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Freut sich auf seine Berlin-Sightseeing-Tour am Mittwoch: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.
© Bernd Weißbrod/dpa

Palmer-Besuch in Berlin: Zum Gruseln

Am Mittwoch kommt Tübingens Oberbürgermeister Palmer nach Berlin, der die Stadt nicht mag. Unser Autor hat für seinen Besuch ein paar Vorschläge. Eine Glosse.

Jeder hat seine eigene Methode, das Gruseln zu lernen. Den einen –wir verweisen auf den detaillierten Bericht der Brüder Grimm – kann so leicht nichts schrecken. Er lässt sich weder von einem als Gespenst verkleideten Küster noch von einigen Toten verstören, die des Nachts über ihm am Galgen baumeln, und schon gar nicht vermögen tatsächliche Spukgestalten ihn das Fürchten zu lehren.

Erst als die ihm angetraute Prinzessin in der Hochzeitsnacht einen Eimer Wasser mit darin zappelnden Fischen über seinen Kopf ausschüttet, hat auch er endlich seine Lektion gelernt und weiß nun, was Gruseln ist. Ein märchenhafter Lernprozess, der in der Regel viel schneller abläuft.

„Mischung aus Kriminalität, Drogenhandel und bitterer Armut“

Einem wie dem grünen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer genügt bekanntlich schon ein Besuch in Berlin. „Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands“, denkt er sich beim Überschreiten der Stadtgrenze – so hat er es jedenfalls im Dezember laut der Funke-Mediengruppe in einem Interview beschrieben, dabei auch über Berlin als „failing state“ mit einer sehr speziellen „Mischung aus Kriminalität, Drogenhandel und bitterer Armut“ gelästert.

Das hat in der „failing“ City einiges Hallo, teils belustigt, teils empört ausgelöst, aber auch Hilfsbereitschaft, Empathie, Mitleid mit dem sich Gruselnden. CDU-Fraktionsvorsitzender Burkard Dregger jedenfalls hat Palmer zu einer Berlin-Tour eingeladen, am Mittwochvormittag will man sich treffen. Erst geht es zur Messe, danach zur Leipziger Straße, Gelegenheit, über die leidigen Fahrverbote zu sprechen. Danach folgt eine Visite im Görlitzer Park, wo mit Anwohnern über die Zeit nach dem Ende der Null-Toleranz-Strategie gesprochen werden soll.

Ohne den BER bleibt jede Sightseeing-Tour unvollständig

So weit, so gut, so lobenswert. Aber sind die Stationen gut gewählt? Ergeben sie ein realistisches Bild? Sind sie geeignet, Palmer in seinem Berlin-Bild zu bestätigen oder zu enttäuschen? Nehmen wir nur die Messe: Wie wird er sie betreten? In einer Limousine zum leeren Parkplatz an der Masurenallee gefahren zu werden, hinterlässt sicher einen komplett anderen Eindruck als ein Spaziergang vom ZOB zum Messeeingang, unterirdisch durch den bei Gruselfilm-Regisseuren ungemein beliebten Fußgängertunnel. Und sollte das ICC, seit 2014 nur mal vorübergehend als Flüchtlingsschlafstätte genutzt, nicht auch zum Programm gehören?

Sodann Leipziger Straße, Görli – na gut, aber ist nicht die Rigaer Straße, jedenfalls in den Augen Palmers, viel typischer für die Stadt? Muss man ihn in seinem Berlin-Bild denn unbedingt enttäuschen? Zumindest U- und S-Bahn sollte man ihm nicht vorenthalten, schon der einfallsreichen Durchsagen wegen, mit denen Fahrgäste über verspätete oder ausfallende Züge hinweggetröstet werden. Der BER? Ohne den bleibt jede Sightseeing-Tour unvollständig.

Eine Spreerundfahrt auf dem soeben von Besetzern freigeräumten Schiff „Freibeuter“, zur Not im Schlepp, sollte nicht fehlen. Den Berlin-Ausflug beschließen könnten ein, zwei Folgen der neuen Sky-Serie „Acht Tage“, soeben auf der Berlinale vorgestellt: Endzeitstimmung in der Hauptstadt, ein riesiger Asteroid rast heran, das letzte bisschen Ordnung zerfällt – Berlin, ein großes Chaos.

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Andreas Conrad

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