Russlands Fernost: Außenposten am Pazifik
Abgeriegelt, zu weit weg – nach Wladiwostok zieht es kaum jemanden. Trotz Jugendstil und Kamtschatkabeeren. Nur die Transsib bringt Tourismus hierher.
Wer auf einer Reise kaum Touristen treffen möchte, fahre nach Wladiwostok. Nicht einmal Russen verirren sich an das östliche Ende ihres Landes, von ausländischen Touristen ganz zu schweigen. Zu weit weg, zu lange abgeriegelt von der Außenwelt, zu unbekannt die Gegend. Sibirien, Permafrostböden, bröckelnde Sowjetbauten – nach Traumurlaub klingt diese Kombination für die wenigsten.
Trotzdem kommen einige Ausländer in die Stadt. Wladiwostok ist Endbahnhof der Transsibirischen Eisenbahn. Sie fährt seit 1905 zwischen Moskau und der Hafenstadt. Zuerst führte die Strecke noch über chinesisches Staatsgebiet. Bis Zar Alexander III. befehligte, eine zweite Trasse zu bauen. Das Prestige-Projekt, eine rein russische Linie zum Pazifik, wurde 1916 eingeweiht. In diesem Oktober feiert sie 100-jähriges Jubiläum.
Ein Klischee löst sich bei einer sommerlichen Ankunft in schwülheißer Luft auf: Wladiwostok empfängt mit 28 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit. Die Kleidung klebt am Körper, als wäre man in Singapur. Auf der Straße gucken sich Einheimische nach Touristen um, im Café schließen sie Bekanntschaften mit ihnen, weil nur wenige hierherkommen und die Menschen aus Wladiwostok neugierig sind. Vor allem eine Frage interessiert sie: Und? Wie gefallen dir unsere Brücken?
Wladi Wostok – Beherrsche den Osten
Ohne diese Brücken wäre Wladiwostok eine unspektakuläre Großstadt mit knapp 600 000 Einwohnern, die sich in die Landschaft fläzt. Wohnblöcke hocken wie kantige Auswüchse auf den Hügeln, auf- und abwärts gibt es Verkehrsstau. Aber über das Gewusel der buchtenreichen Hafenstadt spannen sich – spannte Putin, um genau zu sein – zwei monumentale Brücken und geben ihr eine ungeahnte Eleganz.
Die eine führt übers Golden Horn, die andere über den Östlichen Bosporus, und diese Namensverwirrung ist Absicht. Mit all seinen Hügeln gleicht Wladiwostok Istanbul, und als Russland im 19. Jahrhundert diesem Außenposten der Zivilisation den protzigen Namen „Wladi Wostok – Beherrsche den Osten“ gab, taufte man gleich den Meeresarm um und benannte ihn nach dem bei Kriegen oft versperrten Ausgang vom Schwarzen Meer. Wer den Osten beherrscht, sollte das wohl heißen, der braucht das mickrige Mittelmeer nicht fürchten.
Die Brücken sind gigantisch, elegant und rekordsüchtig. Zwei Schrägseilbrücken; die eine mit 1104 Metern über den Östlichen Bosporus weltgrößte, die andere über das Goldene Horn: unendlich schön. Sie adelt das Stadtbild.
Auf der Russki-Insel entstand ein neuer Stadtteil
So wichtig, wie heute die Brücken , war früher die Bahn. 1891 war ganz Wladiwostok auf den Beinen. Der Thronfolger kam in die Stadt! Zarewitsch Nikolaus reiste an, um den ersten Spatenstich für den Endbahnhof der Transsib zu tätigen. Bunte Kacheln im Bahnhof halten das Ereignis fest. Jahrelang waren sie nicht zu sehen, weil die Sowjets alles, was an den Zaren erinnerte, abrissen oder übertünchten. Erst vor Kurzem hat man die Kacheln restauriert.
Drumherum blieb der Osten wild. Die Geschichte der Besiedelung erinnert an die Entwicklung der nordamerikanischen Hudson’s Bay Company: Von Einheimischen wurden Felle gekauft, nur waren es nicht Indianer, sondern Nenzen und Jakuten, es gab Goldfunde, Glücksritter und Kriege der Kolonialmächte. Statt Engländer und Franzosen stritten sich Russen und Chinesen um den Einfluss. Die Stahlseile der Brücke über das Goldene Horn tragen die Farben der russichen Flagge: rot, blau und weiß. So präsentieren die Gewinner der Geschichte ihre Vormacht.
Über den Östlichen Bosporus fahren die Menschen mit dem Bus zur Russki-Insel, darauf entstand 2012 ein ganzer neuer Stadtteil, erbaut für den Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec). Regierungschefs und Politiker kamen, unter anderem Hillary Clinton, der chinesische Präsident, der japanische Premierminister und natürlich Wladimir Putin.
Anschließend zogen in die Gebäude Universität, Campus und Klinik ein. Einen Strand gibt es auch, alles ist modern und blitzsauber. Am Kiosk verkaufen die Händler Eis, das wie ein westliches Magnum aussieht und nach dem östlichen Staatengebilde heißt, das 1990 untergegangen ist: CCCP, also UdSSR.
"Produkti", die Spätis des Ostens, bieten deutsche Schokolade und dänisches Bier
Ein Teil der kleineren Brücke überspannt die Innenstadt mit den Jugendstilhäusern. Ihre Entstehungszeit, die vorige Jahrhundertwende, war die Goldene Ära von Wladiwostok. Drei Deutsche, der Kaufmann Gustav Kunst und der Seemann Gustav Albers aus Hamburg sowie der Thüringer Buchhalter Adolph Dattan gründeten ein Warenhaus, das zum größten Handelshaus im russischen Fernen Osten wurde. Daraus versorgten die Deutschen die Region mit Produkten aus Europa. Wenn es sein musste auch mit einer Teigknetmaschine aus Cannstatt für einen französischen Bäcker.
Manche der Jugendstilhäuser sind gut renoviert. Das plüschige Hotel Versailles etwa, wo die Rezeptionistin fast kein Englisch spricht. In der Hauptstraße Ulitza Svetlanskaja reihen sich historische Häuser aneinander, mit pastellfarbenen Fassaden, mal ist eine westliche Modekette eingezogen, mal ein Gemischtwarenladen.
„Produkti“ steht an vielen der Gebäude in der Svetlanskaja-Straße, ein Hinweis auf kleine Tante-Emma-Läden. Darin gibt es deutsche Schokolade, dänisches Bier und Waren aus China. Sie sind fast rund um die Uhr geöffnet, die Spätis des Ostens. In den Grünanlagen stehen Obststände. Ein Kilo Äpfel kostet etwa 2,50 Euro, Pfirsiche über sechs Euro das Kilo, das ist ziemlich teuer bei einem durchschnittlichen Monatslohn von 700 Euro brutto.
Wer einen Nummerncode hat, kann hinein
An mancher Straßenecke stehen alte Frauen mit geblümten Kopftüchern, auf den Tischen vor sich etwas Obst und Gemüse. Die Gastarbeiterinnen aus Usbekistan verkaufen Früchte aus China. Die Einheimischen meiden diese, sie befürchten, das Obst sei gentechnisch verändert.
Dafür greifen sie zu Schälchen mit dunkelblauen Beeren, die aus der Region kommen. Man könnte sie für Heidelbeeren halten. Es sind Kamtschatkabeeren, auf russisch Schimolost, ein Geißblatt-Gewächs. Sie schmecken säuerlich, ein bisschen bitter, und sind viel zu umständlich zu ernten, als dass sich die chinesische Massenproduktion dafür lohnen würde. Aber robust sind die Büsche: Das Holz hält bis zu minus 45 Grad aus. Denn so heiß es auch im Sommer sein mag hier in der Region Primorje, im Osten Sibiriens, im Winter wird es saukalt. Der Hafen friert dann monatelang zu.
Den Speckgürtel der Stadt bilden Plattenbauten, Stalinkas und Chruschtschowkas genannt, nach der Regierungszeit, in der sie entstanden. Erstere sind verziert, mit Ornamenten an Fenstern und Türen, Typ Karl-Marx-Allee in Berlin, die zweiten schmucklos und glatt, Typ Halle-Neustadt. Endlos lange Wohnblocks mit verwirrend vielen Haustüren, die nie ein Namensschild haben, säumen die Straße. Nur wer einen Nummerncode hat, kann hinein.
Die Uferpromenade ist ein beliebter Treffpunkt
Wladiwostok schrumpft. Lebten in der Pazifikregion Primorje zum Ende der Sowjetzeit 2,26 Millionen Menschen, sind es heute noch knapp zwei Millionen. Tendenz sinkend. „Nach Moskau, nach Moskau“, dem Ruf folgen hier viele. Nachrückende chinesische, vietnamesische und usbekische Gastarbeiter können die Lücken nicht füllen. Die wenigsten Russen dürften je in Wladiwostok gewesen sein, das liegt nicht nur an der Entfernung. Bis in die 1990er-Jahre war es eine abgeriegelet Stadt. Weder Ausländer durften an den strategisch wichtigen Ort am Meer, noch Sowjetbürger, die nicht hier registriert waren.
Als in den frühen 1990er Jahren die ersten Militärschiffe aus den USA anlegten, war die Begeisterung groß. Die Menschen aus Wladiwostok durften an Bord, ihr weniges Englisch testen, und eine Jazzband spielte Musik.
Seitdem treffen sich die Menschen wieder an Wladiwostoks Uferpromenade. Täglich versammelt sich ein buntes Volk. An Eisenturngeräten stählen Männer ihre Muskeln, Frauen betten sich auf Kieseln am Strand. Ein Mann trägt ein bekleidetes Äffchen auf der Schulter, ein anderer führt zwei windhundgroße Ponys an einer Leine, sie bieten Fotomotive gegen Bezahlung an.
Um den farbenfroh beleuchteten Springbrunnen kreisen Kinder in Plastik-Tretautos, eine Hüpfburg steht bereit, aus Lautsprechern scheppert Russendiskomusik. Ein Feuerschlucker fixiert seine Zuschauer, als wollte er sie zum Münzabwurf hypnotisieren.
Am Abend sitzt man am Meer beim Krabbenpulen
Eine Drei-Mann-Rockband spielt an der Promenade. Dazu tanzt ein alter Mann schwungvoll, als wäre es eine Polka. Er trägt eine Sowjet-Uniform mit Orden-Lametta, eine Dame nach der anderen dreht er im Kreis im Sonnenuntergangslicht, alle lachen. Die Rockband guckt pikiert. Eine Parade von Hare-Krishna singenden Weißgewandeten zieht vorbei. Ein Krishna-Mädchen verteilt an Zuschauer etwas, das aussieht wie Mottenkugeln. Es ist Churt, salziger, hartgekochter Joghurt.
An Ständen wird „3D-Kartoschka“ verkauft, beworben als ein zu 100 Prozent natürliches Produkt. Dafür schneidet die junge Verkäuferin eine Kartoffel spiralig auf, steckt sie auf einen Spieß und wirft sie in die Fritteuse. Steckerl-Chips. Ein anderer Kiosk mit einer grimmig blickenden asiatischen Verkäuferin bietet Meeresfrüchte an, Teile der gigantischen Kamtschatka-Krabben und verschiedene Shrimps und Krebse. Nebenan gibt es Bier, so sitzt man am Meer beim Krabbenpulen, ein pazifischer Abend.
Seinen Abschluss findet er in der Karaoke-Bar „Russki Blini“. Ein großes Vergnügen. Boney M. singen „Rasputin“, aber das ist eine Ausnahme. Viele der anderen Hits geören zum russischen Liedgut, das natürlich kein Ausländer kennt. Zur russischen Popmusikverbrüderung mit dem früheren Klassenfeind kommt es spätabends. Alle schmettern das unverwüstliche „Wind of Change“ von den Scorpions – der Song über die Perestrioka. Wenn das Putin wüsste.
Reisetipps für Wladiwostok
ANREISE
Am schönsten kommt man mit der Transsibirischen Eisenbahn in Wladiwostok an. Die Fahrkarte im Linienzug von Moskau ist ab ca. 1600 EUR im Zwei-Bett-Abteil zu haben. Für robuste Charaktere auch als platzkarny buchbar im Massenabteil. Wer es luxuriöser mag, fährt mit dem Zarengold-Sonderzug. Information und Buchung: Lernidee Erlebnisreisen, Tel. 786 0000 oder eine Email an team@lernidee.de.
Wer fliegen möchte, bucht mit der Aeroflot ab Berlin über Moskau. Ein Ticket kostet mindestens 505 Euro in der Economy Class, der Flug dauert mit Umsteigen rund 13 Stunden – ist trotzdem die kürzeste Verbindung auf dem Luftweg.
ÜBERNACHTEN
Plüschig, charmant und über 100 Jahre alt: Hotel Versailles. Das Doppelzimmer gibt es ab 6300 Rubel (ca. 100 Euro) pro Nacht. Svetlanskaya Str. 10, hotel-versailles.ru
LESEN
Bodo Thöns: Sibirien. Reiseführer, Trescher Verlag. Umfassend und lesenswert.
Lothar Deeg: Kunst & Albers. Die Kaufhauskönige von Wladiwostok, Klartext-Verlag. Eine hochinteressante Geschichte über die Stadt und das Kaufhaus der deutschen Händler.
Mehr über die Eisenbahn gibt es unter transsibirische-eisenbahn.de.