Medien: Schwert zieht
„Borgia“ oder „Die Wanderhure“: Warum das Mittelalter auch im Fernsehen momentan so beliebt ist
Ein röchelnder Papst im Todeskampf, der im Krankenbett an der Brust einer Amme zu saugen beginnt; ein nymphomanes Mädchen, das lüstern mit ihrem Bruder ins Bett steigt; eine Hexe, die zwei Kranke mit Schweinemist einreibt; eine unschuldig eingekerkerte Frau, die auf grausame Weise vergewaltigt wird – Historienfilme mit drastischen Szenen, insbesondere aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit, sind zurzeit sehr beliebt im Fernsehen. Das zeigen zum einen die aktuelle, international produzierte Spielfilmserie „Borgia“ im ZDF (Mittwoch und Donnerstag, 20 Uhr 15), die dem Zweiten herausragende Einschaltquoten beschert, zum anderen Filme wie „Isenhart“, „Die Säulen der Erde“ oder „Die Wanderhure“, die ein größeres TV-Publikum erreichten als gängige Soap-Operas. Egal ob Päpste, Ketzer und Kurtisanen oder Ritter, Tod und Teufel – der Zuschauer lässt sich gerne ins „dunkle Mittelalter“ zurückversetzen.
Dabei stand der Mittelalterfilm in der Geschichte des Films lange im Schatten des beliebteren Antikenfilms. Kostümfilme wie „Der Fall von Troja“ (1911), „Quo vadis?“ (1913) oder später die Monumentalfilme „Ben Hur“ (1959), „Spartacus“ (1960) und „Cleopatra“ (1963) prägten die Erwartungshaltung des Publikums an einen Historienfilm mit gewaltigem Budget und pathetischem Schauwert. Filmproduzenten, die auf Verkäuflichkeit zu achten hatten, ließen sich dabei auch vom Image der Epoche leiten. Das Mittelalter war weniger attraktiv als die Antike, geisterte doch allzu lange das Bild des „dunklen, rückständigen“ Mittelalters in den Köpfen vieler. Einflussreiche Kulturhistoriker wie Jacob Burckardt hatten einen Bruch zwischen den Hochkulturen Griechenlands und Roms und der darauffolgenden Zeit konstatiert, die in kultureller, wissenschaftlicher und zivilisatorischer Hinsicht minderwertiger gewesen sei. Im Deutschland der Nachkriegsjahre kam zur Verfemung des Mittelalters hinzu, dass die Propaganda der Nationalsozialisten die „arisch-heroische Vergangenheit Deutschlands“ im Mittelalter für ihre Zwecke ausgeschlachtet hatte – Grund für viele deutsche Nachkriegsregisseure, einen weiten Bogen um die Epoche zu machen. Erst nach einem zähen Kampf von Geschichtswissenschaftlern wie Jacques Le Goff („Geburt Europas im Mittelalter“) oder Umberto Eco in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts setzte die gerechtfertigte Rehabilitierung des Mittelalters als herausragende Kulturepoche ein.
Seit den Pioniertaten jener Wissenschaftler hat sich allein in Deutschland die Anzahl der Lehrstühle für mittelalterliche Geschichte verdoppelt. Gerade Umberto Ecos Romanwelterfolg „Der Name der Rose“ war für das Wiederaufleben des Mittelalters in der Populärkultur von herausragender Bedeutung. Das Buch prägte den historischen Roman wie kein anderes und löste einen Boom in der Buchbranche aus. Bis heute erfreut sich der Mittelalterroman im deutschen Buchmarkt enormer Beliebtheit. Die erfolgreiche Verfilmung des Buches durch Jean-Jacques Annaud im Jahr 1986 war für viele Filmproduzenten Anlass, weitere Mittelalterstoffe zu verfilmen: „Jeanne d’Arc“, „Robin Hood“, „Braveheart“, „Königreich der Himmel“, „Die Päpstin“ – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Heute hat sich das einstige Negativimage des Mittelalters komplett gewandelt. Es ist zum Wirtschaftsfaktor geworden. Jedes Jahr schießen in Deutschland neue Mittelaltermärkte aus dem Boden. Die Zahl der Veranstalter von Festivitäten, Ritterspielen und sonstigen Spektakeln steigt ins Unüberschaubare. Dabei sind die Grenzen von der Mittelalter-Szene zur Fantasy- und Rollenspielszene fließend. Die Jünger Tolkiens, die den „Herr der Ringe“-Kult leben, bevölkern in ihren mittelalterlichen Gewandungen ebenso Fantasy-Kongresse, Buchmessen wie Mittelaltermärkte.
Worin aber liegt die Faszination jener einstmals verfemten Epoche? Erleben wir gerade eine Neo-Romantik, herrschte in der deutschen Romantik doch eine regelrechte Mittelalterbegeisterung? Eskapismus – die Wirklichkeitsflucht vor der realen Welt in eine imaginäre Wirklichkeit – kann es jedenfalls nicht alleine sein. Auch die Drastik der Bilder nicht. Dafür würden sich auch andere Geschichtsepochen eignen. Eher spielt der regionale Aspekt eine Rolle. Menschen wollen etwas über ihre kulturellen Wurzeln erfahren. Die ältesten öffentlich sichtbaren Zeugnisse der Vergangenheit datieren in den meisten Regionen Deutschlands mit Ausnahme der Römerstädte aus dem Mittelalter. Geschichte wird durch die Figuren, die an existierenden Orten agieren, erlebbar und menschlich. Dazu kommen die Langsamkeit, die Nostalgie, die Burgen und Romanzen, der Wunsch, von einer überdigitalisierten, komplexen Welt in eine einfache Welt abzutauchen, die Sehnsucht nach Ordnung in Zeiten der Verunsicherung und des Umbruchs. Nicht zu unterschätzen ist die mythische Dimension des Mittelalters mit ihren Sagen, Legenden und Ritualen, die Spiritualitätssuchern entgegenkommt.
Soziologen beobachten, wie der Mittelalter-Boom mit einer neuen Religiosität einhergeht und eine ähnliche Sehnsucht artikuliert. Letztlich ist es auch die Suche nach den richtigen Werten für unsere Zukunft. Wenn wir im Fernsehen mit gebanntem Blick auf das Schwert Isenharts blicken, dann sehen wir darin vieles: die Sehnsucht nach Orientierung über Falsch oder Richtig, den Drang nach Herausforderung und Erprobung, die Gewissheit, dass der Kampf einem höheren Ziel dienen muss, die Anerkennung ritterlicher Wertvorstellungen, die auch heute noch ihre Gültigkeit besitzen. Und ist der Kampf der „Wanderhure“ nicht auch ein Symbol für den Kampf der Frau um Selbstständigkeit und Emanzipation?
Die Filmindustrie jedenfalls macht sich die Imaginationswelten der Zuschauer zunutze: Thomas Bellut, der Intendant des ZDF, denkt bereits an eine Beteiligung seines Senders an einer zweiten Staffel der „Borgia“-Serie nach. Auch die „Wanderhure“ wird ihre Wanderung über die deutschen Fernsehbildschirme fortsetzen.
Von Uwe Neumahr ist zuletzt das Buch „Cesare Borgia: Sohn des Papstes, Stratege der Macht, Fürst der Renaissance“ im Casimir Katz Verlag erschienen.
Uwe Neumahr
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