Flüchtlinge in Berlin: Ehepaar nimmt 16-jährigen Iraner als Familienmitglied auf
Auch in den 1990er Jahren waren unter Flüchtlingen viele Kinder und Jugendliche ohne Eltern. Ein Berliner Ehepaar nahm vor 25 Jahren einen 16-jährigen Iraner auf - als Familienmitglied.
Ingrid Buschbaum nimmt das Buch in die Hand, als hielte sie eine kostbare Vase, vorsichtig, mehr mit den Fingerspitzen als mit festem Griff. Das Buch hat das Format eines Fotoalbums, und als Ingrid Buschbaum eine der 78 Seiten aufschlägt, stößt sie auf sorgfältig geschriebene Worte: „Bewegte Wellen spüren den stillen Strand“, Teile eines persischen Sprichworts, einmal auf Deutsch, einmal im Original. Ein paar Worte nur, aber sie stehen für eine ganze Geschichte. Eine Geschichte der Hilfsbereitschaft, der Fürsorge, einer inzwischen intensiven Freundschaft. Es geht auch um Flucht – und die Bedeutung von Familie.
Rund 80.000 Flüchtlinge leben derzeit in Berlin, sie kommen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, aus Eritrea. Allein im vergangenen Jahr kamen rund 4200 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in die Stadt, ohne Eltern, oft ohne Geschwister. Sie leben in Jugendgästehäusern und Hostels, aber auch in besonderen Heimen. Physisch sind diese Kinder und Jugendlichen in Sicherheit, ihre seelische Not aber ist oft nicht vorbei.
Sie haben einen Vormund oft nur auf dem Papier. Betreuer und Behörden sind überfordert. Sie sind in einem Alter, in dem sie eigentlich noch dringend die Unterstützung und Fürsorge einer Familie brauchen. Diese jungen Flüchtlinge benötigen das, was Ingrid und Walter Buschbaum einem jungen Iraner und seinen zwei Brüdern gegeben haben, damals, in den 90er Jahren. Als schon einmal viele Menschen nach Deutschland flohen.
78 Seiten persönliche Erinnerungen
Ingrid und Walter Buschbaum sind inzwischen weit über 70 Jahre alt, sie leben in einer ruhigen Siedlung am Stadtrand von Berlin, mit Vogelgezwitscher, viel Rasen und wuchtigen Bäumen, sie haben nie öffentlich über ihre Geschichte geredet, aber jetzt tun sie es. Sie sehen die Flut der Flüchtlinge, sie sehen ihre Not. Sie erzählen, um zu zeigen, dass man Nächstenliebe mit noch mehr Zuneigung und Dankbarkeit beantworten kann. Aber sie wollen ihre Hilfe in Vordergrund stellen, nicht Personen. Deshalb sind alle Namen Pseudonyme.
Pfingstrosen stehen auf dem Tisch, durchs Fenster fällt Sonnenlicht ins Wohnzimmer, und Ingrid Buschbaum blättert langsam in ihrem Buch. 78 Seiten persönliche Erinnerungen, jedes Foto Symbol für Glücksmomente, jeder Eintrag Zeichen der Sympathie und Dankbarkeit. Monate hat sie an diesem Buch gearbeitet, ein Dokument für ihre Familie und für Amir, seine Brüder und seine Eltern. Das persische Sprichwort hat Amir ins Buch geschrieben. Amir hat vier Jahre lang bei Ingrid und Walter Buschbaum gewohnt, sie haben ihn aufgenommen und wie ein Familienmitglied versorgt.
„Als er einzog“, sagt Ingrid Buschbaum, „haben wir ihn gar nicht richtig gekannt.“ Seinen Bruder kannten sie, sehr gut sogar. Denn irgendwann mal im Jahr 1989 fragte ihr Sohn Marek beim Mittagessen beiläufig, ob er einen Mitschüler am Gymnasium mitbringen könne. Der sei aus dem Iran geflohen, er sei jetzt so allein.
Der Mitschüler war Hamid, er durfte kommen. Hamid war nett, er kochte persisch für die Buschbaums, und er erzählte nach und nach seine dramatische Geschichte. Im Iran sollte er zum Militär eingezogen werden, das fand er grauenhaft und wollte fliehen. Gut, sagten seine Eltern, „aber nur, wenn deine Brüder auch fliehen“. Den Jüngeren drohte ja ebenfalls der Militärdienst. Die drei landeten erst am Bahnhof Zoo, dann in drei verschiedenen Heimen. Während Hamid das Gymnasium besuchte und mit Hilfe der Familie Buschbaum eine eigene Wohnung fand, hauste der 16-jährige Amir in einem Heim, umgeben von Junkies und Alkoholikern. „Das war unterstes Level“, sagt Ingrid Buschbaum. Also sagte sie zu Hamid: „Bring doch auch mal deine Brüder mit.“ So erfuhr Ingrid Buschbaum bald die Einzelheiten von Amirs düsterem Alltag. Sein Bruder Saeed hatte dagegen eine deutsche Freundin, er hatte engen Kontakt zu deren Eltern.
Die Idee zur Integration kam blitzartig
Plötzlich, als sie auf der Stadtautobahn zur Arbeit fuhr, da wusste Ingrid Buschbaum, wie sie Amir aus seiner finsteren Situation befreien konnte. „Mich durchfuhr der Gedanke wie ein Blitz“, sagt sie. Der Gedanke lautete: Wir nehmen Amir auf. Mareks Zimmer ist doch leer, seit er nach dem Abitur ausgezogen ist. Vor allem aber: „Amir wird behandelt wie ein Familienmitglied.“ Kurz darauf hatte sie ihn und seinen ältesten Bruder über die Pläne informiert. „Sie waren begeistert.“
Walter Buschbaum war weniger begeistert. Er hatte einen harten Tag hinter sich, als ihm seine Frau die Neuigkeiten erzählte. Ein Gefühl, als hätte man ihm einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. „Bei mir sind erst mal die Jalousien runtergeklappt.“ Das ging ihm alles zu schnell, außerdem, er wollte doch sein Arbeitszimmer in Mareks Bude einrichten. Aber andererseits: „Meine Frau hatte ja alles schon versprochen, ich konnte nicht mehr zurück.“
Also holten sie Amir zu sich, rund 18 Monate nachdem sie ihn kennengelernt hatten. Ein Risiko, natürlich. Sie wussten eigentlich nicht genug von ihm. Doch sie lernten einen „sehr respektvollen, sehr ruhigen“ Jugendlichen kennen. „Der hat sich Schritt für Schritt vorangetastet“, sagt Ingrid Buschbaum. Das Vertrauen wuchs, und seine Brüder waren als Besucher herzlich willkommen. Es wurde eine innige Beziehung.
Die Bilder im Buch zeigen diese Intensität. Ingrid Buschbaum blättert, dann hat hat sie ein Foto entdeckt. Ein ganz bestimmtes, sie möchte es präsentieren, weil es so schön passt: Sie mit einer Schale, gefüllt mit Blattgemüse, daneben ein Tisch mit weißer Decke, auf dem Kerzenlicht flackert und der mit Knoblauch, Äpfel, Mehlbeeren und Hyazinthen drapiert ist. Obst und Gemüse, mit dem man das persisches Neujahrsfest feiert. „Ich habe es so gut wie möglich gemacht“, sagt Ingrid Buschbaum. Neben ihr strahlt Amir in die Kamera. „Es hat ihm gefallen“, sagt die 74-Jährige. Ingrid Buschbaum kochte für ihn, sie weckte ihn, damit er rechtzeitig zur Schule kam, und er erzählte viel von seiner Heimat, ihrer Kultur, von seiner Familie, von seiner Kindheit.
1994 fuhren die Buschbaum nach Teheran, eingeladen von den Eltern der Brüder. Es war deren Form von Dankbarkeit. Finanziell unterstützen konnten sie ihre Kinder kaum. Sie hatten eine Art Ablösesumme an Irans Regierung bezahlt, nur so konnten die Brüder wieder nach Teheran reisen.
Wunderbare Momente in Teheran
Dort fühlten sich die Buschbaum von der Gastfreundschaft überwältigt. „Man konnte gar nicht so ablehnen, wie einem etwas angeboten wurde“, sagt Ingrid Buschbaum. Durch die Straßen lief Amirs Mutter verhüllt, zu Hause verwandelte sie sich in eine westlich gekleidete Frau. Ingrid Buschbaum sind dabei „fast die Augen rausgefallen“. Sie lernte die Kultur des Iran kennen, ihre Menschen, deren Gedanken. Jetzt sagt sie: „Wir verstehen die Menschen, aber nicht die Politik." Inzwischen hat sich längst der Rhythmus Besuch – Gegenbesuch eingespielt. Die Buschbaums waren mehrfach in Teheran, die Eltern der Brüder im Gegenzug in Berlin, zuletzt vor drei Jahren. 1995 zog Amir aus, er machte eine Ausbildung zum Pathologie-Assistenten. Die Buschbaum bezahlten ihm die Erstausstattung seiner Wohnung. Und sie unterstützen auch Hamid, den Ältesten, finanziell bei seiner Ausbildung zum Dolmetscher in Cambridge. Als er zurückkam, hatte er ein Diplom. Saeed, der dritte Bruder, hielt auch Kontakt zur Familie.
2003 begann Ingrid Buschbaum, das Buch zu gestalten. Sie hatte zu viele Erinnerungen, sie wollte diese Freundschaft dokumentieren. Und so stehen am Anfang Sätze von Amir: „Die Momente gehen vorbei, aber die Erinnerungen bleiben. Es ist nur wichtig, dass wir uns kennengelernt haben. Überlassen wir unsere Freundschaft dem Schicksal.“ Ein paar Seiten weiter strahlt Amir mit seiner sechs Monate alten Tochter in die Kamera. Die Brüder haben längst selber Familie, sie leben und arbeiten in Berlin. Die Buschbaums treffen sie regelmäßig.
Die letzten Worte im Buch hat Ingrid Buschbaum geschrieben: „Sie sind alle drei lebenstüchtige Erwachsene geworden, und ich bin ein wenig stolz darauf, wie auf mein eigenes Kind.“
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