Der Regisseur Christian Petzold zum Mauerfall: Wir wurden als etwas Besonderes gesehen und mochten das nicht
Es gab das utopische Moment. Doch das Neue Forum verschwand, und die Schnäppchenjäger kamen. Über eine Revolution, die im Konkurs mündete. Ein Gastbeitrag.
Christian Petzold ist Regisseur, er stammt aus Nordrhein-Westfalen. Seine Filme „Yella“, „Jerichow“ und „Barbara“ erzählen ost-west-deutsche Geschichten.
Vor kurzem sah ich in einer Ausstellung die Mauerfall-Bilder von Christian Schulz. Die Aufnahmen vom November 1989 und der Zeit danach ähneln sich ja alle, sie zeigen Mauerspechte, offene Grenzen, glückliche Gesichter im Blitzlicht – es war schließlich Nacht. In der Ausstellung hing auch ein Bild von der Kundgebung am 10. November im Schöneberger Rathaus, darauf sind der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper, Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Altkanzler Willy Brandt zu sehen. Brandt ist der einzige, der sich nicht freut. Er schaut eher traurig und besorgt Richtung Kamera.
Auf der Kundgebung war auch Helmut Kohl. Als Bundeskanzler war er so gut wie erledigt, und nun gestattete ihm die Geschichte eine Atempause. Als Kanzler der Einheit blieb er dann bis 1998 im Amt. Genau das sieht man in Willy Brandts Gesicht. Dass die beiden Deutschlands eher konsumistisch zusammenwachsen würden, dass die D-Mark, der Eins-zu-Eins-Umtausch, die Läden, die Autos bald im Vordergrund stehen würden. Am Abend des 9. November sah ich mit Aysun, meiner damaligen Freundin und heutigen Frau (die deutsch-türkische Filmemacherin Aysun Bademsoy / d. Red.) im Fernsehen, wie die Mauer geöffnet wurde.
Meine Eltern kommen aus der DDR, ich rief sie gleich an, sie waren außer sich vor Freude. Aysun und ich machten uns auf zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Es war aufregend, die Menschen kamen uns entgegen, ich war sehr gerührt. Wir gingen dann ganz in der Nähe im Wedding zur Party einer DFFB-Kommilitonin, ich studierte ja an der Film- und Fernsehakademie. Vom Balkon aus schauten wir zu, wie die Ost-Berliner in den Westteil der Stadt strömten.
Wir selber besuchten den Osten erst in der Zeit danach, ein bisschen so, als gingen wir ins Museum. Am 9. November war es umgekehrt: Ganz West-Berlin wurde zur Fußgängerzone, und wir da oben auf dem Balkon wurden neugierig beäugt. Aysun winkte einer Gruppe Jugendlicher zu und rief, sie sollten doch hochkommen. Es war sehr nett mit ihnen, das Partybuffet war sicher anders als Partybuffets in der DDR. Bis einer der Ost-Berliner, sie waren vielleicht 18 oder 19, zu Aysun sagte: Es ist wirklich toll, aber ihr habt ganz schön viele Ausländer hier. Da meinte Aysun: Vielleicht wird es doch nicht so gut mit Deutschland nach dem Mauerfall.
Ganz schön viele Ausländer – der Satz blieb hängen. In dem Moment verdichtete sich die Geschichte, unsere erste Begegnung in der Nacht des 9. November nahm sie vorweg. 30 Jahre später hat sich der Satz bewahrheitet. Wobei der Neonazismus und der Alltagsrassismus gegen die Vietnamesen, Kubaner oder Mosambikaner schon damals in der DDR existierte. Woran das liegt? Der Defa-Regisseur Frank Beyer hat mir einmal erzählt, wie er 1968 in Prag als Dozent arbeitete, es habe dort drei Tage ’68 gegeben. Dann war Schluss. Die Studentenbewegung, der Aufbruch, der in der Bundesrepublik ja schon mit den Frankfurter Auschwitzprozessen begann, hat in der DDR nicht stattgefunden.
„In den Ferien fuhren wir in die DDR“
Die kontaminierte Vergangenheit lag in einem Betonsarkophag begraben, wie in Tschernobyl. Dass ich später mehrere Filme gedreht habe, die in der DDR spielen oder von Ostdeutschen erzählen, „Yella“, „Jerichow“ und „Barbara“ mit Nina Hoss, hat weniger mit dem Mauerfall zu tun als mit dem Wahnsinn der deutschen Teilung. Den habe ich schon als Kind erlebt.
In den Ferien fuhren wir immer zur Verwandtschaft in die DDR, ich war mit meinen Eltern nie in Mallorca oder Frankreich. Nur einmal am Goldstrand in Bulgarien. Wir wohnten im Hotel Nina, und am Strand war ein Stacheldraht gezogen. Wir Westdeutschen hatten Devisen, die DDR-Urlauber hatten Spielgeld, man traf sich zwar, aber sie mussten in anderen Läden einkaufen, in anderen Strandbuden essen gehen.
Unsere sahen schöner aus. Selbst am bulgarischen Strand sah man sofort, wir sind verschieden. Für uns Kinder war das sehr verstörend. Auch die DDR-Besuche waren eher unangenehm. Eigentlich waren meine Brüder und ich die Kings, wenn wir dort zum Spielen auf die Straße gingen. Wir hatten Wrigley‘s Kaugummi und später Walkmen, wir wurden als etwas Besonderes angesehen und mochten das nicht. Die Verwandten nannten unser Auto „das fahrende Wohnzimmer“, es war irgendwie gespenstisch.
Das Filmset sollte die sterbende DDR sein
Nach dem Fall der Mauer wurde es noch gespenstischer. Harun Farocki, mit dem ich später meine Drehbücher zusammen schrieb, hatte Ausschnitte aus der „Tagesschau“ und der „Aktuellen Kamera“ vom Oktober ’89 zusammen montiert, in denen die Leute befragt wurden, wie es nach den Ausreisen von DDR-Bürgern über Ungarn oder Prag weitergehen würde. Im Westen wurden Passanten in der Fußgängerzone befragt, im Osten gingen die TV-Teams in die Fabrik. Die Referenz des Westens ist der Kunde, die des Ostens der Arbeiter. Zwei Erzählungen und Referenzsysteme trafen aufeinander, und die Fußgängerzone hat gewonnen.
Im Herbst 1990 sagte unser Seminarleiter Peter Nestler: Ihr fahrt jetzt alle rüber und filmt die sterbende DDR. Also fuhren wir in Ort wie Eberswalde oder Niederfinow. Thomas Arslan dokumentierte, wie der Mauerstreifen verschwindet, ich filmte in Biesenthal an der Bundesstraße 2, die von Aachen bis Stettin geht. Auf dem Asphalt lagen tote Hunde, die Tiere dort waren so viel Verkehr nicht gewohnt.
Eines Morgens brachen wir schon um 5 Uhr früh mit dem orangefarbenen DFFB-Bus auf, als uns noch in Berlin ein gut gekleideter, sturzbetrunkener Mann anhielt.
„Ich filme diese ganze Scheiße“
Er wollte ins Forum-Hotel am Alexanderplatz. Wir sagten, wir seien kein Taxi, aber er meinte nur, los, ihr kriegt 100 Mark. Er hatte eine kleine Videokamera dabei, kaufte Filetgrundstücke, sondierte das Gelände. „Ich filme diese ganze Scheiße“, sagte er wörtlich, „dieses hässliche Land.“ Ein paar Jahre später hat Heiner Müller in seinem Langgedicht „Mommsens Block“ festgehalten, wie der Historiker Theodor Mommsen den vierten Band seiner „Römischen Geschichte“ nicht zu schreiben vermochte, weil er die Dekadenz und den Untergang nicht beschreiben konnte.
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Heiner Müller hatte dieselbe Blockade: Er konnte den Untergang der DDR nicht beschreiben. Aber der westdeutsche Immobilienhai hatte kein Problem, ihn zu filmen. Unser französischer Kommilitone Bernard Mangiante hat das schnelle Ende des November-Glücks in seinem großartigen Film „Inventur wegen Geschäftsaufgabe“ 1990 festgehalten. Er befragt darin unter anderem die Künstler Gundermann oder Barbara Thalheim. Sie haben alles verloren, ihr Publikum, ihre Sprache, ihre Geschichten. Worüber sollten sie jetzt singen? Sie wussten, dass ihnen lange keiner zuhören würde.
Die schönste Erinnerung: Der Edeka-Laden in Kreuzberg
Die Euphorie des 9. November war vorbei. Politisch, weil das Neue Forum und der Runde Tisch verschwunden waren, aus der Berichterstattung wie aus der Realität. Gesellschaftlich wegen der Fußgängerzone, weil die Schnäppchenjäger und die „blühenden Landschaften“ schnell alles überdeckten. Dann kam die Treuhand. Die friedliche Revolution mündete in eine Niederlage, im Konkurs.
Das utopische Moment gab es trotzdem. Meine schönste Erinnerung ist der Edeka-Laden in Kreuzberg, Reichenberger Ecke Forster Straße. Den hatten Freunde aus der DDR aufgemacht, gleich 1990. Sie waren eigentlich Fußballer, einer spielte beim FC Dynamo, sie hatten eine tiefe Sehnsucht nach vermischtem Leben, vermischten Systemen.
Und tatsächlich versammelte ihr Laden Menschen aus allen Nationen und allen Schichten. Dort bekamen auch die Obdachlosen und Alkoholiker was zu trinken, aber nur, wenn sie den alten Leuten, die nicht mehr auf die Straße konnten, ihre telefonisch bestellten Lebensmittel nach Hause brachten. Es war ein fantastisches System, ein Organismus fernab des Staats, der den sozialistischen Genossenschaftsgedanken in die Tat umsetzte.
Von Walter Benjamin gibt es die Geschichte, dass die Revolutionäre von 1789 auf die Turmuhren geschossen haben, um die Zeit anzuhalten, nachzudenken und einen Plan machen zu können. Auch 1989 hätte jemand auf die Uhren schießen müssen.
Christian Petzold