt, was wir bewirken können. Ich denke, darauf sind sie jetzt stolz.
Arbeiter gibt es immer weniger, und Ihre Eltern haben eine Banklehre gemacht. Da hätte man doch sicher einen treffenderen Namen finden können.
Ich habe damals lange darüber nachgedacht. Und festgestellt: Es gibt kein Vokabular. Als Erster in der Familie zu studieren, war überhaupt kein Thema. Ich habe nur Begriffe gefunden wie nicht-akademisch, bildungsfern. Irgendwann kam ich darauf, dass die Arbeiterkinder des 21. Jahrhunderts die Nicht-Akademikerkinder sind. Der Name ist für mich kein soziologischer Begriff, sondern eine Metapher. Außerdem kann sich das jeder merken.
Glauben Sie nicht, dass man damit die Kluft noch verstärkt?
Man muss Probleme benennen. Mich stört, wenn es heißt, wir sind doch alle gleich.
In Deutschland wird früh selektiert. Kinder werden meist mit zehn Jahren voneinander getrennt. Die einen kommen ans Gymnasium, die anderen nicht. Würden Sie dieses System gern verändern?
Ich glaube, das System ist egal. Die Haltung ist entscheidend.
Gehört das nicht zusammen?
Aus meiner Sicht nicht. Eine Berliner Schülerin hat mir von ihrer Gesamtschule erzählt, auf der viele Kinder mit Migrationshintergrund sind. Sie sei die Einzige, die in ihre eigene Oberstufe wechseln werde. Gegen den Willen der Lehrer. Die haben allen gesagt, sie schaffen das eh nicht. Da bringt auch die Gesamtschule nichts. Auf Informationsveranstaltungen präsentieren uns Lehrer die Kinder, von denen sie glauben, dass sie studieren können. Es wird sortiert und kategorisiert, das Potenzial aufgrund der sozialen Herkunft vorausgesagt.
Ihr Bruder wusste bereits mit zehn Jahren genau, dass er aufs Gymnasium will. Sie scheinen eine ziemlich energische Familie zu sein.
Wir mussten sehr früh unser Leben selbst in die Hand nehmen. Unsere Eltern haben immer gesagt: „Ja, macht!“ Wenn sie gemerkt haben, dass ich was will, haben sie zugesehen, dass ich das bekomme. Aber ich musste eben erst wissen, was ich will.
Wie ist es Ihnen am Gymnasium ergangen?
Mein Bruder hatte am Anfang Schwierigkeiten in Englisch, da kam sofort: Aus dir wird nichts! Meine Deutschlehrerin hat zu meinen Eltern gesagt, ich sei zu ehrgeizig. Dabei unterschätzen Lehrer, dass sich Kinder nach ihren Erwartungen richten. Wenn man jemandem sagt: Du kannst Mathe, obwohl das nicht der Fall ist, bringt er sehr gute Leistungen. Ein anderes Problem ist, dass Eltern Teil des Schulsystems geworden sind. Es wird erwartet, dass sie mit Hausaufgaben machen, Referate vorbereiten. Wenn man keine Familie hat, die das leisten kann, ist man verloren.
Ist es nicht naiv, wenn Sie sagen, die Lehrer müssten nur zugewandter sein? Die Situation an den Schulen ist katastrophal, in Berlin gibt es einige mit mehr als 25 Prozent Quereinsteigern ohne fundiertes pädagogisches Wissen.
Mir ist klar, dass Lehrer überfordert sind. Aber als Führungskraft habe ich alle sechs Wochen Coaching. Selbst die Studenten an unserem Infotelefon bekommen regelmäßig Supervision. Da finde ich es schon erschreckend, dass wir Lehrern sowas nicht zugutekommen lassen.
Es gibt immer mehr Familien, die ihren Nachwuchs auf Privatschulen schicken oder wegziehen.
Privatschulen machen einen geringen Teil aus. Was mir Sorge bereitet, ist die Segregation durch die Stadtteile, die entweder reich oder arm sind, in denen sich die Schichten nicht mehr mischen. Ich habe davon profitiert, dass ich im ländlichen Raum aufgewachsen bin. Da gab’s nur zwei Gymnasien, und da waren alle drauf. Egal aus welchen Elternhäusern. Genau wie im Sportverein, in der Kirche.
Viele, die es aus schwierigen Verhältnissen herausschaffen, hatten jemanden, der an sie geglaubt hat.
Ich hatte Glück, hatte solche Leute, die mich gefördert haben. Eine Freundin kam aus einer Arztfamilie, deren Eltern haben auch auf mich geguckt und gesagt, dass wir beide aufs Gymnasium gehören. Dann gab es einen katholischen Pfarrer, der mich stark beeinflusst hat: „Katja wird jetzt Messdiener.“ „Katja lernt Kirchenorgel.“ Gleichermaßen mein Trainer im Basketballverein: „Katja macht jetzt mal den Trainerschein.“ Da hab ich gedacht, gut, dann mache ich das jetzt.
Sie haben einen großen Vorteil: Sie reden gerne und verdammt schnell. War das immer so?
Ja. Als Frau muss man schnell sein, wenn man gehört werden möchte.
Im Tagesspiegel stand einmal: Urbatsch hat sich durchs Unisystem gebissen. War es so schlimm?
Journalisten überspitzen gern und schreiben, dass ich es von ganz unten nach ganz oben geschafft habe. So ist es nicht. Ich bin immer noch sehr privilegiert. Meine Eltern haben mein Studium finanziert. Was mir vor allem fehlte, war das kulturelle Kapital. Es ist falsch zu denken, dass nur das Finanzielle einen Unterschied macht, dass allein das Geld fehlt, um so zu sein wie die anderen.
Was ist denn das, kulturelles Kapital?
Sprache, Wissen. Dass man schon als Kind ins Theater gegangen und in den Ferien nicht nach Mallorca gefahren ist, sondern nach Frankreich und dort Bildungsurlaub gemacht hat.
Ihr Freund war ein Akademikerkind. Hat Ihnen das geholfen?
Das hat mir Stabilität gegeben und Mut. Er hat immer gesagt: Natürlich machst du das! Ich war 21, als wir uns kennenlernten. Das war erstmal ein Kulturschock. In seiner Familie wurde beim Essen über Politik diskutiert. Ich hab gedacht, nein, mit dem kann ich nicht ausgehen, das passt nicht. Ich hatte bis dahin noch nie in meinem Leben Kontakt zu einem Professorensohn!
Merken Sie heute noch Unterschiede?
Ja. Wenn wir zum Beispiel auf Reisen ins Restaurant gehen wollen, und ich denke, ich muss mich ganz schick anziehen, kann nicht mit Turnschuhen rein. Da ist er wesentlich lockerer.
"Der Staat ist verantwortlich, dass die Leute etwas bekommen"
Gibt es Dinge, die Sie anderen als Nicht-Akademikerkind voraushaben?
Die Bodenständigkeit zum Beispiel. Ehrgeiz und Fleiß. Viele Arbeiterkinder sind selbstdiszipliniert, haben eine hohe Frustrationstoleranz. Man will was schaffen. Und sie haben ein anderes Gespür für die Gesellschaft. Ich weiß, wie bestimmte Milieus ticken. Wir haben bei uns Studierende, die sagen: Meine Eltern wählen AfD. Darüber reden wir. Das ist hart, vielen auch peinlich. In der Uni trauen sie sich nicht, das zu sagen.
Und reden hilft?
Das ist bei uns ein großes Thema: auszusprechen und zu reflektieren. Wenn man sich in einer Situation unwohl fühlt, denkt man oft, dass es an einem selbst liegt. Viele müssen erst erkennen, dass das ein strukturelles Problem ist. Als ich gesagt habe, ich will studieren, haben mir Verwandte entgegnet: Wieso, dann wirst du doch eh nur Taxifahrer. Den Spruch hat die Hälfte unserer Community gehört.
Zur Community gehört auch das Netzwerken. Ist das Neuland für die Nicht-Akademikerkinder?
Mein Partner ist damit aufgewachsen, dass seine Eltern gesagt haben: Komm, ich besorg dir einen Praktikumsplatz, wir kennen doch den. Unter Arbeiterkindern herrscht eine Riesenabwehr gegen sowas. Die wollen durch Leistung überzeugen. Sie denken, wenn sie gute Noten haben, läuft das von alleine. Wir müssen daran arbeiten, dass unsere Studierenden anfangen, sich zu vernetzen, sich zum Beispiel bei Xing ein Profil anlegen.
Rund 30.000 Menschen suchen jährlich bei Ihnen Hilfe. Was belastet die?
Oft mangelt es bei anderen am Verständnis für finanzielle Probleme. Wenn ich auf einer Konferenz darüber spreche, kommt ein Professor und sagt: Ach, stellen Sie sich nicht so an. Mit einem Professorengehalt kann man sich nicht vorstellen, was es bedeutet, kein Sicherheitsnetz zu haben.
Sie berichteten in einem Tweet von einer Abiturientin, die sich den Studienbeginn nicht leisten konnte, weil ihr die 400 Euro zur Einschreibung fehlten.
Wer aus einer Hartz-IV-Familie kommt, darf kaum mehr auf dem Konto haben. Es würde sofort einkassiert. Da ist ein Fehler im System. Noch bevor die jungen Leute das Studium beginnen, müssen sie den Semesterbeitrag überweisen, eine Wohnung finden, Kaution zahlen. Es ist vorgesehen, dass die Eltern das übernehmen und auch sonst helfen.
Wie ist der Fall ausgegangen?
Der Tweet hat Aufmerksamkeit erzeugt. Sie hat einen Kredit gekriegt vom Studentenwerk und ein Jobangebot. Für die Einzelfälle finden wir immer eine Lösung. Aber das ändert nichts am Grundproblem. Daran, dass die Leute an die Uni kommen, und nicht mal wissen, was das Studentenwerk ist.
Ihr Bruder ist in die Politik gegangen, er sitzt für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Wäre das auch eine Option für Sie?
Dafür bin ich zu ungeduldig. Diese stundenlangen Sitzungen würden mich in den Wahnsinn treiben. Ich will direkten Einfluss haben. Einmal rief eine Mutter an, die wissen wollte, wie sie Schüler-Bafög für ihre Tochter beantragen kann. Ich habe eine Stunde im Internet gebraucht, um das herauszufinden. Und das als Akademikerin, die auf dem Gebiet versiert ist. Da merkt man, wie schwer es den Leuten gemacht wird. Ich würde gern mal einen Bafög-Antrag im Bundestag austeilen.
In Deutschland studieren 2,8 Millionen Menschen. Handwerker fehlen. Setzen Sie da richtig an?
Das Problem ist, dass etliche das Potenzial haben, an die Uni zu gehen, sich aber nicht trauen. Oder die Eltern es ausreden. Wir möchten, dass alle eine informierte Entscheidung treffen. Ohne Bildung wird es immer schwieriger, einen Job zu finden.
Sie haben mal gesagt: Je mehr Bildung, desto besser. Ist das unendlich steigerungsfähig?
Wenn man an der Uni war, bildet man sich auch später immer weiter. Akademiker denken häufig über Nicht-Akademiker: Die sind so wie wir, die haben nur nicht studiert. Sie unterschätzen, wo sie wären, wenn sie das nicht getan hätten. Man lernt, wie gesellschaftliche Zusammenhänge funktionieren. Ohne Bildung kann man keinen Widerspruch einlegen gegen einen BAföG- oder Hartz IV-Bescheid, keine vernünftigen Briefe schreiben. Wir hatten mal eine junge Frau hier, die war sehr rebellisch, weil sie so frustriert war. Dann haben wir ihr geholfen, ein Stipendium zu bekommen. Jetzt ist sie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und es ist interessant zu sehen, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Auf einmal merkt sie, wie sie partizipieren, mitgestalten kann.
Die „Brigitte“ hat Arbeiterkind.de eine kleine Revolution genannt. Was bräuchte es zu einer großen?
Die Hürden für Menschen aus finanzschwachen Familien müssten gesenkt werden – von der Kita bis zum Studium. Außerdem muss umgedacht werden: Der Staat ist verantwortlich, dass die Leute etwas bekommen. Und nicht: Der Staat wartet mal, bis jemand Ansprüche stellt.
Ihr pragmatischer Optimismus wirkt sehr amerikanisch. Sie haben ein Jahr an der Boston University studiert. Hat das abgefärbt?
Was ich toll finde an Amerika, ist die Ermutigungskultur. Wenn ich was auf meiner Facebook-Seite poste, schreiben meine amerikanischen Freunde: Congratulations! Wonderful! Das hat so was Euphorisches – ja, mach weiter. In Deutschland ist man immer ein bisschen verhalten. Sicher gibt es in den USA Probleme. Aber ich wurde dort unterstützt, an mich zu glauben. Ich war mal Studentin der Woche. Das klingt ein bisschen albern, aber es macht was mit einem. Auch dieser Satz: You can make a difference. Das hab’ ich am Anfang nicht für möglich gehalten. Aber im Endeffekt ist es ja so gekommen.
KATJA URBATSCH, 39,schloss als Erste in ihrer Familie ein Studium ab: Nordamerikanistik, Betriebswirtschaftslehre und Kommunikationswissenschaft in Berlin und Boston. Inspiriert von ihren Erfahrungen als Nicht-Akademikerkind gründete die gebürtige Ostwestfalin vor zehn Jahren gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Wolf Dermann und ihrem Bruder Marc Urbatsch ehrenamtlich arbeiterkind.de, ein Netzwerk für Studierende der ersten Generation. Heute ist Urbatsch Geschäftsführerin der Organisation, in der mittlerweile 6000 Ehrenamtliche in 75 Lokalgruppen Schüler auf ihrem Weg in das Studium – und später ins Berufsleben – unterstützen. Mehr als 30.000 Menschen erreicht „Arbeiterkind“ jährlich. Viele Preise gab es dafür. Erst kürzlich wurde Katja Urbatsch im Schloss Bellevue das Bundesverdienstkreuz verliehen. Ebenfalls ausgezeichnet wurden an diesem Tag unter anderem Otto Waalkes und Annette Humpe.Das Gespräch findet in der Zentrale von „Arbeiterkind“ statt, in den Sophienhöfen in Berlin-Mitte. Kaffeeküche. An den Wänden hängen Plakate. Eines wie ein Liebesbrief. Die Universität fragt, ob man mit ihr gehen will. „Studieren: Ja. Nein. Vielleicht.“ Klar, wo das Kreuz sitzt. Gerade schreibt Urbatsch übrigens noch an ihrer Dissertation. Weil bisher die Zeit fehlte, macht sie das nebenbei.
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