Daniel Barenboim über Freiheit: "Wir müssen Freiheit verantwortungsvoll leben"
Freiheit ist kein Privileg, sie ist ein Grundrecht aller Menschen. Wir können sie nur gemeinsam gestalten. Ein Gastbeitrag zu 70 Jahren Tagesspiegel.
„Freiheit bedeutet Verantwortung. Darum fürchten die meisten Menschen sie.“ Dies schrieb George Bernhard Shaw und trifft damit den Kern eines politischen und sozialen Diskurses, der heute wie eh und je von größter Bedeutung für unsere Gesellschaft ist. Freiheit und ihre Formen sind vielleicht die wichtigste Basis unserer Gesellschaft, und der Diskurs über die Freiheit ist besonders relevant, wenn es darum geht, einer großen deutschen Tageszeitung zum 70. Geburtstag zu gratulieren. Schließlich gibt es gerade in Deutschlands Geschichte der letzten hundert Jahre unzählige Beispiele von gravierenden Einschnitten in die gesellschaftliche und journalistische Freiheit.
Wie die Medien einer Gesellschaft agieren, ist immer auch Ausdruck dessen, wie die Gesellschaft als solche funktioniert, besonders im verantwortlichen Umgang mit der Freiheit. George Bernhard Shaw war freilich nicht der Einzige, der die Meinung vertrat, dass Freiheit und Verantwortung nicht zu trennen sind. Auch Ludwig van Beethoven, ein hochpolitischer Mensch, beschäftigte sich Zeit seines Lebens und Wirkens mit Fragen moralischen Verhaltens und dessen, was richtig und was falsch für eine Gesellschaft ist.
Die Verantwortung des Individuums
Seine Sicht auf Freiheit ist hier besonders prägnant, denn er verband Freiheit immer sowohl mit den Rechten als auch den Pflichten oder der Verantwortung des Individuums. Beethoven kämpfte auch insbesondere für die Freiheit der Gedanken und der Meinungsäußerung.
Er wäre wohl kaum glücklich mit der heute so weit verbreiteten Ansicht, dass Freiheit vor allem wirtschaftliche Freiheit meint, eine Freiheit, die wichtig ist für die Dynamiken der Marktwirtschaft. Diese wirtschaftliche Definition von Freiheit kann zum Beispiel in einem Dokument gefunden werden, das der ehemalige US-Präsident George W. Bush am 17. September 2002 veröffentlichte und in dem er das Verhältnis der USA zum Rest der Welt definierte.
Freiheit muss über Wirtschaft hinaus gehen
In diesem Dokument, der „National Security Strategy of the United States of America“, schreibt er, das Ziel der USA müsse sein, „die Vorzüge der Freiheit überall auf der Welt auszubreiten… Wenn Du etwas herstellst, das andere wertschätzen, musst Du die Möglichkeit haben, es ihnen zu verkaufen. Wenn andere etwas herstellen, was Du wertschätzt, so musst Du es kaufen können. Das ist wahre Freiheit, die Freiheit des Einzelnen oder einer Nation, seinen oder ihren Lebensunterhalt zu bestreiten“. Seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, ist sicherlich ein wesentlicher Baustein menschlicher Freiheit.
Denn: Wer arm und somit abhängig vom Sozialstaat oder der Wohltätigkeit anderer Menschen ist, der ist sicherlich auch ein Stück weit unfrei. Dennoch muss die Bedeutung von Freiheit über diese rein wirtschaftliche Definition hinausgehen, ist das Streben nach und das Leben in Freiheit doch in vielerlei Hinsicht die Quintessenz unserer Menschlichkeit.
Keine Garantie für Wohlstand
Dies wird aktuell kaum deutlicher als im Zusammenhang mit der derzeitigen Flüchtlingskatastrophe und unserem Umgang damit. Die Menschen, die zu Hunderttausenden nach Europa strömen, flüchten vor Krieg, Unterdrückung und Armut, also allesamt Faktoren, die ihre persönliche Freiheit einschränken, um in Europa in Frieden und Freiheit ein besseres Leben zu führen. Es gibt viele Menschen in Europa, die die Geflüchteten empathisch willkommen heißen und sich für sie und ihre Integration in die europäische Gesellschaft einsetzen.
Sie zeigen dadurch Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit und haben vielleicht auch nicht vergessen, dass erst vor einigen Jahrzehnten große Teile der europäischen Bevölkerung auf der Flucht waren – und dass es keine Garantie für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand gibt. Es gibt aber auch diejenigen, die sich – aus Angst vor dem Unbekannten oder vielleicht auch aus Ignoranz – den ankommenden Flüchtlingen hasserfüllt entgegenstellen. Diese Menschen berufen sich dabei oftmals auf ihr Recht, ihre Meinung frei äußern zu dürfen.
Eine Gefahr für unsere Freiheit
In der Tat ist die freie Meinungsäußerung eine der essenziellsten Grundlagen einer (demokratischen) Gesellschaft, eine Grundvoraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt und für die Entwicklung des Individuums. Aber die rassistischen und menschenverachtenden Aussprüche mancher Bürgerinnen und Bürger – ganz zu schweigen von ihren Taten – sind kein Ausdruck eines lapidar wahrgenommenen Rechts freier Meinungsäußerung, sondern sie sind Volksverhetzung und stellen somit eine Gefahr für unser aller Freiheit dar.
Denn hier zeigt sich deutlich, dass unsere hart gewonnene Freiheit nur mit Verantwortung funktionieren kann. Freiheit ist kein Privileg, sondern ein Grundrecht aller Menschen. Wenn also Freiheit auch immer die Freiheit des Andersdenkenden bedeutet, so kann das gemeinsame, freie Miteinander nur funktionieren, wenn wir alle mit unserer Freiheit gleichsam verantwortungsvoll umgehen.
Daniel Barenboim