Reform des Vergabegesetzes: „Wir stehen in Berlin vor einem riesigen Investitionsstau“
Berlins Wirtschaftskammern und die meisten Innungen lehnen den Entwurf für das neue Vergabegesetz ab. Und gewähren einen Blick in die Abgründe der Bürokratie.
Manchmal 50 bis 60 Seiten Formulare, Belege und andere Dokumente ausfüllen und zusammenstellen, viele Stunden Bürozeit - für Ungeübte auch mal eine ganze Woche: Alles für einen Auftrag mit einem Volumen für 10.000 bis 20.000 Euro? "Welcher Handwerksbetrieb mit einem Meister und drei bis vier Gesellen soll diesen Aufwand betreiben?", fragt Christian Hanke, Geschäftsführer Wehner-Tischlerei aus Berlin-Britz und Vorstand der Tischlerinnung Berlin.
Bei einer Pressekonferenz am Freitag bei der Berliner IHK in Charlottenburg berichtet er gemeinsam mit den Unternehmern aus dem IT-Sektor, dem Sicherheitsgewerbe und den Kammern für Industrie und Handwerk (IHK und HWK), warum sich die überwiegende Mehrheit der Mitgliedunternehmen mittlerweile nicht mehr um Aufträge des Landes Berlin bewirbt.
Eine Folge dieses Frusts der Wirtschaftsvertreter: Behörden des Landes Berlin haben zunehmend große Probleme, wichtige Projekte umzusetzen. Diese Woche machte das Beispiel der im ersten Anlauf gescheiterten Vergabe zum Bau von 27 Kitas mit insgesamt 3300 Plätzen Schlagzeilen. Am Ende griff kein interessiertes Unternehmen zu. "Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs", meint Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der IHK. „Wir stehen in Berlin vor einem riesigen Investitionsstau: Die Mittel sind da, kommen aber nicht auf die Straße."
Der Senat arbeitet, wie im Koalitionsvertrag von 2016 angekündigt, derzeit an seiner Novelle des Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetzes (BerlAVG, hier die aktuell gültige Fassung). Das erklärte Ziel ist nicht nur eine Entbürokratisierung des Prozesses und eine bessere Kontrolle, um Unternehmen auszuschießen, die beim Antrag schummeln. Das alles wünschen die Wirtschaftsvertreter ausdrücklich.
Zum Entwurf, der derzeit zur Stellungnahem bei den Verbänden liegt, gehören aber auch soziale Kriterien wie etwa die Anhebung der Mindestentgelts, das Unternehmen ihren Mitarbeitern zahlen müssen, wollen sie den Auftrag erhalten. 11,30 Euro pro Stunde sieht das Papier der Senatsverwaltung für Wirtschaft vor. "Durch das Ankoppeln an den Tarifvertrag der Länder beenden wir den ständigen Druck, Arbeit auszulagern und das Ausbluten des Öffentlichen Dienstes durch Dumpinglöhne", heißt es in einer schriftlichen Begründung des Hauses von Ramona Pop (Grüne).
Doch weniger die Höhe von 11,30 Euro scheint das Problem zu sein - die Unternehmen der meisten Branchen zahlen eh mehr - sondern die Differenz zu dem bestehenden Gesetz in Brandenburg. Das Nachbarland fordert bei Ausschreibungen nur 10,50 Euro Mindestlohn. Viele Unternehmen arbeiten auf beiden Seiten der Landesgrenze und entsenden mitunter auch (gering bezahlte) Helfer an die Baustellen.
"Das sorgt für Chaos und Ungerechtigkeit im Unternehmen und ist in der Praxis völlig inakzeptabel. Da macht keine Lohnbuchhaltung und kein Steuerbüro mit", sagt Tischlermeister Hanke voraus. Unabhängig von einem tatsächlichen Auftrag führe allein das Festlegen eines zweiten Mindestlohns dazu, dass das mit der Gewerkschaft ausgehandelte Tarifgefüge von außen zerstört werde und die Löhne von ausgebildeten Fachkräften entwertet würden. "Das geht wirklich zu weit".
Antragssystem ist kaum digitalisiert
André Richter, Chef der Queo Berlin GmbH, einer Digitalagentur, bemängelt, dass schon das Verfahren an sich kaum innovativ ist. Mitunter muss er Anträge zweifach ausdrucken und in Kisten zur Behörde tragen. Um eine funktionierende Internetplattform zu entwickeln, auf der Antragsteller ein Profil ihre wichtigsten Unterlagen auch schon für weitere Ausschreibungen hinterlegen können, würde einen "niedrigen siebenstelligen Bereich" (also zwischen einer und fünf Millionen Euro) kosten, schätzt er.
Vergabestellen anderer Bundesländer hätten solche anwenderfreundlichen Plattformen bereits. „Das Land Berlin sollte seine Vergabepraxis dafür nutzen, selbst vom digitalen Fortschritt, von innovativen Produkten und Servicelösungen zu profitieren. Das gelingt nur, wenn die Verantwortlichen endlich aktiv Innovationen nachfragen und den Dialog mit der Wirtschaft suchen", meint Richter.
Christian Rücker, Manager der Sicherheitsdienstleister Ardor und Global Protect im Stadtteil Grünau, beklagt auch, das ausschreibende Behördenvertreter oft keine sogenannten Nebenangebote zulassen, sondern einfach den Antrag von vor vier Jahren neu ausschreiben - oft aus Bequemlichkeit, wie er vermutet. Ein Beispiel: Ein Immobilie solle mit sechs Personen geschützt werden - wie eh und je. "Dabei hat sich die Technik weiterentwickelt. Womöglich kann man den Auftrag mit drei oder vier Personen plus Kameratechnik erfüllen - und vielleicht sogar günstiger. Aber so ein Angebot darf man gar nicht einreichen", klagt Rücker.
Zudem müsse er - lange bevor der Auftrag ausgeführt werden soll - schon genau die Personen benennen, die später das Objekt schützen. Dabei herrsche in seiner Branche mit 500 Sicherheitsunternehmen in Berlin extrem großer Wettbewerb und rund 30 Prozent Fluktuation des Personals pro Jahr. Und am Ende entscheide meist nur der Preis, nicht die Qualifikation der Mitarbeiter.
Soziale und ökologische Kriterien schrecken Bieter ab
Auch vergabefremde Kriterien wie ökologische Nachhaltigkeit oder eine Frauenquote würden zunehmend in Ausschreibungstexte geschrieben, beobachtet IHK-Chef Jan Eder. Jedes dieser Ziele für sich genommen, sei ja politisch durchaus unterstützendwert, würde dem Land die Suche aber sehr erschweren. "In Zeiten schlechter Konjunktur, kommt der Staat vielleicht damit durch, derzeit aber nicht", so Eder.
72 Prozent der Berliner Unternehmen hätten in einer eigens erstellten IHK-Umfrage angegeben, sich nicht an öffentlichen Ausschreibungen zu beteiligen. 55 Prozent davon nannten "zu hohen Aufwand" als wichtigsten Grund. Auf den Plätzen folgten "unklare Bewertungskriterien", "zu niedrige Preisspanne" und "Dauer des Vergabeverfahrens".
Die Wirtschaftsvertreter berichteten, dass die Mitarbeiter in der Senatsverwaltung so wie die meisten Berliner Wirtschaftspolitiker im Abgeordnetenhaus sehr wohl die Argumente verstehen würden. Eder und Handwerkskammer-Chef Jürgen Wittke berichten vor "sehr konstruktiven" Gesprächen. Doch in anderen Kreisen des Abgeordnetenhauses und des Senats sei das Verständnis für diese Zusammenhänge "stark unterentwickelt", wie Eder sagt.
„Der derzeitige Entwurf eines neuen Vergabegesetzes in Berlin ist völlig untauglich, um das Vergabeprozedere zu entschlacken und in der jetzigen konjunkturellen Hochphase Unternehmen für öffentliche Ausschreibungen zu gewinnen", schreibt Christian Gräff, wirtschaftspolitischer Sprecher der oppositionellen CDU-Fraktion Berlin in einer am Freitag veröffentlichen Erklärung. Der Entwurf aus dem Hause von Wirtschaftssenatorin Ramona Pop baue weitere "absurde bürokratische Hürden" ein, "die niemand in der Verwaltung kontrollieren kann und wird". Damit werde die Vergabe für die Mitarbeiter des Landes Berlin noch komplizierter und rechtsunsicherer.
Die Koalition solle sich dem von der CDU-Fraktion Anfang diesen Jahres vorgelegten Gesetzesvorschlag zum Berliner Mittelstands- und Vergabegesetz anschließen, fordert Gräff weiter. Verfahren könnten entbürokratisiert und beschleunigt werden. "Hiermit können vor allem mehr regionale und mittelständische Firmen dazu gebracht werden, sich für Bauvorhaben in unserer Stadt zu bewerben".
Kleinste Details aus Gräffs Antrag finden sich bereits im Gesetzentwurf wieder. Realistischerweise wird er aber nicht komplett übernommen. Gleichwohl hat die Senatsverwaltung noch die Chance, das Papier umzuschreiben bevor er als Senatsvorlage verabschiedet, und dem Abgeordnetenhaus vorgelegt wird. In der aktuellen Form dürften weiter die meisten Unternehmen sagen: So machen wir fürs Land Berlin nicht den Buckel krumm.