Porträt: Wolfgang Neskovic: Der Widerständige
15 Jahre war er bei der SPD – dann trat er aus. Darauf bei den Grünen – und trat wieder aus. Danach war er für die Linke im Bundestag. Nun probiert es Wolfgang Neskovic ganz allein: „Die Parteien sind mir abhanden gekommen“.
Er müsste das nicht machen. Wolfgang Neskovic war Bundesrichter und fast acht Jahre lang Bundestagsabgeordneter. Er ist gerade 65 geworden. Er müsste nicht mehr von Berlin in die Lausitz fahren, mit Terminen von morgens um neun bis abends spät plus einer zweistündigen Fahrt zurück nach Berlin, um am nächsten Tag wieder im Bundestag zu sitzen, als der einzige fraktionslose Abgeordnete. Neskovic könnte bald am Ostseestrand spazieren gehen und ein böses Buch über den Berliner Politikbetrieb schreiben – über Zwänge und Verlogenheiten, den Demokratie-Verdruss im Land und dessen Gründe, die – das ist seine Überzeugung – mit der Dominanz der Parteien zu tun haben.
Aber er will weiter drei Leben leben zwischen Lübeck, woher er kommt und seine Familie hat, Berlin mit dem Politikbetrieb und Südbrandenburg, der Gegend um Cottbus und Spremberg mit ihren Dörfern, Tagebaulöchern und diesen in sich gekehrten, sperrigen Leuten. Also trifft sich Wolfgang Neskovic mit einer Bürgerinitiative in Cottbus oder streitet mit alten Genossen von der Linkspartei in einer Kneipe in Guben. Er trinkt Tee und redet, bis Diskussionen in Gang kommen, er sieht abends müde aus und freut sich doch über jedes bisschen Feedback, das er spürt. Volksvertreter will er bleiben. Er tritt an als Wahlkreisbewerber ohne Unterstützung einer Partei, ohne die Absicherung einer Landesliste: allein gegen den Politikbetrieb. Gäbe es mehr Unabhängige im Bundestag, sagt er – „wir hätten eine andere Republik“.
Vor vier Jahren hat er den Wahlkreis Cottbus–Spree–Neiße direkt gewonnen, damals noch nominiert auf der Liste der Linken, ohne der Partei anzugehören. Jetzt hofft er, in der Lausitz so angesehen und bekannt zu sein, dass die Leute ihn um seiner selbst willen wählen: Wolfgang Neskovic, unabhängig und parteilos – so steht es auf seinem Flyer.
Nicht viele werden bei der Bundestagswahl als Unabhängige antreten. Wer kandidieren will, braucht 200 Unterschriften von Wahlberechtigten aus seinem Wahlkreis. Neskovic hat sie bei Weitem übertroffen. Am gestrigen Samstag hat der Kreiswahlausschuss seine Kandidatur zugelassen. Wahlkampfkostenerstattung kann er allerdings nicht erwarten. Bei der Bundestagswahl am 22. September muss er 30 000 Stimmen gewinnen, um den Wahlkreis zu holen.
Dazu hat er in erster Linie: sich. Ein schlanker Mann, mittelgroß, mit einer Vorliebe für schwarze Hosen und abstrakt gemusterte Hemden. Rot muss vorkommen, Violett ist möglich. Der Blick freundlich-skeptisch. Die Kondition ist die eines Sportlers. Viele Jahre habe er Fußball im Verein gespielt, erzählt er. Die Spielfreude merkt man ihm noch immer an. Sein Konzept beruht, er sagt es so, auf Ehrlichkeit. Zum Wesen der Politik gehöre die Täuschung, er wolle anders sein.
Ob das naiv ist oder überzeugend, wird sich am Wahltag zeigen. Im „City Treff“ der Grenzstadt Guben sitzen zwei Dutzend Genossen versammelt, auch Mitglieder der Links-Fraktion der Stadtverordnetenversammlung. Der „City Treff“ würde im gastronomischen Angebot von Berlin-Lichtenberg als hip durchgehen mit seinen DDR-Gardinen vor den Fenstern und den Stoffblumen auf dem Tisch. Der Wirt hat die Brille in die Stirn geschoben und zapft das große Radeberger zu 3,20. Das Publikum: kantige, wuchtige Gesichter, eher älter. Bürstenhaarschnitte, Stahlrandbrillen, die Mundwinkel abwärts orientiert, die Blicke grimmig, als wäre man zur Versammlung beordert worden. Ein Mann salzt heftig sein Omelette, eine Frau packt knisternd die mitgebrachte Stulle aus. Neskovic redet seit einer halben Stunde über Staatsfinanzen, Steuersünder, „Selbstbereicherungstendenzen“ in der Gesellschaft. Es ist nicht weit zu den Städten, denen das Geld fehlt. Plötzlich ertönt das Signalhorn einer Lokomotive – das Mobiltelefon eines Zuhörers, der gleich hinausläuft. Ein anderer lässt sich endlich ein auf Neskovics Thesen zu den Steuersündern: „Wo ist denn der Rechtsstaat?“, poltert er, „es stimmt doch nichts in diesem Staat!“ Neskovic hält dagegen: Auf den Rechtsstaat lässt er nichts kommen. Das Recht ordnet seine Welt.
Sein Gegner heißt: Unwahrhaftigkeit
Es wird ein mühsamer Abend. Vielleicht gucken die Leute grimmig, weil sie es eigentlich nicht gut meinen dürfen mit Neskovic, obwohl dessen Groll auf Steuerflüchtlinge und die Vermögensverteilung in Deutschland auch der ihre ist. Aber Neskovic, der frühere Genosse, tritt nicht mehr für, sondern gegen die Linke an.
Seine Begründung für den Alleingang könnte manchen Linken zum Grübeln bringen, vor allem wenn es um die Kohle geht. Neskovic wirft der Linken in Brandenburg vor, eins ihrer Wahlversprechen von 2009 gebrochen zu haben: das Ende der Braunkohleförderung in der Lausitz. Was bedeuten sollte, dass keine Dörfer mehr abgerissen, keine gigantischen neuen Löcher in die Erde gegraben werden. Dass die Linke in Brandenburg heute nicht mehr 27 Prozent in den Umfragen holt, sondern nur noch 21, könnte mit ihrer Energiepolitik zu tun haben. Das Kraftwerk Jänschwalde gehört laut Greenpeace zu den schmutzigsten in Deutschland. Neskovic hat seine Ex-Parteifreunde in Potsdam kräftig dafür kritisiert, dass sie für das Regieren ihre Kohle-Skepsis aufgeben haben.
Und auf seine spezielle Art: mit richterlicher Begriffsschärfe. „Die Linken in Brandenburg haben ihre wichtigsten Wahlversprechen gebrochen“, sagt er. „Die Menschen sind zutiefst unzufrieden über die Unwahrhaftigkeit der Politik.“ Die Brandenburger Linke habe sich den Zwängen der Koalition „fast bedingungslos unterworfen“.
Neskovic sagt, die Linken wollten neue Tagebaue, weil ihr Wirtschaftsminister Ralf Christoffers ein Kohlebefürworter sei. Im Potsdamer Landtag sitzt Stefan Ludwig, Landeschef der Linken und Abgeordneter, und sagt, es gehe nicht um neue Tagebaue, sondern „rechtlich gesehen“ um eine Erweiterung der bestehenden. Diese sei „im Prinzip nicht zu verhindern“. Was zur Folge haben wird, dass mehr als 800 Menschen ihre Dörfer verlassen müssen – und Neskovic mit seiner Kritik in seinem Wahlkreis von den potenziell Heimatvertriebenen bis zu den Umweltschützern alle anspricht.
Durch Spremberg, 700 Jahre alt, hübsche Altstadt, gut 24 000 Einwohner, windet sich die Spree. Die Färbung des Flusses durch Eisen und Sulfat ist von der Bergbau-Nebenwirkung zum teuren Umwelt- und Tourismusproblem für die Landesregierung geworden. Neskovics Treffen mit der Bürgerinitiative „Unser Spremberg“ läuft von allein auf die „Verockerung“ der Spree zu. Ein Dutzend Männer hört zu, wie Neskovic von der Kohle zum zweiten Großthema kommt, der – zu verhindernden – Fusion der Technischen Universität Cottbus mit der Fachhochschule Senftenberg. Gegen die schon vollzogene Zusammenlegung laufen zwei Verfassungsklagen in Karlsruhe und in Potsdam sowie ein Volksbegehren. Neskovic hält von der Sache nichts, weil die neue Hochschule über Jahre mit Strukturstreitereien befasst sein werde und sich nicht auf das konzentrieren könne, was die Lausitz für die Zeit nach der Kohle braucht: Arbeitsplätze schaffen durch die Wissenschaft.
Später ist er dabei, als in Cottbus eine Radtour zu Ende geht, mit der Studenten in Brandenburg für das Volksbegehren geworben haben. „Lassen Sie sich nicht entmutigen!“, ruft er den Studenten auf dem Universitätsvorplatz zu, er ist der einzige Politiker, der gekommen ist.
"Ein Individuum durch und durch."
Das Widerständige ist ihm zur zweiten Natur geworden. Links war er immer, auch als er noch der SPD angehörte. Als Richter handelte er sich Ärger ein, weil er in den frühen 80er Jahren den Nato-Doppelbeschluss kritisierte. Also betrieb er mit anderen die Gründung der – linken – Neuen Richtervereinigung.
Der SPD, der er 15 Jahre angehört hat, entfremdete er sich. Oder sie sich ihm? Ihm missfiel die innenpolitische Entwicklung der Partei, noch in der Opposition, lange vor dem sicherheitspolitisch scharfen „Otto-Katalog“ des Innenministers Schily. Die Zustimmung zum Asylkompromiss, zum „großen Lauschangriff“ – das passte nicht zu Neskovics Werten. Er ging zu den Grünen. Dann kam 1999 deren Zustimmung zum Bundeswehr-Einsatz im Kosovo-Krieg. Aus Protest habe er den Lübecker Kreisverband dazu gebracht, Lübeck zur „Fischer-freien Zone“ zu erklären und den Außenminister zu keinem Wahlkampfauftritt einzuladen.
Das machte Gregor Gysi aufmerksam. Der schlug Neskovic vor, 2005 auf einer Liste der PDS, so hieß sie damals noch, für den Bundestag zu kandidieren. Neskovic verließ die Grünen – als Parteiloser trat er auf der PDS-Liste an, in Ostdeutschland, weil er fand, dass die Wiedervereinigung „ungerecht“ gelaufen sei. 2005 holte er den Wahlkreis Cottbus-Spree-Neiße. „Ein sehr, sehr kluger Kopf“, sagt ein langjähriger Kenner des politischen Betriebs. Doch über Neskovic’ Persönlichkeit sei durch die Wechsel von SPD zu den Grünen zur Liste der Linken „alles“ gesagt: Der Mann sei „ein Individuum durch und durch“. Soll heißen: im Bundestag, in der Parteipolitik nicht zu gebrauchen.
Neskovic sagt: „Ich bin nicht orientierungs- und bindungslos, sondern die Parteien haben sich als orientierungs- und bindungslos gegenüber ihren eigenen Werten erwiesen. So sind mir die Parteien abhanden gekommen.“ Dietmar Bartsch, stellvertretender Fraktionschef der Linken im Bundestag und ehemaliger Fraktionskollege, lobt dessen fachliche Kompetenz und ergänzt, nicht ganz frei von Ironie: „Ich habe nie erlebt, dass er nicht recht hatte.“
Jetzt ist er Einzelkämpfer – mit erstaunlichen Mitstreitern. Einer ist Mitglied der Linken. Hermann Graf von Pückler ist CSU-Mitglied, Waldbesitzer in Südbrandenburg, Mitglied der Stiftung Pückler-Park in Branitz. Er sagt: „Ich unterstütze den sehr sympathischen Wolfgang Neskovic in Bezug auf die Rekultivierungsdefizite in der Lausitz.“ Neskovic sei der einzige Abgeordnete, der sich das auf die Fahnen geschrieben habe. Konkreter will er nicht werden, von Geld mag er nicht reden, schließlich sei er ein alter Parteisoldat, sagt von Pückler noch.
So könnte es funktionieren, hofft Neskovic. Leute, die politisch oder kulturell etwas tun, reden über seine Kandidatur: Der Mann mit den anderen Themen. Der konsequent ist. Der anders ist als der Rest des Betriebs. Er sei „kein klassischer Politiker, sondern ein Richter, der Politik macht“, sagt er. Im August will er Wahlkampf nach der Tupperware-Methode machen: Wer ihn unterstützen will, lädt 20 Freunde und Bekannte ein – Neskovic kommt dazu, um zu diskutieren. Die Begegnungen im Wahlkampf laden ihn auf. Das sind nicht, wie in Berlin, die Berufspolitiker mit ihrem Rollenverhalten nach den Regeln der politischen Bühne. Hier unten in der Lausitz suchen die Leute nach Worten, bevor sie loslegen. Sie gucken vor sich auf den Fußboden statt in eine Kamera. Manchmal merkt man ihnen an, wie der innere Druck wächst, weil sie sich von denen in Potsdam oder in Berlin missachtet fühlen. Da geht Neskovic mit. Dann kommt eine Formulierung mit „Widerstand“ oder „widerstehen“.
Erschienen auf der Reportage-Seite.
Werner van Bebber