Die Wahlkampfbeobachter (7): Es ist Zeit für Einzelkämpfer
Wer etwas werden will, muss sich anpassen: Das ist die Logik der Parteien. Doch es gibt Politiker, die sich daran nicht halten wollen. 81 von ihnen treten bei der Bundestagswahl als unabhängige Kandidaten an.
Manche gehören zur Polit-Prominenz, von anderen wird man nach dieser Bundestagswahl nie wieder etwas hören. Immerhin 81 Einzelkämpfer wollen am 22. September in den Bundestag gewählt werden - unabhängige Einzelbewerber für ein Direktmandat, Leute mit hoher politischer Motivation und ohne Bindung an eine Partei.
Manche dieser Frauen und Männer verfolgen regionale politische Ziele. Andere, wie der Noch-CDU-Mann Siegfried Kauder, verbinden ihre Bewerbung mit radikaler Kritik an der eigenen Partei – und stellen sich gegen deren Interessen. Kauder will in seinem angestammten südwestdeutschen Wahlkreis auch seinen direkten Konkurrenten von der CDU angreifen. Die Partei, der er sich so lange verbunden fühlte, sei in einem „desolaten Zustand“, sagt er – und machte sich von ihr unabhängig.
Man kann Leute wie Kauder oder den ehemaligen Bundesrichter Wolfgang Neskovic für Polit-Egoisten halten – und übersieht damit die Wahlkampf-Wirklichkeit, die für Ego-Pflege wenig Zeit und Geld lässt. Neskovic war viele Jahre in der SPD, dann ein paar Jahre bei den Grünen. Von beiden Parteien trennte er sich jeweils, wenn er deren politische Entwicklung für falsch hielt. Bei den Grünen zum Beispiel war es deren Bereitschaft, die Bundeswehr in den Kosovo-Krieg zu schicken, die er für prinzipiell unakzeptabel hielt.
Die Demokratie muss sich verändern, sagen sie
Dann führte seine politische Freundschaft mit Gregor Gysi dazu, dass er für die Linke in einem südbrandenburgischen Wahlkreis um die Stadt Cottbus antrat – und diesen gewann. Als die Linke in Brandenburg an die Regierung kam, kritisierte Neskovic deren plötzlichen Pragmatismus, etwa in der Braunkohlepolitik. Das Verhältnis verschlechterte sich. Die Linken in der Lausitz nominierten anstelle von Neskovic eine wackere Genossin für den Wahlkreis – und der eigensinnige, selbstbewusste Richter, bestens vertraut mit der Lausitz und ihren Problemen, beschloss, direkt um die Stimmen der Wähler zu kämpfen.
Hört man sich im Politbetrieb über solche Leute um, heißt es, sie seien „interessant, aber eigenwillig“. Je nach den Chancen, die die Kauders oder Neskovics haben, wird dann noch ein wenig heftiger an deren Ruf gekratzt; sie gelten an als rechthaberisch, nicht kompromissfähig. Recht haben in dieser Logik immer die Parteien: Nur wer sich einfügen kann und will, wird nominiert.
So ist das nun mal, werden viele sagen: die Parteien organisieren den Politbetrieb; wer etwas werden will, muss sich – auch – anpassen. Doch die 81 Einzelkämpfer sagen, jede und jeder auf seine Weise, das Gleiche, was die Piraten vor ein paar Jahren postuliert haben: die Demokratie muss sich verändern, sie muss lernen.
Man muss die Demokratie in Deutschland gar nicht schlecht reden, um zu sehen, dass sich der manchmal flüchtige, manchmal wankelmütige, aber eben entscheidende Wille des Volkes heute anders organisiert als in einer Zeit, in der sich das Parteivolk zur „Versammlung“ und zum Biertrinken im Kneipenhinterzimmer traf, ein wenig vor sich hin politisierte und damit letztendlich dem Vertrauen in die Parteiführung Ausdruck verlieh. Das diffuse Gefühl, dass Parteien langsam wie Öltanker auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, hat vor Jahrzehnten die Grünen stark werden lassen, vor ein paar Jahren dann die Piraten. Die aber sind dabei, um im Bild zu bleiben, sich selbst zu versenken. Demokratische Impulse sind von ihnen derzeit nicht zu erwarten.
Neue Töne, neue Debatten
Auch das erklärt die Ambitionen von 81 Einzelkämpfern in 299 Wahlkreisen. Die Anzahl lässt, grob gerechnet, den Schluss zu, dass in immerhin einem Viertel aller Wahlkreise einem Teil der Wähler das enorm breite, bis zur Sektenähnlichkeit gehende Parteienangebot nicht reicht. Angenommen, von den 81 würden sich zehn oder 15 durchsetzen, dann könnten diese sich – auch weil sie keine Rücksichten auf die Parteilinie nehmen müssen – als Agenten einer demokratischen Erneuerung betätigen.
In Berlin-Lichtenberg tritt schon zum zweiten Mal ein junger Mann als Einzelbewerber an. Auf seiner Internetseite schreibt er: „Grundlage meiner Politik bildet das Prinzip der Direkten Demokratie. Ich möchte, dass die Bürger in grundlegenden Entscheidungen befragt werden und sich die Politik daran orientiert.“ Er hat einen Fragebogen ausgearbeitet, auf dem potenzielle Lichtenberger Wähler ankreuzen können, was ihnen wichtig ist. Auch so kann man Politik verstehen und machen.
Ein Dutzend Unabhängige im Bundestag könnte allein mit seinem Rede- und Fragerecht im Bundestag neue Töne in Debatten bringen, die die etablierten Parteien nicht mehr führen. Zumal in Sachen Euro und im Hinblick auf europäische Demokratisierungsdefizite dürften viele Bürger erheblich mehr wissen wollen, als die führenden Politiker der führenden Parteien den Leuten mitzuteilen belieben. Das Ergebnis von 64 Jahren repräsentativer Demokratie muss nicht Entfremdung sein.
Werner van Bebber