Aus dem Krisenreaktionszentrum im Auswärtigen Amt: ... und meiden Sie Menschenmengen!
Tief im Keller des Ministeriums, hinter Sicherheitsschranken, verfasst ein Team Reisehinweise. Und reagiert auf Entführungen, Evakuierungen und Epidemien.
Als am Abend des 10. November 2016 im Norden Afghanistans die Nachtruhe zerbirst und mit ihr die Fensterscheiben des Deutschen Generalkonsulats in Masar-e Scharif, als sechs Menschen sterben und mehr als 100 verletzt werden, steht Erik Kurzweil vor einem Berliner Restaurant. Er greift nach der Türklinke, der Donnerstag-Feierabend ist noch einen Schritt entfernt.
Dann vibriert sein Handy. Er setzt sich ins Auto, fährt zurück zum Auswärtigen Amt. Krisenstabssitzung. Es geht um Menschenleben, um das Leben von deutschen Bürgern.
So bald ist nicht Wochenende.
Wenn bei Erik Kurzweil das Telefon klingelt, sind irgendwo auf der Welt Deutsche in Gefahr. Weil es, wie in Masar-e Scharif, einen Terroranschlag gab. Weil politische Unruhen ausgebrochen sind, wie in Venezuela, oder eine Ebola-Epidemie, wie in Westafrika. Aber auch, weil ein Land seine Einfuhrbestimmungen geändert hat. Dann steigt Kurzweils Abteilung ein, das Krisenreaktionszentrum. Im besten Fall bearbeiten Kurzweil und seine Kollegen die Reisehinweise, die es für jedes Land der Welt gibt, und die jeder Urlauber online einsehen kann, oder verfassen Reisewarnungen, solche bestehen momentan für 27 Länder.
Im schlechtesten Fall aber bereitet das Krisenreaktionszentrum die Evakuierung von Menschen vor.
Das Herz des Krisenzentrums ist nicht ansehnlich
Ein Nachmittag im Sommer 2018. Erik Kurzweil, ein schlanker Mann und nicht sehr groß, gerade 50 geworden, geht durch die Gänge seiner Abteilung. Das Krisenreaktionszentrum liegt im Keller des Auswärtigen Amts in Berlin. Die Außenwände sind durch meterdicke Stahlplatten geschützt, immer wieder schreitet Kurzweil durch Sicherheitsschranken hindurch und an alten, cremefarbenen Panzertüren vorbei, an denen ein Knacker lange werkeln müsste. Dass das Krisenreaktionszentrum ausgerechnet hier im Untergeschoss angesiedelt ist, in den früheren Tresorräumen der Reichsbank, hat jedoch mit den Stahlwänden nichts zu tun. Sicherheitsmaßnahmen gibt es trotzdem: Vor den Zimmern sind kleine Schließfächer montiert, niemand darf ein Mobiltelefon in eine Besprechung bringen.
Durch die Räume zieht sich ein senfgelber Teppich, etwas altmodisch, etwas überholt. Die Optik verkörpert die Effizienz, die in diesen Räumen gebraucht wird. Das Herz der Krisenbewältigung ist nicht ansehnlich.
Kurzweil betritt das Lagezentrum. Drei Mitarbeiterinnen sitzen vor einer Armada von Computern, Fernsehschirmen, Telefonen. Hier verfolgen sie die Nachrichtenlage aus aller Welt, lesen Newsticker und hören Radiosendungen, 24 Stunden am Tag. In einem Regal liegen „Süddeutsche Zeitung“ und „Spiegel“, eher zur Unterhaltung als zur schnellen Information.
Denn auch Nachrichten aus Regierungsquellen erreichen das Lagezentrum, jene Nachrichten, die für den normalen Bürger nicht einsehbar sind. Berichte der deutschen Botschaften, der Geheimdienste, der Ministerien. „Wenn etwas passiert, weiß das Lagezentrum zuerst Bescheid“, sagt Kurzweil mit ruhiger, besonnener Stimme.
Auch NGOs dienen als Quelle
Aus all diesen Informationen ziehen seine Leute ihre Konsequenzen. Wenn ein Reisehinweis oder sogar die Politik angepasst werden muss, verteilen sie die Informationen an die zuständigen Abteilungen. Die Länderreferate im Außenministerium und die Botschaften weisen das Krisenreaktionszentrum aber auch selbst auf gefährliche Entwicklungen hin.
Oft kann die Abteilung schnell reagieren. „Wir bekommen zum Beispiel den Hinweis, dass sich die Trinkwasserqualität in einem Land verschlechtert hat. Dann bitten wir die betroffene Botschaft, dem nachzugehen“, sagt Kurzweil. „Erst wenn wir ein Problem bestätigen können, aktualisieren wir den Reisehinweis.“ Dafür analysieren die Botschaften Berichte von örtlichen Helfern, werten Fotos aus, kontaktieren Gesundheitsbehörden wie die WHO.
Auch Nicht-Regierungsorganisationen dienen dem Amt als Quelle. „Wir liefern allerdings nur die reine Information“, sagt Andrew Gardner von Amnesty International Turkey, „wir ziehen aus einem Krisenereignis keine Schlüsse, was die Sicherheit von Touristen angeht“. Das sei die Aufgabe der Behörden, nicht der Menschenrechtsorganisation. Diese Folgerungen liest man dann in den Reisehinweisen: Bleiben Sie Menschenmengen fern, hören Sie auf die Anweisungen der Behörden.
Es gibt Fälle, in denen sich das Krisenreaktionszentrum mit den spezialisierten Abteilungen im Auswärtigen Amt absprechen muss. Bei Epidemien wie dem Pestausbruch auf Madagaskar im August 2017 wird der medizinische Dienst einbezogen. Bei politischen Krisen: Außenminister und Kanzleramt.
Eine Formulierung ist noch stärker: die Warnung
In den vergangenen Monaten beschäftigten die Unruhen in Nicaragua das Team von Erik Kurzweil. Über Monate hinweg demonstrierten Menschen gegen die Regierung, dann ließ Präsident Daniel Ortega die Proteste gewaltsam niederschlagen. Mehr als 300 Menschen starben bisher, auch in Gegenden, die bei Touristen beliebt sind. „Die Situation im Land hat sich ständig verändert, sodass wir den Reisehinweis häufig anpassen mussten“, sagt Kurzweil. Mittlerweile steht auf der Webseite des Auswärtigen Amts: „Von nicht erforderlichen Reisen nach Nicaragua wird dringend abgeraten.“
Nur eine Formulierung ist noch stärker: die Warnung. „Eine Reisewarnung geben wir heraus, wenn für jeden deutschen Staatsangehörigen, der sich in ein Land begibt, dort eine konkrete und unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht“, sagt der Krisenchef. Doch auch die Warnung ist, rein rechtlich, allenfalls ein gut gemeinter Hinweis für Touristen. Niemandem könnte verboten werden, nach Nicaragua zu reisen.
Die Zeit spielt in Krisensituationen immer eine wichtige Rolle. Je schneller die Menschen von einem Risiko wissen, desto besser, sagt Kurzweil. „Reisehinweise werden meistens innerhalb eines Tages aktualisiert, bei Extremfällen wie Terrorangriffen dauert es oft nur Minuten.“ Hat man sich auf der Krisenvorsorgeliste für ein Land eingetragen, wird man per E-Mail oder SMS über die Änderungen benachrichtigt.
„Besonders bei akuten Warnungen, wie Terrorgefahr, informiert das Auswärtige Amt tatsächlich sehr rasch“, bestätigt eine deutsche Journalistin, die in einem Krisenstaat als Korrespondentin arbeitet. Andere Quellen seien ihrer Meinung nach trotzdem meist schneller und würden eher genutzt, Soziale Medien zum Beispiel oder Nachrichtenagenturen.
In Krisensituationen wird es hektisch
Erik Kurzweil verlässt das Lagezentrum, er geht durch die Gänge zu seinem Büro, Sicherheitstür, Schranke, senfgelber Teppich. Sein Arbeitsraum ist das Gegenteil von Krise. Große Fenster mit Blick auf den Hinterhof, Pflanzen, unspektakulärer Schreibtisch mit mehreren Bildschirmen. Nur eine große Weltkarte und ein Poster der Bundeswehr-Spezialeinheit KSK beim Erstürmen eines Hauses, ein Geschenk von der Truppe, geben einen Hinweis darauf, dass hier wichtige und kritische Entscheidungen getroffen werden. Gerade ist es still.
Innerhalb von Minuten kann es mit der Ruhe vorbei sein. Wie in jener Novembernacht von Masar-e Scharif. Wie im Februar 2011, als 103 Deutsche während des Arabischen Frühlings aus Libyen evakuiert werden mussten, mithilfe der militärischen Spezialkräfte von Kurzweils Poster. Wie im Mai 2017, beim Anschlag nahe der Deutschen Botschaft in Kabul.
In solchen Momenten wird es hektisch. Die Mitarbeiter stürmen aus ihren einzelnen Büros, setzen sich alle zusammen in den Lageraum, auf vielleicht 60 Quadratmetern in einem großen U, wie früher in der Schule. „Das vereinfacht die Kommunikation in einem chaotischen Moment“, sagt Erik Kurzweil. Nach Krisenausbruch dauert es maximal eine Stunde, bis der Lageraum voll einsatzbereit ist. An der Wand hängen alte, runde Quarzuhren, schwarz und weiß, mit den Uhrzeiten aus Caracas, Kapstadt, Kabul. Darunter verschiedene Karten, mal von ganzen Regionen, mal von den Häuserblocks um eine Botschaft herum. Auch hier: Newsticker, Bildschirme, ein Whiteboard, Senfteppich.
„Wer in diesem Raum telefoniert, überbringt schlechte Neuigkeiten“
Neben dem Lageraum sind zwei Zimmer für Telefongespräche eingerichtet. Das eine ist eng, vier Schritte lang, drei Schritte breit. Im Fall der Fälle übernehmen Mitarbeiter aus verschiedensten Abteilungen des Außenministeriums freiwillig die Arbeit an den Hörern. An dieser Stelle landen in einer Krise die Anrufe der Angehörigen von Betroffenen, die sich über eine Situation erkundigen wollen.
Der zweite Telefonraum ist größer, ruhiger. „Hier dürfen nur zwei Mitarbeiter gleichzeitig telefonieren“, erklärt Kurzweil, seine Stimme wird leiser, wenn er das sagt. „Wer in diesem Raum telefoniert, überbringt schlechte Neuigkeiten. Spricht mit Menschen, deren Angehörige vielleicht nicht mehr leben.“
In solchen Extremsituationen zahlt sich die tägliche Arbeit von Kurzweil und seinen Kollegen aus. „Es gibt einen Krisenplan für jede Botschaft. Was tun wir, wenn verschiedene Arten von Krisen eintreten“, sagt Kurzweil. Diese Pläne sind minutiös, jedes Szenario durchdacht. Wann verlassen die Diplomaten das Gebäude, wann kommen die Sicherheitskräfte, wann hebt das Evakuierungsflugzeug ab? „Und wo politische Unruhen wahrscheinlicher sind, planen wir anders als in einem erdbebengefährdeten Land.“
Trotzdem wird jede Situation, in der Menschen konkret geholfen werden muss, von einer Krisenstabssitzung begleitet. Dort klärt Erik Kurzweil mit seinen Kollegen die Umstände, und sie treffen Entscheidungen. Dazu gehören die Anpassung der Reisehinweise, der Befehl zur Evakuierung von Diplomaten oder zum Einsatz der Spezialkräfte.
Wenn Deutsche gestorben sind oder gerettet werden müssen, leitet der Außenminister die Sitzung sogar selbst, wie Frank-Walter Steinmeier nach dem Anschlag in Masar-e Scharif. Seinen Nachfolgern blieb der Gang ins Krisenherz bislang erspart. In ganz seltenen Fällen übernimmt ein Kanzler die Aufgabe.
Gerhard Schröder war der bislang letzte, sagt Kurzweil. „Am 11. September 2001.“
Matthias Kirsch