„Wir sind der Pickel am Arsch der Gesellschaft“: Zu Besuch im wohl größten Obdachlosencamp Deutschlands
Ein Anwohner bringt Tee, „Hotte“ hört Rockmusik, daneben arbeiten bereits die Bagger: Über 100 Obdachlose haben sich am Rummelsburger See eingerichtet.
Die Bagger haben bereits mit der Arbeit begonnen und ziehen eine große Furche durch die Brachlandschaft am Rummelsburger See in Berlin-Lichtenberg. Daneben ein umzäuntes Gebiet mit Zelten, Hunde tollen herum, Kinder spielen. Weiter hinten das Roma-Lager mit Hütten aus Holz und Pappe, kleine Behausungen, Frauen fegen die Eingänge.
Mit geschätzt rund 100 Bewohnern ist es das wohl größte Obdachlosencamp in Deutschland. An diesem Nachmittag strahlt die Sonne erbarmungslos auf das Camp. Die Bewohner sitzen vor ihren Zelten im Schatten, trinken Bier, hören Rockmusik aus einer Handy-Boombox, sammeln Sachen zusammen, waschen sich, putzen Zähne, streiten sich um eine Wodka-Flasche und darüber, wer diese gestern ausgetrunken hat.
Von der Brücke am Ostkreuz aus neben dem Camp ist die große Leuchtwerbung einer Immobiliengruppe zu sehen: Reklame für das Eigenheim. Für die Menschen, die derzeit auf dem Camp leben, ist „die Bucht“ zu Hause, ihre „Platte" mit Seezugang. Zelt an Zelt, Hütte an Hütte. Dass sie nicht ewig bleiben können, wissen sie. Es ist vermutlich der letzten Sommer. Auf der Brache soll „Coral World“ entstehen, ein Erlebnispark der zahlreiche Touristen ans Ostkreuz locken soll.
Bis Ende März 2020 dürften sie bleiben, habe man ihnen gesagt, erzählen vier Männer vor ihren Zelten. Nicht die gesamte Brachfläche wurde an Investoren verkauft. Der Teil der Brache, auf dem sie leben, gehört der Stadt Berlin und dieser Abschnitt am Paul-und-Paula-Ufer soll nicht geräumt werden, versicherte eine Sprecherin der Senatsverwaltung dem Tagesspiegel.
Trotzdem sind sie da, diese Bagger, jeden Tag, und sie kommen näher, jeden Tag. Zudem will Vattenfall im September mit ersten Arbeiten beginnen und eine Trasse zur Sicherstellung der Fernwärmeversorgung errichten zwischen den Bezirken Mitte und Lichtenberg. Ein Vattenfall-Sprecher sagt: „Die Verlegung der Fernwärmerohre erfolgt in einem Korridor auf dem sich derzeit keine Camper befinden.“
„Wir wollen hier einfach mal unsere Ruhe haben“, ruft „Hotte“. Er ist seit neun Monaten hier, hat Krebs. Wie viel Zeit ihm noch bleibt, weiß Hotte nicht und er will es auch nicht wissen. Er schätze an der Bucht eigentlich, dass die Bewohner hier sicher seien und nicht fürchten müssten, verscheucht zu werden. Das wäre der Fall, wenn sie in den Straßen der Stadt übernachten würden. „Wenn es bebaut wird, dann müssen wir hier weg, das ist klar“, weiß Hotte. „Aber, wenn sie uns vorher räumen, dann geht es hier rund.“
Er macht eine Pause, schaut über die Zelte, trinkt einen Schluck aus der Bierflasche. „Sie halten uns für Idioten“, sagt er dann ruhig. „Und sie behandeln uns auch so. Wir sind der Pickel am Arsch der Gesellschaft. Menschen sollen wir nicht sein, denn um Menschen müsste man sich kümmern.“
Hotte versteht nicht, warum ihnen die Stadt nicht einfach eine der zahlreichen Freiflächen oder leerstehende Gebäude überlässt. „Früher, da waren wir hier ein Vorzeigeprojekt von Karuna.“ Aber die Sozialarbeiter der Stadt haben keinen Auftrag mehr und kommen nur noch vereinzelt zu dem Camp. Sie bemühen sich, nicht den Kontakt zu verlieren. Anfang des Jahres haben sie noch Toiletten aufgebaut, Mülleimer, waren täglich vor Ort. Seit März sind die Toiletten weg.
Peter, Spitzname „Förster“, hat mal zwei Monate in der Bucht gelebt, unterdessen hat er eine Wohngemeinschaft in Erkner gefunden. Er ist oft zu Besuch am Rummelsburger See. Peter kommt aus Oschersleben in Sachsen-Anhalt, hat dort eine Lehre zum Metallbauer gemacht.
2008 ist er zum ersten Mal für eine Demo nach Berlin gekommen, als gerade die letzten Gebäudeteile des Palastes der Republik abgerissen wurden. Er übernachtete in einem Zelt im Park oder auf Bauwagenplätzen. Das sei ganz normal gewesen, ein Hotel konnte er sich ja nicht leisten, erzählt der heute 28-Jährige und begrüßt Hotte.
In Oschersleben habe es Stress gegeben, auch um eine Frau. Er sei zusammengeschlagen worden, auch von der Polizei. „Und ohne Frau und Führerschein in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt? Nein danke.“ Er ging nach Berlin, fand ein Leben in der Punk-Szene, lebte auf der Straße. Im Sommer sei das leicht und schön, meint er. Im Winter werde es hart. Zurück nach Oschersleben will er auf keinen Fall. „In Berlin kannst du immer die richtigen Ecken finden“, sagt er, und fügt an: „Aber auch immer die falschen.“
Neben Peter sitzt Herbert, 57, aus Bayreuth. Gelernter Schweißer, hat 32 Jahre gearbeitet. „Ich war vorher schon Alkoholiker, aber die Tage auf der Montage haben mir den Rest gegeben“, erzählt er mit einem Lachen, das schnell verstummt. Seit 2012 schläft er in Berlin unter Brücken. „Ich bereue keinen Tag auf der Straße.“
Er ist froh, die Bucht-Bewohner kennengelernt zu haben, man helfe sich. Klar gebe es auch mal Streit, man lebe sehr eng beisammen. Manchmal kochen sie zusammen über einem Tonnenfeuer, jemand bringt Essen vom Containern.
„Viele Leute hier leben wesentlich ehrlicher als die, die sich hinter ihren sauberen Mauern verstecken“, sagt Ingo. Er habe Anwohner kennengelernt bei einem Osterfeuer, das sie an der Bucht gemacht hatten. Seitdem darf er seine Wäsche bei ihnen waschen und im Garten aufhängen - manchmal wollen sie ihn überreden, zurück in die „Zivilisation“ zu kommen. Aber die Bucht sei sein Zuhause, sagt er. „Das hier ist meine Familie.“ Man passe aufeinander auf.
Klar gebe es Konflikte - aber in der „Zivilisation“ auch. Und an der Bucht könne er sich sicher sein, dass niemand an das Zelt des anderen gehe. „Es gibt Regeln, auch wenn es nach Chaos aussieht. Es ist ein eigenes System und es funktioniert.“ Dann kommt eine Zeltnachbarin zurück aus der Stadt, ihr Hund ist vor zwei Tagen verstorben - Ingo unterbricht das Gespräch, geht zur ihr, nimmt sie in den Arm.
Ein Anwohner kommt regelmäßig vorbei, bringt Tee oder Kaffee, trinkt auch mal ein Bier mit. Der Bezirk solle wenigstens Toiletten aufstellen, findet er. Andere Nachbarn haben mehr Berührungsängste und stärkere Beschwerden: Über die Lautstärke, über Müll, über Belästigung. Manche sagen, sie würden ihre Kinder ungern am See spielen lassen, das Camp der Obdachlosen müsse endlich weg.
Die Roma-Hütten auf der einen Seite des Geländes und die Zelte der überwiegend deutschsprachigen Obdachlosen auf der anderen, sind nicht nur durch eine sprachliche Grenze getrennt. Trotzdem respektiere man sich, erzählen die Obdachlosen. „Wir haben alle das gleiche Ziel: Überleben.“
Auch Lena Maria Loose ist öfter auf dem Gelände an der Bucht. Sie wird immer freundlich empfangen. Loose studiert an der Ostkreuzschule für Fotografie und arbeitet gerade an ihrer Abschlussarbeit mit dem Titel „BUCHT“. Sie interessiert sich für die zeitlichen und räumlichen Phänomene städtischer Veränderungsprozesse, die man in der Rummelsburger Bucht derzeit beobachten kann.
Die Obdachlosen sind nicht die einzigen, die sich Teile des Geländes zu eigen gemacht haben: Auf einem anderen Teil der Bucht-Brache ist der „Wider-Strand“: eine Wagengruppe hat das Gebiet besetzt und demonstriert gegen die Bebauungspläne. „Investa Real Estate“ habe sie aufgefordert, das Gelände am Montag zu verlassen. Investa wollte sich auf Tagesspiegel-Nachfrage nicht dazu äußern.
Die Pressestelle der Polizei sagte am Freitag, es liegt kein Räumungsgesuch vor und daher seien für Montag auch keine Maßnahmen geplant. Auf der linken Plattform „Indymedia“ ist ein Aufruf zur Solidarität zu lesen, zahlreiche Menschen werden am Montag zur Wagengruppe kommen - sie wollen eine mögliche Räumung verhindern. Auch sie fragen:
Wo werden diese 100 Obdachlosen leben, wenn hier „Coral World" steht? Vermutlich werden sie weiterziehen, sich in der Stadt verteilen. Die Bucht wird sich verändern. Wohnungen werden entstehen, Touristen am Wasser flanieren.
Neben dem Obdachlosencamp befindet sich der Biergarten „Rummels Bucht“, der Vertrag wurde zum Jahresende gekündigt. Hier sollen Gewerbe und Wohnungen hin. „Wer hier wohnt, kann alles haben“, heißt es auf der Website eines Immobilienkonzerns über die Rummelsburger Bucht. Andere, die derzeit hier leben, werden alles verlieren.