Peter Fox trifft Harald Martenstein: "Aus deinen Kolumnen spricht manchmal die Angst!"
Sind Radfahrer die besseren Menschen? Sollten Reiche mehr Steuern zahlen? Ein politisches Gipfelgespräch mit Pierre Baigorry und Harald Martenstein.
Pierre Baigorry, 44, ist Teil der Band Seeed, die im März auf Tour durch Südamerika geht. Der Steglitzer wurde unter dem namen Peter Fox ein Star. Harald Martenstein, 62, ist Redakteur dieser Zeitung und schreibt sonntags eine Kolumne auf der Titelseite. Er lebt in Kreuzberg.
Herr Baigorry, Sie haben sich bei der Redaktion gemeldet, weil Sie sich sehr über die Texte unseres Kolumnisten Harald Martenstein geärgert haben und einen Leserbrief schreiben wollten. Wir schlugen vor, dass Sie ihm das am besten selbst sagen, und nun sitzen Sie beide im Tagesspiegel-Konferenzraum am Askanischen Platz. Bitte sehr.
Baigorry: Ja, Herr Martenstein, mir haben Ihre Kolumnen in letzter Zeit stark missfallen.
Martenstein: Wie langweilig wäre das Leben, wenn wir alle den gleichen Blick auf die Welt hätten.
Baigorry: Sie haben große Lust an der Provokation, oder?
Martenstein: Na ja, wenn du so Allerweltssachen schreibst, zum Beispiel „Krieg ist schlecht“ oder „Armut ist schlimm“, wird dir jeder zustimmen. Meine Aufgabe als Kolumnist sehe ich schon darin, mich auch mal ein bisschen neben den Mainstream zu stellen – aber nicht als Selbstzweck. In manchen Punkten bin ich ja auch Mainstream.
Baigorry: Aha, in welchen?
Martenstein: Ich finde, dass Krieg schlecht ist. Armut finde ich auch nicht gut.
Baigorry: Also, um mal eine Nummer kleiner anzufangen: Von Ihrer Kampagne gegen Fahrradfahrer habe ich mich ganz persönlich angegriffen gefühlt. Sie behaupten, das Fahrrad hätte in dieser Stadt „ein Image als Verkehrsmittel für Verhaltensgestörte“. Dabei sind es nur Sie selbst, der dieses Image aufbaut. Wenn man das auf der Titelseite des Tagesspiegels liest, hat es eindeutig mehr Durchschlagskraft, als wenn Omi das an der Kasse erzählt.
Martenstein: Manchmal ist das, was Omi an der Kasse erzählt, wahrer.
Baigorry: Sie betonen Ihre Angst, dass Fahrradfahrer die Bürgersteignutzer terrorisieren, sehr stark. Natürlich gibt es Fahrradfahrer, die sich schlecht benehmen und im Dunkeln ohne Licht fahren. Aber auf einer holprigen Pflasterstraße muss man eben auf den Gehweg ausweichen! Und dann läuft da eine Omi mit Yorkshire-Terrier und springt betont hektisch zur Seite und schimpft, obwohl man sie gar nicht berührt hat.
Martenstein: Aha, ich verstehe: Sie meinen, die Omi soll sich erst dann beschweren, wenn sie umgefahren wurde? So lange soll sie fein still sein?
Baigorry: Nein. Sie sollten Ihre Kolumne nicht dazu nutzen, Verkehrsteilnehmer massiv anzugehen, die im Vergleich zu Autofahrern eindeutig weniger Schaden anrichten. Radfahrer belasten die Umwelt nicht, halten sich fit und schonen das Gesundheitssystem. Wenn Berlin fahrradfreundlicher gebaut wäre, würden Sie sicher weniger Fahrradfahrer auf Bürgersteigen antreffen.
Martenstein: Weil Ihr CO2-Ausstoß geringer ist, müssen Sie sich nicht an Verkehrsregeln halten? Sie sagen, meine Klimabilanz ist so super …
Baigorry: … jetzt darf ich auch eine Bank überfallen. Quark! Ich sehe bloß die Gefahr, die angeblich von Fahrradfahrern ausgeht, nicht. Achtung, Statistik: Der Anteil der Radfahrer am Verkehr in Berlin liegt bei etwa 13 Prozent, in der Innenstadt bei 25 Prozent. Zählt man alle Unfallverursacher zusammen, sind die Radfahrer mit vier Prozent stark in der Minderheit. Und trotzdem hauen Sie immer wieder drauf.
Martenstein: Klar.
Baigorry: Klar? Warum haben Sie so ein Problem mit Fahrradfahrern? Wer zu Schaden kommt, ist der Radler, nicht der Autofahrer.
Martenstein: Wenn Sie die Oma umgefahren haben, dann ist es die Oma, die zu Schaden kommt.
Baigorry: Ist ja gut, trotzdem werden deutlich mehr Leute von Autos gerammt. Duzen wir uns eigentlich? Dann muss ich nicht immer stocken.
Martenstein: In Ordnung. Weißt du, ich schreibe subjektiv. So wie du einen Liedtext über deine Gefühle schreibst. Insofern ähnelt die Kolumne einem Song. Ich wohne im Graefekiez, der ist verkehrsberuhigt, da kann man gut rumfahren. Wir haben ein kleines Kind, das gerade laufen lernt. So ein Kleiner kann noch nicht so aufpassen. Die Radfahrer sind mit steigendem Tempo und einer unglaublichen Intensität auf den Bürgersteigen unterwegs, man muss Angst um das Kind haben. Ich finde, wenn du als Fußgänger auf einem Fußgängerweg unterwegs bist, solltest du keine Angst haben müssen.
Warum auch Martenstein schon auf dem Gehweg radelte
Baigorry: Fährst du eigentlich auch Fahrrad?
Martenstein: Gar nicht selten. Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer sind ja meistens in abwechselnden Rollen unterwegs. Es klingt trivial: Wir sollten aufeinander Rücksicht nehmen. Die Fahrradfahrer nutzen ihre Stärke aus, wenn sie auf dem Bürgersteig fahren, und gefährden die Schwächeren. Auf dem Bürgersteig sind die Radfahrer die Bösen, ausgenommen Eltern mit Kindern.
Baigorry: Auf der Straße sind die Radfahrer die Schwächeren. Straßen sind nicht für Radfahrer gebaut, sondern für Autofahrer. Das Berliner Verkehrskonzept stammt aus den 50er-Jahren. Zack, rechts fliegt die Autotür auf, links überholt ein anderes Auto …
Martenstein: … ich schreibe ja auch über andere Themen.
Baigorry: Du hast dich auf Radfahrer eingeschossen.
Martenstein: Der Grund dafür ist das fehlende Unrechtsbewusstsein dieser Leute. Mich nervt das moralische Überlegenheitsgefühl der Radfahrer.
Baigorry: Autofahrer wie du, ihr seid euch jeder Schuld bewusst?
Martenstein: Unter den Autofahrern gibt es im Großen und Ganzen das Bewusstsein, dass es nicht okay ist, Leute umzufahren, ja.
Baigorry: Von dir stammt der Satz: „Pauschalurteile über Menschengruppen sind immer falsch und ungerecht.“
Martenstein: Ein kluger Mann, der das geschrieben hat. Sollte ich jemals so verstanden worden sein, dass ich etwas gegen Radfahrer im Allgemeinen habe, wäre das eine Missinterpretation der allerböswilligsten Sorte. Ich habe als Radfahrer schon …
Baigorry: … rüpelhaftes Verhalten gezeigt?
Martenstein: Ich bin tatsächlich schon auf dem Bürgersteig gefahren, das mache ich jetzt nicht mehr. Als Radfahrer beobachte ich regelmäßig eine Verhaltensannäherung von Auto- und Radfahrern. Du wirst ja, wenn du als Autofahrer einen Fehler machst, sehr oft angepöbelt, kriegst den Vogel gezeigt. Das ist Berliner Alltag – jetzt auch auf Radwegen. Ich habe ein Rennrad, mit dem ich langsam fahre …
Baigorry: … das heißt, keine weiten Strecken, sondern eher so vom Haus zum Einkaufen?
Martenstein: Maximal fünf, sechs Kilometer. Dabei werde ich oft beschimpft, weil ich zu langsam fahre. Ich könnte ja auch behindert sein und nicht schneller fahren können! Der Stärkere muss auf den Schwächeren Rücksicht nehmen. So ist das halt im Leben.
Baigorry: Du würdest die Stadt mehr voran bringen, wenn du schriebst: Verdammt nochmal, wo ist der Platz für Radfahrer in dieser Stadt? Stattdessen steht da so Gemecker wie: „Die S-Bahn fährt nie.“ Aber die S-Bahn ist trotz Missmanagements sensationell, bringt auch dich von der Yorckstraße nach Wannsee in 25 Minuten! Versuch’ das mal während des Berufsverkehrs mit dem Auto. Schau dich doch mal in São Paulo oder Rom um, dann merkst du, wie gut hier alles funktioniert. Da würde ich mir von dir mehr positive Energie wünschen, so nach dem Motto: Nutzt die Öffentlichen! Und du, obwohl du ein kleines Kind hast, wünschst dir eine Autostadt ohne Baustellen.
Martenstein: Jeder setzt seine Schwerpunkte woanders. Das Baustellenchaos hat bei mir dazu geführt, dass ich mir, wenn ich mit dem Auto irgendwohin fahre, immer etwas zu lesen mitnehme.
Baigorry: Das ist doch absurd. In der S-Bahn müsstest du nicht an jeder Ampel schalten, da könntest du mal 20 Minuten am Stück lesen.
Martenstein: Ich fahre gerne Auto.
Baigorry: Das merkt man.
Martenstein: Weil mein Auto ein persönlicher Raum ist, den ich gestalte, wie ich das will – natürlich nicht mit nickendem Hund oder umhäkelter Klorolle oder was du jetzt denkst. Es ist wie ein fahrendes Zimmer, in dem ich mich wohl fühle. Eine Kapsel.
Baigorry: Dir ist schon klar, wenn das weltweit jeder täte, kämen wir auf keinen grünen Zweig.
Martenstein: Die Autos sind ja nicht mehr so schlimm, sie verbrauchen viel weniger als vor 20 Jahren. Jetzt gibt es das Elektroauto und bald das selbstfahrende Auto …
Baigorry: … vom Drei-Liter-Auto wurde in den 80er-Jahren geredet, gibt’s immer noch nicht. Selbst der Smart verbraucht fast 5 Liter.
Martenstein: Mit dem selbstfahrenden Auto lassen sich endlich vom Nahverkehr abgehängte Regionen wieder erreichen …
Baigorry: … aber Kreuzberg gehört jetzt nicht dazu, oder redest du von Wannsee?
Martenstein: Ich rede von der Uckermark. Da ist das Netz sehr dünn. Dort gibt es viele Dörfer, die lassen sich nicht mehr auf zumutbare Weise mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen.
Baigorry: Da gibt’s den Rufbus. Man ruft ihn mindestens eine Stunde bevor man ihn braucht, zum Beispiel an den Bahnhof Angermünde. Man zahlt die Bahn plus einen Euro, und der Bus fährt dann taximäßig ins gewünschte Dorf. Geht also auch ohne Pkw.
Martenstein: Und wenn erst das selbstfahrende Auto da ist, dann kann sich die Oma in diesen Regionen so ein Ding kommen lassen, nach Berlin fahren und sich dort von den Radfahrern umnieten lassen, zack buff. Ich habe schon Leute, die über den Bürgersteig bretterten, gestoppt.
Baigorry: Am Schal?
Martenstein: Es war Sommer. Einmal hat mir jemand gesagt: Was soll das, ich habe gerade 20 Flüchtlingen Essen gebracht, was willst du von mir? Das ist auch wieder diese Verrechnungsgeschichte. Ich habe jetzt gerade was gespendet, dafür darf ich dir eine reinhauen. Das ist eine Logik, die ich nicht kapiere. Es klingt unsexy, doch ich denke, man soll sich an Regeln halten.
Baigorry: Meine Utopie wäre eine autofreie Innenstadt. Wie schön wäre dein Graefekiez, wenn nicht der ganze Plastikmüll am Straßenrand stehen würde? Herrliche Luft, der Bürgersteig würde nur noch den Alten, ihren Hunden und lachenden Kindern gehören.
Martenstein: Dein Steglitz gehört aber nicht zur Innenstadt?
Baigorry: Dass es für Pendler aus dem Umland oder Stadtrandbewohner kurzfristig nicht geht ohne Auto, sehe ich ein, ich bin ja kein Spinner. Die dürfen an den S-Bahn-Ring ranfahren.
Baigorry nervt die "Anhäufung von Hipness" in Kreuzberg
Sie haben beide eine besondere Beziehung zu Kreuzberg. Herr Martenstein, viele Ihrer Kolumnen spielen dort. Und Sie, Herr Baigorry, haben dem Bezirk mit der Platte „Stadtaffe“ ein Denkmal gesetzt.
Baigorry: Zu Kreuzberg ist eigentlich alles gesagt. Ich liebe diesen Bezirk seit Mauerzeiten. Die Energie dort mag ich sehr, in Steglitz, wo ich jetzt lebe, ist dagegen tote Hose. Aber dieses den ganzen Tag im Café rumsitzen und sich sein Image ausdenken hat mich wahnsinnig gemacht. Genau wie die Anhäufung von Hipness. Außerdem wird der Mix der Schichten und Kulturen zerstört. Klar, man kann die Zeit nicht anhalten, doch hier hätte die Politik in Sachen Mietpreisbindung viel entschiedener gegensteuern müssen.
Martenstein: Ich bin 1988 das erste Mal hingezogen, am Kottbusser Damm haben wir gewohnt. Ich finde alle Viertel, in denen nur eine Sorte von Menschen wohnt, langweilig. Egal, ob das Reiche, Hipster, Migranten sind. In Kreuzberg hat es immer jede denkbare Sorte von Menschen gegeben.
Baigorry: Stimmt. Das ändert sich jetzt.
Martenstein: Gegenüber von unserem Haus war ein wunderbares Antiquariat, in das ich meine alten Bücher gebracht habe. Jetzt zieht dort eine Boutique ein. Ganz interessant ist auch, dass Leute mit einem ordentlichen Einkommen, die schon vor 20 Jahren nach Kreuzberg gezogen sind, nun plötzlich auf den Barrikaden stehen und gegen Leute genau ihrer Einkommensklasse kämpfen. Da hat man halt etwas Glück gehabt, dass man früher die richtige Nase hatte.
Baigorry: Du behauptest ja gerne, „die Reichen“ müssten eh alles zahlen …
Martenstein: Oh, so pauschal würde ich das nicht sagen.
Baigorry: Dein Tenor ist schon: Für die Wohlstandsbürger läuft’s super, das soll bitte auch so bleiben.
Martenstein: Es ist nicht verwerflich, sich ums eigene Lebensglück zu kümmern. Das schließt keinesfalls aus, dass man sich auch um andere kümmert. Bei mir war es übrigens Zufall, dass ich mit über 30 in Kreuzberg gelandet bin, kein Statement.
Herr Martenstein, waren Sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei?
Martenstein: Nee. Das mit der DKP war in Mainz, meiner Heimatstadt. Es ging mir dabei auch nicht um die Vergötterung der DDR, sondern darum, dass ich mir sagte: Das ist eine echte Arbeiterpartei. Der Marxismus, der sich in den Studentenzirkeln formierte, war doch absurd. Das waren alles künftige Akademiker, die übers Proletariat fantasiert haben. Aber in den DKP-Ortsvereinen saßen damals noch richtig knorzige, ehrfurchtgebietende Proletarier. Mein Großvater, der zeitweise Kommunist gewesen ist, spielte für mich als Vorbild auch eine Rolle. Die Erfahrung der realen DDR hat mich dann abgeturnt. Die DDR wirkte auf mich bizarr, so wie Österreich, aber schräger. Als Historiker habe ich mein Examen über DDR-Geschichte geschrieben. Sogar verhaftet worden bin ich mal.
Baigorry: Was?
Martenstein: Auf dem Transitweg. Ich wollte nach Berlin und stoppte morgens um zwei auf einem Parkplatz, um mich ein bisschen auszuruhen. Da kamen zwei Sowjet-Soldaten auf mich zu und fragten, ob ich sie nach Potsdam zu ihrer Kaserne bringen könne – Reifenpanne. Das hab ich dann aus Abenteuerlust gemacht. Ich fuhr damals einen alten Citroen, der war voll mit russischen Soldaten! In der Kaserne haben sie dann einen Dolmetscher geweckt. Ich fragte: „Wie komme ich denn jetzt wieder in den Westen?“ Dann musste ich einem Geländewagen hinterher fahren, am Grenzübergang verhörten sie mich stundenlang.
Baigorry: Da war deine Kommunismusphase beendet?
Martenstein: Ach, die DDR war für mich ein Abenteuerland, mir konnte ja nix passieren.
Baigorry: Ich war auch häufig in der DDR, mein Vater war engagiert in der Kirche und hatte viele Freunde dort. Wir waren im Ost-Harz in Urlaub, in Thale. Wenn wir an die Grenze kamen, hat mein Vater immer einen blöden Spruch gemacht, weswegen die Einreise zwei Stunden länger gedauert hat.
Martenstein: Welchen?
Baigorry: Grenzer: „Na, wie viele Kinder hamwa denn?“ – „Na mit Ihnen hab ich gar keine!“ Im Ernst, was mir gefallen hat am Osten war dieser Fantasiebeschleuniger durch den Mangel. Mit den wenigen mitgebrachten Matchboxautos haben wir und unsere Freunde dort eine Woche lang gespielt. Das hat natürlich die Unfreiheit nicht im Geringsten wettgemacht.
Ist der Kapitalismus wirklich das bessere System?
Es gibt schon seit längerem eine Debatte übers teilen und die Angst davor. Sarah Connor hat in ihrer Einliegerwohnung eine Flüchtlingsfamilie aufgenommen.
Baigorry: Ist doch gut. Machen wir jetzt auch, wir haben ja den Platz. Es gibt aber auch Leute, die mit Flüchtlingen ihre Drei-Zimmer-Wohnung teilen, Hut ab, das ist nochmal eine andere Kategorie. Diese Leute scheinen richtig Spaß am Teilen zu haben, das ist wirklich bewundernswert. Harald, aus deinen Kolumnen spricht dagegen manchmal die Angst, etwas zu verlieren. Was ich menschlich verstehen kann, doch für jemanden, der für eine große Zeitung schreibt, finde ich es etwas kleingeistig.
Martenstein: Ich bin mir schon darüber im Klaren, dass die Welt sich ständig dreht und ändert. Dagegen kann man gar nichts machen.
Baigorry: Würdest du sagen, der Kapitalismus hat gewonnen?
Martenstein: Oh, ja. Der Kapitalismus ist das bessere System. Er ist im Gegensatz zum Sozialismus in der Lage, Produktivität zu schaffen. Die DDR hat die letzten Jahre nur noch durch den Kapitalismus überlebt, nämlich durch die Kredite, die aus dem Westen dorthin geflossen sind. Außerdem: Unser Sozialstaat muss ja irgendwie finanziert werden.
Baigorry: Und der wird von den Reichen finanziert?
Martenstein: Ja. Wenn wir wollen, dass die Leute verarmen und dass es bergab geht, gibt es ein sicheres Konzept: Verstaatlichung der gesamten Industrie, Einführung der Planwirtschaft.
Baigorry: Dass das marktwirtschaftliche System eine gute Idee und Initiative belohnt, und damit Energie freisetzt und Arbeit schafft – dagegen kann man nicht viel sagen. Aber einen sozialen Beruf auszuüben ist auch eine gute Idee, die wird allerdings kaum belohnt. Die Verteilung der Gewinne ist ungerecht.
Martenstein: Du findest das Steuersystem nicht gut?
Baigorry: Also, die Kapitalertragssteuer ist bei 25 Prozent gedeckelt, Vermögenssteuer wird schon lange nicht mehr erhoben, der Spitzensteuersatz ist mit 42 Prozent läppisch, ich zahl’ ja selbst seit einiger Zeit Spitzensteuersatz, da geht doch mehr. In deinen Kolumnen heißt es aber, den Reichen werde zu viel weggenommen – warum?
Martenstein: Dieses ziemlich leistungsfähige System funktioniert nur, wenn die Leute motiviert sind. Geld verdienen zu wollen ist für die meisten Leute schon eine Motivation. Ich glaube, dass diese Motivation schlagartig abnimmt, wenn man den Leuten zu viel abknöpft.
Baigorry: Bei wie viel Prozent wärst du unmotiviert und würdest aufhören zu schreiben?
Martenstein: Bei mehr als der Hälfte. Die Franzosen wollten ja mal diese 75 Prozent einführen, das ist wieder abgebrochen worden, weil sie gemerkt haben, dass dann alle Betroffenen ausreisen würden.
Baigorry: Ist das denn so? Nur weil einmal ein bescheuerter Weinbergbesitzer wie Gérard Depardieu nach Moskau geht … ist doch egal.
Martenstein: Wenn du mehr als die Hälfte des Geldes, das du ehrlich, ohne Betrug, verdient hast, wieder abgeben musst, dann finde ich das moralisch fragwürdig.
Baigorry: Von wahnsinnig viel Geld kann man doch auch mehr als die Hälfte abgeben. Geld zieht Geld an. Man muss irgendwann gar nicht mehr viel machen. Das Problem: Es vermehrt sich nur bei Leuten, die schon Geld haben.
Martenstein: Ich kann’s zum Beispiel spenden, ich kann’s, weiß der Kuckuck, vererben. Ich finde, dass das Geld, was die Leute verdienen, erstmal ihnen gehört. Natürlich ist es ein Recht des Staates, der für Infrastruktur und sozialen Ausgleich zu sorgen hat, sich davon eine Scheibe abzuschneiden.
Baigorry: Na, der Staat sind immer wir alle. Es gibt nicht hier den Staat und dort die Bürger, oder? Du bist auch Teil des Staates …
Martenstein: … sicher, aber ich bin nicht Eigentum des Staates! Ich kann mich morgen dazu entschließen, den Staat zu wechseln. Gott sei Dank.
Baigorry: Dann bist du ja wieder Teil eines Staates.
Martenstein: Jedes Jahr wandern tausende Deutsche aus. Das ist ihr gutes Recht. Wenn dir dieser Staat stinkt, dann kannst du gehen. Das ist gut so.
Baigorry: Du sagst also, jedem gehört erstmal, was er verdient. Nun ist es leider so, dass die Schichten sich reproduzieren. Du als Akademiker wirst ein Akademikerkind auf die Welt bringen, großziehen, die Putzfrau tendenziell nicht. Es gibt wenige Kinder von Fabrikarbeitern oder Arzthelferinnen, die am Ende ganz oben landen. Wär’ schöner, wenn die Chancen wenigstens gleich wären. Dafür braucht man sehr viel Geld, denn man müsste eigentlich fünf Lehrer auf zehn Kinder haben, um wirklich zu schaffen, dass alle dieselben Chancen haben.
Martenstein: Also ich weiß nicht, ob das Bildungssystem automatisch besser wird, wenn du mehr Geld reinpumpst.
Baigorry: Na, mit weniger Geld auf jeden Fall nicht.
Martenstein: In den letzten 20 Jahren haben sich die Bildungsetats schon erhöht, ohne dass man den Eindruck gehabt hat, dass es sich wirklich gut entwickelt hat. Das System muss stimmen, damit ein höherer Etat was bringt. In ein schlechtes System Geld reinzustecken …
Baigorry: Ich weiß. Gerade in Berlin gibt es an allen Ecken und Enden große Mängel. Also müssen mehr Leute Ideen entwickeln oder mitanpacken. Es wäre gut, wenn Leute wie wir, die gerade Zeit haben oder deren Beruf es sogar ist, sich Gedanken zu machen, für einen gerechten Ausgleich wirken – wenigstens ab und zu.
Martenstein: Ich sehe da viele Sachen genauso, ich finde aber, dass ein Mensch auch das Recht haben sollte, 100 Häuser zu besitzen.
Baigorry: Aber klar, dass die Leute mit den 100 Häusern sich die Welt machen, wie sie ihnen gefällt, weil sie einfach die Power haben!
Martenstein: Zu den Segnungen des Kapitalismus gehört auch, dass er kreativ ist. Wie viele segensreiche Erfindungen in der Medizin, in der Umwelttechnik, in der Kommunikation sind eigentlich in sozialistischen Systemen gemacht worden? Ich glaube, die wichtigste sozialistische Erfindung war die Kalaschnikow.
Wer hat den Wettlauf ins All gewonnen?
Martenstein: War das nicht dieser russische Hund? Der Wettlauf ins All interessiert mich als Erdling nicht so. Da ist übrigens die CO2-Bilanz auch ziemlich mies.
Baigorry: Wenn die Erde vom Kapitalismus weiter so ausgewrungen wird, wird das schon noch wichtig werden, wo wir dann hinziehen!
Martenstein: Du redest von 100 Häusern. Hattest du nicht mal so einen Song geschrieben? „Haus am See“, die Orangenbaumblätter, die Frauen …
Baigorry: Ein Sinnbild. Es geht ums Ankommen, um Frau und Kinder – nicht um goldene Wasserhähne. Ich gebe aber zu, es ist missverständlich.
Martenstein: Es ist ein Immobiliensong!
Baigorry: Wurde auch öfter angefragt von Investitionsgruppen, die da eine neue Siedlung am See bauen. Die wollten den Song für ihre Internetkampagne.
Martenstein: Wie hoch war die Summe, hätte sich’s denn gelohnt?
Baigorry: Ich hab tatsächlich das Gefühl, mir geht es gut, mein Leben ist gut abgesichert, jetzt muss ich nicht meine Songs noch für sowas verscheuern. Dafür bin ich doch Künstler.
Martenstein: Ich finde Unternehmer nicht per se anrüchig. Früher, vor vielen Jahren, habe ich sogar Werbung gemacht. Allerdings war ich nicht gut darin.
Baigorry: Gibt’s die Firma noch?
Martenstein: Es war ein Werbeprospekt für die Insel Borkum. Ich dachte, ach, das ist ganz nett, da kannst du nach Borkum fahren. Der Text hat denen nicht gefallen.
"Ich habe vorher recherchiert." - "Hast du nicht so gut gemacht."
Baigorry: Du bist eher so’n Meckerkopf.
Martenstein: Die wollten da so einen Sound haben, den ich nicht drauf habe. Diesen bedingungslosen Jubel. Wobei ich kein moralisches Problem damit hätte, was für einen Autokonzern zu machen, weil ich aus den genannten Gründen kein Autofeind bin. Und abgesehen davon möchte ich ja auch, ganz in deinem Sinne, dass dem Staat Mittel zur Verfügung stehen, um diese Gesellschaft besser zu machen – und das wird sich ohne die größten Steuerzahler, nämlich die deutschen Automobilkonzerne, überhaupt nicht machen lassen. Wenn wir VW und BMW nicht mehr haben, können wir kein Hartz IV mehr bezahlen. Also so gesehen würde ich im Interesse der Armen und Bedürftigen in Deutschland für einen Automobilkonzern schreiben.
Baigorry: Im Interesse der Armen würde er das machen!
Martenstein: Ja. Das ist Dialektik.
Baigorry: Der Großteil des Geldes, das der Staat zur Verfügung hat, kommt aber nicht von den Reichen, sondern von der Mittelschicht. Es gibt nicht nur Einkommenssteuer, sondern auch Mehrwertsteuer. Nachweisbar ist zudem, dass die oberen 20 Prozent der Einkommen – Reiche plus obere Mittelschicht – zwar 46 Prozent der Steuerlast zahlen, aber 53 Prozent der Einkommen beziehen. Sie werden also eher bevorteilt.
Martenstein: Wie Churchill gesagt hat: Statistiken, die ich nicht selber gefälscht habe …
Baigorry: Ich habe wirklich versucht, nicht nur eine zu lesen. Du hast es einfach mal so hingestellt. Die armen Reichen!
Martenstein: Ich habe vorher recherchiert.
Baigorry: Hast du nicht so gut gemacht.
Martenstein: Doch, doch. Die Statistiken, die du mir da jetzt vor den Latz knallst, kann ich nicht überprüfen. Gib mir zwei Tage Zeit, und ich komme mit Statistiken an, die dir das Blut in den Adern kochen lassen. Also wirklich, was ist denn Journalismus? Man muss die Leute verteidigen, die im Gegenwind stehen, auf denen alle herumhacken. An denen keiner ein gutes Haar lässt, die zu Volksfeinden erklärt werden. Das hat mich zur Verteidigung der Reichen bewogen.
Baigorry: Die Reichen brauchen dein Mitgefühl?
Martenstein: Wenn ich das Gefühl habe, alles driftet in eine Richtung, einer wird als Sau durchs Dorf gejagt und ist Volksfeind Nr. 1, dann krieg ich hin und wieder Lust, den zu verteidigen. Ein Beispiel war Guido Westerwelle. Es gab mal so eine Zeit, in der jeder, wirklich jeder …
Baigorry: Ihn gehasst hat.
Martenstein: … einen Westerwelle-Hasstext rausgehauen hat. Das fand ich so billig. Da hab ich wirklich Lust bekommen, eine Westerwelle-Verteidigung zu schreiben. Weil Westerwelle auch nicht der schlimmste Mensch auf der Welt ist. Diesen Reflex hab ich schon. Ich hab das satirisch überspitzt. Das darf natürlich nicht zu einem billigen Mechanismus werden. Denn manchmal gibt es Leute, die vollkommen zurecht kritisiert werden. Auch ich als Kolumnist muss mich übrigens darauf einrichten, im Wind zu stehen.
Baigorry: Ja?
Martenstein: Wenn man das nicht aushält, darf man es nicht machen. Manchmal gibt es auch blöde Kritik, über die ich mich sehr freue. Ich sehe dann die offenen Flanken und kann was dagegen schreiben, was oft Spaß macht. Wenn man einen Adrenalinschub hat, schreibt es sich leichter.
Baigorry: Ha, ha.
Martenstein: Eines ist vollkommen klar: Auch, wenn kein Mensch sich freut, wenn er kritisiert wird, sollte man nie die Möglichkeit ausschließen, dass die Kritiker Recht haben. Ich habe sicher Sachen geschrieben, die ich heute nicht mehr schreiben würde.
Was ist Ihnen rückblickend peinlich?
Baigorry: Unser erster Band-Auftritt im Fernsehen war ein ungeheures Overgepower und Gezappel, dafür geniere ich mich heute. Auch für einige schlechte Reime.
Martenstein: Ich hab mal einen Politiker in die Pfanne dafür gehauen, dass er Wahlkampf gemacht hat mit seinem kleinen Kind. Immer, wenn der Name von Angela Merkel fiel, hat das Kind geklatscht. Darüber habe ich mich lustig gemacht. Danach habe ich rausgefunden: Seine Frau war krank, und er musste das Kind mitnehmen. Meine Kritik war blöd. Sowas kommt schon mal vor. Über was ärgerst Du Dich?
Baigorry: Hmmm … die Seeed-Platten tauchen nie in den Rankings der coolsten Platten des Jahres auf. Dazu ist unsere Musik dann doch zu mainstreamig. Wenn man so ein bisschen einen Geheimtippbonus noch dazu hätte …
Martenstein: … Massenerfolg plus Geheimtipp?
Baigorry: Oder plus Oberstylo. Weißt du eigentlich, was mir sehr gut an dir gefällt?
Martenstein: Nein?
Baigorry: Deine Stimme. Da gibt’s wahrscheinlich keine zwei oder drei Meinungen dazu, die Stimme ist super. Sie kollert. Sie hat sowas von einem V8-Motor.