Der Dichter des Don Quijote: Cervantes – ein abenteuerliches Leben
Er war Soldat, Sklave, Steuereintreiber und ein Hallodri. Und er schrieb den vielleicht besten Roman aller Zeiten. Vor 400 Jahren starb Miguel de Cervantes.
Sein Leben ist an einem Tiefpunkt angelangt: Mit 50 Jahren muss er im Oktober 1597 ins Gefängnis von Sevilla, berüchtigtste Haftanstalt im Königreich Spanien. Auf drei Stockwerken um einen Innenhof von 30 mal 30 Schritten sitzen dort 1800 mutmaßliche Mörder, Räuber, Diebe und Betrüger hinter Gittern, die auf nichts hoffen dürfen – nicht einmal auf ein Stück Brot, wenn sie kein Geld haben. Eine Katastrophe für Miguel de Cervantes, denn an Geld fehlt es ihm gerade sehr. Wäre er sonst hier gelandet? Wenigstens hilft die Familie.
Ausgerechnet an diesem Ort, „wo nur Beschwernis weilt und nur der Jammer wohnt“, wie Cervantes selbst schreibt, hat er ihn – nicht verfasst, aber „gezeugt“. Den „Don Quijote“, einen Roman, wie er nur alle paar hundert Jahre einmal gelingt. Sagt jedenfalls sehr viel später Fjodor Dostojewski. Überhaupt geraten die Autoren-Kollegen noch nach Jahrhunderten ins Schwärmen: Der erste große Roman der Weltliteratur, behauptet der Philosoph George Lukács, „grandios und entzückend“ (Hermann Hesse), „ein Weltbuch“ (Thomas Mann).
Hundert Autoren küren "Don Quijote" zum besten Buch
Und als das Osloer Nobelinstitut im Jahre 2002 hundert Autoren bittet, das beste Buch der Welt zu küren, gewinnt Miguel de Cervantes „Don Quijote“ mit weitem Abstand.
Cervantes hätte so viel Lob sicher geschmeichelt. Obwohl, er selbst glaubt am Ende seiner Tage eigentlich nicht, dass „Don Quijote“ wirklich sein bestes Buch gewesen ist. Doch im Oktober 1597 ist das Zukunftsmusik, da hat er noch beinahe 20 Jahre zu leben und gerade ganz andere Probleme: Wie soll er aus diesem Gefängnis rauskommen? Nun, es gelingt ihm binnen sechs Monaten, im April 1598 kann er beweisen, dass die Vorwürfe gegen ihn – Unterschlagung von Regierungsgeldern – haltlos sind.
Die Idee zum „Don Quijote“ also, die soll ihm hinter den Gefängnismauern von Sevilla gekommen sein: Die Idee für einen Roman, in den alles einfließen würde, die Abenteuer, die er bestanden, die Niederlagen, die er erlitten, die Menschen, die er getroffen hat. Und so viel ist zumindest klar, es würde ein sehr dickes Buch werden, fast 1000 Seiten! Denn dieser Cervantes, „in Schicksalsschlägen ist er versierter als in Versen“. Schreibt er über sich in der ihm eigenen Mischung aus Sarkasmus und vorgeblicher Bescheidenheit.
Von trauriger Gestalt übrigens, wie es über seinen Don Quijote heißt, ist er keineswegs. Und er kämpft auch nicht gegen Windmühlen. Einmal beschreibt er sich, da ist er freilich schon alt: langes, schmales Gesicht, kastanienbraunes Haar, muntere Augen, krumme, aber wohlproportionierte Nase, silberweißer, einst blonder Bart, weder groß noch klein. Seine Schwester Andrea sagt über ihn aus, ihr Bruder sei ein Mann, der „schreibt und Geschäfte macht und wegen seiner großen Fähigkeiten auf Freunde zählen kann“. Da steht Miguel de Cervantes mal wieder vor Gericht.
Auf solch knappe Zeugnisse wie das seiner Schwester ist angewiesen, wer dieses Leben nach 400 Jahren nachzeichnen will. Briefe sind kaum erhalten, Akten rar. Reichlich spricht nur seine schriftstellerische Arbeit, hinter der der Mensch fast zu verschwinden droht. Für deutsche Leser hervorragend verknüpft Leben und Werk der Romanist Uwe Neumahr in seiner im vergangenen Herbst erschienenen Biografie. Ebenso wertvoll ist die detailliert kommentierte Neuübersetzung des „Don Quijote“ von Susanne Lange.
Statt eines Wintermantels kauft er lieber Bücher
So viel scheint klar: Cervantes’ Leidenschaft für Kneipen (er hat ein uneheliches Kind mit einer Gastwirtin), für Musik und Tanz, wahrscheinlich auch für Glücksspiel (sein Verleger betreibt ein Casino), bringen ihn ein ums andere Mal in Schwierigkeiten. Ein gewisser Leichtsinn ist ihm wohl eigen, selbst wenn er kein Geld für einen Mantel hat, sich zehn Dukaten für die Winterbekleidung leihen muss, kauft er teure Bücher.
Er ist ein Abenteurer. „Wenn zwei Galeeren mitten auf dem weiten Meer aufeinanderprallen“, heißt es im „Don Quijote“, wenn „sich Bug an Bug so ineinander verkeilen und verbeißen, dass vor dem Soldaten als Spielraum nur noch der zwei Fuß lange Rammsporn bleibt“, wenn der Soldat einer Kanone in die Mündung schaut, „nicht einmal eine Lanzenlänge von ihm entfernt“, dann weiß Cervantes, wovon die Rede ist. Mit 24 Jahren kämpft er in der Seeschlacht von Lepanto vor der griechischen Küste, in der die Flotten der katholischen „Heiligen Liga“ unter Führung Spaniens auf der einen und des Osmanischen Reiches auf der anderen Seite aufeinandertreffen. Es geht um die Vorherrschaft im Mittelmeer.
Zwei Kugeln treffen Cervantes in die Brust
Ein Duell war wohl schuld, dass Cervantes in diese Schlacht geriet. Duelle sind in Spanien an der Tagesordnung, ein übersteigerter Ehrenkodex erzwingt sie geradezu. Verboten sind sie trotzdem. Cervantes soll einen Maurermeister im Duell verletzt haben, zur Strafe soll ihm die rechte Hand abgeschlagen werden. Ihm, einem angehenden Schriftsteller! Cervantes setzt sich nach Rom ab, heuert in Neapel bei der Flotte an. Sein Bruder Rodrigo begleitet ihn.
Seekrieg heißt, über eine schmale Enterbrücke das feindliche Schiff zu stürmen. Zwei Kugeln treffen Cervantes dabei in die Brust, eine zerschmettert ihm die linke Hand. Er hat die rechte gerettet, dafür die linke verloren, hat Glück, überhaupt zu überleben.
Tausende sterben bei Lepanto, doch die „Heilige Liga“ triumphiert, und die Cervantes-Brüder können als Kriegshelden nach Spanien zurückkehren. Sie schaffen es nur nicht ganz. Die Küste ist bereits in Sicht, als ein Piratenschiff sie kapert. Besatzung und Passagiere werden nach Algier verschleppt, um dort auf dem Sklavenmarkt verhökert zu werden.
Als Sklave nach Algier verschleppt
Miguel de Cervantes ist im Besitz zweier adliger Empfehlungsschreiben. Das macht ihn zu einer interessanten Beute und erspart ihm die Zwangsarbeit. Dafür treibt es das Lösegeld in die Höhe. Was die Familie zusammenkratzen kann, reicht gerade für den Bruder Rodrigo. Fünf Jahre verbleibt Cervantes als Sklave in Algier.
Rom hat damals 70 000 Einwohner und ist eine Baustelle, die der Papst erst zum Zentrum der Christenheit hochrüsten will. Algier ist beinahe doppelt so groß. Die Stadt nimmt aus Spanien vertriebene Juden und Mauren mit offenen Toren auf. Sie ist in vielem toleranter als die selbsternannte Vormacht der katholischen Christenheit, die die protestantischen Niederlande ebenso mit Krieg überzieht wie die neuentdeckten überseeischen Besitzungen in Amerika. Andererseits herrscht der Pascha mit brutaler Willkür. „Kein Tag verging, an dem er nicht den einen erhängen, den anderen pfählen oder ihm die Ohren abschneiden ließ“, heißt es im „Don Quijote“.
Zweifelsohne handelte es sich bei seiner Gefangenschaft um ein traumatisches Erlebnis, es wird immer wieder in seinen Werken auftauchen, wenn nicht sogar titelgebend sein, wie bei seinem Drama „Sklave in Algier“.
Er hat den Ruf eines Ausbrecherkönigs
Cervantes versucht mehr als einmal, aus seiner Gefangenschaft zu fliehen, genießt schließlich den Ruf eines Ausbrecherkönigs, auch wenn er stets scheitert. Ungewöhnlich, dass er all diese Versuche überlebt, während andere Gefangene aus geringerem Anlass zu Tode gefoltert werden. Später äußert er sich in seinem Werk widersprüchlich über Algier, mal sieht er durchaus positive Seiten dort, dann ist er wieder voller Hass.
Cervantes’ Freilassung verläuft mindestens so dramatisch wie seine Gefangennahme, offenbar in letzter Minute. Er ist schon an die Ruderbank einer Galeere nach Konstantinopel geschmiedet, als das Lösegeld eintrifft, das eigentlich für einen Adligen gedacht ist, aber für den nicht reicht. Der Unterhändler eines katholischen Mönchsordens nimmt kurzerhand Cervantes mit.
Zurück in Spanien versucht er, an erste literarische Erfolge anzuknüpfen, als Autor von Theaterstücken zu Geld zu kommen. Das verspricht eher Erfolg als der noch junge Buchmarkt. Die Zahl der Analphabeten ist hoch, das Theaterpublikum ungleich zahlreicher. Schon gibt es in Madrid Bühnen, die mehr als 2000 Zuschauern Platz bieten. Welch hartes Brot das ist, zeigt das Beispiel Lope de Vegas, des erfolgreichsten spanischen Theaterautors seiner Zeit. De Vega schreibt über 1000 Stücke, erfolgreiches Volkstheater für den schnellen Gebrauch, die von den Theaterbesitzern bei ihm bestellt werden.
Eine Frau aus vermögendem Haus
Neben Vegas Stücken sieht Cervantes Theater alt aus, zu kompliziert, nicht volksnah genug. Er versucht sich in einer anderen Gattung, schreibt einen Schäferroman, damals ein populäres Genre, das im idealisierten Landleben angesiedelt ist. „Anstrengend“, urteilt die Nachwelt, ein Wust aus Liebe und Verzicht, Abenteuer und Verwechslung. Cervantes kündigt einen zweiten Teil an, der nie folgt.
Er ist jetzt Dichter, leben kann er davon nur, weil er eine Frau aus vermögendem Haus geheiratet hat. Was ihn bewegt, dieses Leben wieder aufzugeben und sich nach nur zweieinhalb Jahren von ihr zu trennen, lässt sich nicht mehr klären.
Miguel de Cervantes bewirbt sich um eine Führungsposition in den überseeischen Besitzungen und wird abgelehnt. Vielleicht steht ihm die mindere Herkunft im hierarchisch strukturierten Spanien im Weg. Er ist der Sohn eines schwerhörigen Wundarztes, der lange darum stritt, als Angehöriger des niederen Adels anerkannt zu werden, vor allem, weil ihn der Titel vor dem Schuldturm bewahren würde. Miguels Schwestern führen ein unkonventionelles Leben mit wechselnden Beziehungen, ohne je zu heiraten. Die ganze Familie steht im Verdacht, von konvertierten Juden abzustammen, im damaligen Spanien ein Karrierehemmnis.
Er macht sich jede Menge Feinde
Cervantes wird erst Steuereintreiber, dann soll er Ausrüstung für die Flotte organisieren. Beides außerordentlich unbeliebte Tätigkeiten. Wer mag schon den Staatsbeamten, der einem die Hühner aus dem Stall holt? Sein Schicksal ist es, bei Wind und Wetter über Land zu ziehen, jede Nacht in einem anderen Gasthof zu verbringen und sich tagsüber mit widerspenstigen Untertanen rumzuplagen, die keineswegs von ihrem Hab und Gut geben wollen, für eine Flotte, die England in die Knie zwingen soll. Und am Ende als geschlagene Armada auf den Grund des Meeres segelt. Sein „Don Quijote“, der traurige Ritter auf seinem Klepper Rocinante, wird später allein mit dem dicken Diener Sancho Panza an seiner Seite in einer seltsamen, zum Scheitern verurteilten Mission verlacht, verspottet und regelmäßig verprügelt bei Wind und Wetter durchs Land ziehen.
In seinen Brotberufen macht sich Cervantes jede Menge Feinde. Er wird exkommuniziert, weil er auch in der Kirche pfändet. Er wird beschuldigt, sich selbst die Taschen zu füllen, was hin und wieder stimmen mag, ihm aber ganz offensichtlich nicht nachhaltig gelingt. Seine Wohnungen jedenfalls, in Valladolid und Madrid, sind mehr als bescheiden.
Eine dieser Anzeigen bringt ihn ins Gefängnis von Sevilla. Die meisten Cervantes-Forscher sehen diese Haft als einen Wendepunkt: den Beginn seines Lebens als Literat. Tatsächlich folgen seine schriftstellerisch produktivsten Jahre erst jetzt, im fortgeschrittenen Alter. Man könnte sogar davon sprechen, dass er am Ende von der Schriftstellerei lebt, was in einer Zeit, in der es kein Urheberrecht gibt, eigentlich fast unmöglich ist.
Den endgültigen Durchbruch bringt ihm der „Don Quijote“ aber erst 1605, da ist er 57. 1500 Reales bezahlt ihm sein Verleger, gar nicht mal so schlecht, ein Beamter im mittleren Dienst verdient damals 10 Reales am Tag.
Die Erstauflage beträgt 1750 Exemplare, drei weitere Auflagen folgen schnell – und mehrere Raubkopien. Das Buch wird in die Neue Welt verschifft, ist sogar in Peru erhältlich. Ein Weltbestseller von 1606.
Binnen kurzem erscheint das Buch in Italien und Frankreich, 1612 liegt eine englische Übersetzung vor. Shakespeare gehört zu den ersten Lesern, sein „Cardenio“, wenn der denn wirklich von ihm stammt, greift „Don Quijote“ auf. Nur in Deutschland dauert es, die erste Ausgabe erscheint 1648, mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges.
Der lange Dünne und der kleine Dicke
Selbst Spaniens nicht besonders humorvoller König findet das Buch lustig. Und so wird es von vielen verstanden: als Parodie auf das untergegangene Rittertum und den damals ungeheuer populären, wenngleich auch schon aus der Mode gekommenen Ritterroman. Oder ist es eine heimliche Kritik an Spanien, dessen goldenes Zeitalter für viele gar nicht golden ist? Oder doch ein Gleichnis auf den ewigen Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit? Bis heute ist sich die Literaturkritik nicht wirklich einig, womit sie es zu tun hat. Nur eines ist sicher: Dieses Buch ist außerordentlich vielschichtig und stellt etwas Neues dar. Wo hat man denn so ein Spiel mit der Realität schon gesehen, in dem sich der Autor trickreich immer wieder in die Handlung schmuggelt, derweil seine Figuren über ihre eigene literarische Existenz sprechen? En passant hat Cervantes eine Figurenkonstellation geschaffen, den langen Dünnen und den kleinen Dicken, die man künftig noch oft sehen wird – bis hin zu Oliver Hardy und Stan Laurel.
Für seine Novellen, Cervantes ist entschlossen diese Literaturform in Spanien durchzusetzen, wird er in der Folge erstmals ebenfalls anständige Honorare erlösen, auch wenn zahlreiche Trittbrettfahrer ihm die Einkünfte streitig machen und seine Ideen kopieren. Der dreisteste nennt sich Avellaneda, ein Pseudonym, und bringt gar eine Fortsetzung des „Don Quijote“ auf den Markt. Vielleicht zum Glück, denn Cervantes, der sich mit seinem zweiten Teil zehn Jahre Zeit lässt, sieht sich gezwungen, endlich fertig zu werden. Er kontert souverän, lässt seinen Nachahmer lächerlich aussehen, indem er ihn in sein Buch einbaut. Und am Ende, mit Don Quijotes Tod, lässt Cervantes gar die Schreibfeder selbst sprechen: Nie mehr soll einer wagen, sie zu packen, um den Ritter wiederzubeleben.
Er stirbt nur drei Tage nach Fertigstellung
Beinahe gleichzeitig arbeitet er an seinem letzten Roman: „Persiles und Sigismunda“, den er für seinen besten hält, formal auf der Höhe der Kunst seiner Zeit. In seinem Nachhall kann er allerdings nicht mit „Don Quijote“ mithalten, der noch nach Jahrhunderten berührt.
Cervantes ist todkrank, als er „Persiles und Sigismunda“ beendet. Drei Tage später stirbt er, am 23. April 1616. Am selben Tag wie ein anderer Literaturgigant, so heißt es lange. Doch der in England damals noch gültige julianische Kalender ist zehn Tage zurück. William Shakespeares Todesdatum ist der 3. Mai 1616.
Andreas Austilat
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