Minderjährige Flüchtlinge in Berlin: Wohlfahrtsverbände schlagen Alarm
Allein 2015 flüchteten 4252 Kinder und Jugendliche ganz allein nach Berlin. Die Wohlfahrtsverbände fordern jetzt ein Senatsprogramm für die jungen Menschen.
Sie sind vielfach noch Kinder, allein in der Fremde ohne Eltern, zwar meist immerhin sozialarbeiterisch betreut, aber doch in großer Not. Und so schlagen die Berliner Wohlfahrtsverbände jetzt in ihrem Namen Alarm: Die Stadt und ihre Menschen müssten dringend etwas tun für die Tausenden von Kindern und Jugendlichen, die aus Kriegs- und Krisengebieten völlig allein in diese Stadt geflüchtet sind. Viele müssen von einem Hostel ins nächste ziehen, haben noch keinen in der Praxis aktiven Vormund, der ihnen aber zusteht auch für Asylverfahren und Schulplatzsuche. Viele sind noch nicht registriert, haben nach Monaten noch keinen Unterricht und schlagen entwurzelt die Zeit tot – und obwohl sie hoch motiviert ankamen, schlägt die Stimmung voll Heimweh in der Fremde oft um in Lethargie, Aggression oder Depression. Die Lage bei den Flüchtlingen unter 18 Jahren, für die nicht das Lageso zuständig ist, sondern die Senatsjugendverwaltung, sei zwar weniger öffentlich auffällig, aber genauso schlimm wie beim Lageso, mahnt jetzt etwa die Caritas.
Die Berliner Wohlfahrtsverbände fordern schnellere Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) – denn es werden zunehmend auch Kinder ganz allein geschickt. Die Altersfeststellung müsse beschleunigt und die Plätze in der Kinder- und Jugendhilfe müssten ausgebaut werden. Um die zumeist anfangs hohe Motivation der jugendlichen Flüchtlinge zum Deutscherwerb, Schulabschluss und Ausbildung aktiv zu nutzen, halten die Liga-Verbände ein ressortübergreifendes Integrationskonzept (Jugend, Bildung, Arbeit und Soziales) für nötig. Und für die Unterbringung müsse ein Landes-Investitionsprogramm aufgelegt werden, so die Wohlfahrtsverbände.
Die Jugendlichen werden schlecht versorgt, sagen Wohlfahrtsverbände
Zudem müssten den Kindern und Jugendlichen von Beginn an Vormünder zur Seite gestellt werden, um deren rechtliche Vertretung zu sichern. Ohne Vormund darf kein Unter-18-Jähriger überhaupt Asyl oder anderen Schutz beantragen. „Wir fordern den Senat auf, ein Investitionsprogramm aufzulegen, wie es beim Kita-Ausbau-Programm geschehen ist. Zudem ist ein ressortübergreifendes Integrationskonzept notwendig, das Beschulung und Ausbildungsbefähigung verbindet“, sagt Ulrike Kostka, Caritasdirektorin und Vorsitzende der Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Berlin. Allein 2015 hat die Stadt laut dem Sprecher von Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD), Ilja Koschembar, 4252 unbegleitete Kinder und Jugendliche aufgenommen.
Infolge des Platzabbaus bei den Hilfen zur Erziehung in den vergangenen Jahren könnten die jungen Menschen, die unter besonderem Kinder- und Persönlichkeitsschutz stehen, bislang „nur notdürftig versorgt und betreut“ werden, kritisieren die Wohlfahrtsverbände. Im Moment warten laut Kostka viele Jugendliche monatelang in Notunterkünften, Gästehäusern und Hostels auf den sogenannten Clearingtermin, bei dem etwa die Flucht- und Familiengeschichte versucht wird zu klären, der Gesundheitszustand, das Bildungsniveau. Zudem wird das Alter festgestellt – etliche Jugendliche machen sich jünger, um noch Jugendhilfeleistungen und -unterbringung zu bekommen. Die Altersfeststellung in Zweifelsfällen solle beschleunigt werden, fordert die Liga. Um genügend Fachkräfte gewinnen zu können, müsse eine interkulturell geöffnete Ausbildung angeboten und die Anerkennung von Quereinsteigern und Muttersprachlern erleichtert werden. Zudem sei die Unterstützung und Finanzierung der Fachkräfte durch Dolmetscher sicherzustellen. Die Hilfe und Unterstützung müsse über die Volljährigkeitsgrenze hinaus sichergestellt werden, „da Zuständigkeitsverschiebungen zu Lasten der jungen Menschen gehen“, beklagt die Caritas.
"Das Clearing-Verfahren raubt ihnen ein Jahr ihrer Jugend“
Die angesichts der hohen Zahlen auch extrem geforderte Senatsjugendverwaltung will jetzt durch ambulantes Clearing die teils monatelange Wartezeit auch auf den Einstieg in die Schule entscheidend verkürzen. So ist laut dem Sprecher der Senatsjugendverwaltung, Ilja Koschembar, die Beschulung nun auch schon vor Beginn des Clearings möglich, sobald die notwendige Gesundheitsuntersuchung sowie gebenenfalls nötige Impfungen stattgefunden haben. „In Zusammenarbeit mit der Charité werden im Rahmen einer konzertierten Aktion am letzten Januar- und am ersten Februarwochenende noch nicht umfassend erstuntersuchte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untersucht und geimpft“, rund 1000 junge Menschen. Die Bescheinigung für die Erstuntersuchung sei dann die Grundlage für die Anmeldung bei den regionalen Koordinationsstellen für den Schulbesuch, so Koschembar. 1800 der 4252 Angekommenen warten noch auf ein Clearingverfahren. Caritas-Regionalleiter Rolf Göpel kritisiert: „Die Kinder und Jugendlichen brauchen oftmals eine Behandlung, viele sind traumatisiert oder haben Depressionen. Das Clearing-Verfahren raubt ihnen ein Jahr ihrer Jugend.“
Ein großes Problem ist die Versorgung der minderjährigen Geflüchteten mit Vormündern. Traditionell ist da das Jugendamt Steglitz-Zehlendorf federführend für Berlin zuständig. Der zuständige Leiter im Jugendamt Oliver Gulitz hat schon 2015 immer wieder Stellen bei der Senatsjugendverwaltung beantragt – und diese auch vergleichsweise schnell bekommen. Derzeit sind die Fachleute auf 4,5 Vormundschaftsstellen für die minderjährigen, auf sich allein gestellten Geflüchteten zuständig. Macht pro Amtsvormund aber rund 1000 junge Menschen, jeder einzelne mit enormem Betreuungsbedarf und Bürokratieaufwand. Per Gesetz darf ein offiziell „bestallter Amtsvormund“ aber nur höchstens 50 Mündel haben. Laut Gulitz wurden dem bezirklichen Jugendamt insgesamt acht Stellen „dankenswerterweise schnell“ für Vormundschaften bewilligt, nach und nach werden sie nun besetzt. Doch es sei jetzt auf dem Arbeitsmarkt angesichts der aktuellen Lage nicht leicht, überhaupt noch Verwaltungsangestellte, studierte Sozialarbeiter oder Juristen mit freien Kapazitäten zu finden – anderthalb Stellen können mangels qualifizierten Bewerbern noch nicht besetzt werden.
„Um der Überlastung der hauptamtlichen Vormünder zu begegnen, sollte ein zusätzliches System von ehrenamtlichen Vormündern aufgebaut werden“, appelliert nun Ulrike Kostka von der Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Berlin. Diese Vormünder könnten von den Wohlfahrtsverbänden geschult und begleitet werden, so die Idee. Die Vormundschaften – sie sind ein neues attraktives Themenfeld im Sozialwesen, das jetzt viele freie Träger besetzen wollen. Auch beim Berliner Anwaltsverein warten mehrere hundert Juristen auf Wartelisten.
In Berlin ist da aber bislang das Netzwerk Akinda des Vereins Xenion führend und deutschlandweit vorbildhaft, was schon seit Jahrzehnten Ehrenamtliche für die anspruchsvolle Aufgabe etwa in Asyl- und Aufenthaltsrecht schult und im Alltag betreut. Einige Dutzend Vormunde und Vormundinnen sind gerade neu ausgebildet, ähnlich viele bereits länger aktiv. Akinda vermittelt jene Mündel, bei denen nach dem Clearing schon feststeht, welches Jugendamt für sie zuständig ist. Einige der Ehrenamtlichen wollen aber schon einen Flüchtling betreuen, der schon lange in Berlin lebt, aber noch gar nicht im Clearingverfahren war. Da ist es angesichts der überlasteten Berliner Behörden und des für einen Außenstehenden nicht nachvollziehbaren Verteiler-Quotenschlüssels der Jugendlichen nach dem Clearing auf die Bezirke allein schon schwierig, überhaupt eine Vormundschaft für den Schützling zu begründen. Laut Gesetz steht eine persönliche Einzelvormundschaft immer über der eines Amtsvormundes; jeder Vormund muss sich von einem Rechtspfleger in einem der drei Berliner Familiengerichte „bestallen“ lassen. Aber bis man endlich herausgefunden hat, welche Behörde nun wie zuständig ist, zieht trotz allen Engagements viel Zeit ins Land. Die Liga regt nun ein Landesprogramm in Federführung der Senatsjugendverwaltung zur Werbung, Schulung und Begleitung von ehrenamtlichen Paten, Vormündern und Pflegefamilien an, um nicht eine Generation der erst so hoch motivierten jungen Menschen zu schaffen, die schließlich während der Jahre in der Warteschleife auch eine Zielgruppe für Kriminelle und Vertreter extremer Strömungen sind.
JUNGE FLÜCHTLINGE ALLEIN IN BERLIN
Es gibt viele Gründe dafür, dass Kinder und Jugendliche ganz allein, mit Bekannten oder Verwandten nach Europa geschickt werden. Manche Eltern wollen sie vor dem Tode im Bombenhagel oder vor der Rekrutierung als Kindersoldat schützen oder ihnen eine gute Zukunft ermöglichen. Manchmal legen die Verwandten zusammen, weil die Eltern tot sind. Manche Eltern spekulieren auf Familienzusammenführung, die aber wegen strengerer Gesetze immer schwerer ist. Oft lastet hoher Druck auf den jungen Menschen, weil von ihnen finanzielle Unterstützung erwartet wird. Sie sind jedenfalls alle in der Fremde allein. Berliner Wohlfahrtsverbände fordern jetzt ein Investitionsprogramm zugunsten der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge vom Senat wie beim Kita-Ausbau-Programm, ein schnelleres Clearing, einen aktiven Vormund für jeden und ein ressortübergreifendes Integrationskonzept (Jugend, Bildung, Arbeit und Soziales).
WIE EFFIZIENT HELFEN?
Jeder minderjährige unbegleitete Flüchtling hat das Anrecht auf einen Vormund, der die rechtliche, in Teilen aber auch die elterliche Sorge übernimmt. Die Amtsvormünder im berlinweit federführenden Jugendamt Steglitz-Zehlendorf sind aber angesichts der tausenden Ankünfte überlastet. Es gibt zunehmend Initiativen für ehrenamtliche Vormundschaften. Interessenten werden etwa in Hilfen zur Erziehung und Asyl geschult – für ein Kind oder einen Jugendlichen unter 18 Jahren darf nur ein Vormund den Asylantrag stellen. Es entsteht oft auch ein persönliches Verhältnis. Akinda, das Netzwerk für Einzelvormundschaften in Berlin (Mail: akinda@xenion.org) hat jetzt einige Dutzend Vormünder ausgebildet, hofft angesichts des enormen Bedarfs auf mehr Zuschüsse und hat eine lange Warteliste. Der Tagesspiegel unterstützt mit seiner Spendenaktion den Verein Xenion, die neue Vormundausbildung bei der Caritas (b.romanowski@caritas-berlin.de) und eine Notunterkunft der Malteser für Jugendliche: Spendenaktion Der Tagesspiegel e. V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“, Berliner Sparkasse (BLZ 100 500 00), Konto 250 030 942, Name & Anschrift für den Spendenbeleg notieren. BIC: BELADEBE, IBAN: DE43 1005 0000 0250 0309 42. Beim Berliner Anwaltsverein stehen 800 Juristen in den Startlöchern für eine Vormundschaft. Informationen unter mail@berliner-anwaltsverein.de. Es laufen Pilotprojekte für Pflegeeltern auch für minderjährige Unbegleitete, ein Hindernis sind hier jedoch Residenzpflichtregeln; Kontakt: familien-fuer-kinder.de.