Berlins Zwanziger Jahre: Wieder kein Meistertitel für Hertha BSC
Trotz Erfolgskurs hatte Hertha gegen Nürnberg keine Chance. Ein Spielbericht aus dem Grunewaldstadion vom Montag, dem 13. Juni 1927.
Anlässlich des Serienstarts von "Babylon Berlin" am 13. Oktober haben wir ein Gedankenexperiment gewagt und Artikel aus der damaligen Sicht verfasst. Dabei fiel uns auf: Viele Themen - Wohnungsnot, Ärger um den Flughafen, wilde Partynächte - stehen damals wie heute für Berlin.
Und jetzt? Hanne Sobek verharrte auf dem Platz, obwohl doch das Spiel längst vorbei war. Sein weißes Leibchen war nass, getränkt von Schweiß und dem Regen, der seit Stunden über Berlin niedergeht. Neben Sobek, dem größten Fußballspieler, den dies Stadt je hatte, feiern die Kameraden aus Nürnberg. Sie haben gerade die deutsche Meisterschaft gewonnen, mit einem 2:0-Sieg im Endspiel über Hertha BSC, den von Hanne Sobek angeführten Herausforderer. Und das, obwohl die Berliner sozusagen ein Heimspiel hatten.
Die 50 000 Zuschauer im Grunewaldstadion waren in ihrer überwiegenden Mehrheit auf Herthas Seite. Sie hatten sich für das Endspiel einen eigenen Schlachtruf ausgedacht: „Ha, ho, he! Hertha BSC“, brüllten die besonders lauten Zuschauer, die in England übrigens „Fans“ genannt werden. Das kommt vom Adjektiv „fanatic“ und traf ganz gut die Gemütslage der Schreihälse auf den Tribünen.
"Hi, ha, ho, Hertha ist k.o."
Allein, alles Gebrüll half nichts an diesem denkwürdigen gestrigen Tag. Der Nürnberger Club spielte den besseren Fußball, und darauf kommt es auch in diesen lauter werdenden Zeiten im Stadion an. Hanne Sobek war jedenfalls zum Schluss ganz leise. „Dann eben das nächste Mal“, sagte der Berliner Nationalspieler. So ungefähr hat er das schon im vergangenen Jahr formuliert, damals im Stadtforst zu Frankfurt am Main. Vor einem Jahr verlor Hertha BSC das Endspiel 1:4 gegen die Nürnberger Nachbarn aus Fürth. Wird es ein nächstes Mal geben, wie Hanne Sobek in Aussicht stellte? Noch nie in der jetzt zwanzig Jahre währenden Geschichte der Meisterschaft hat es ein Verein geschafft, dreimal hintereinander das Endspiel zu erreichen. Das ist doch mal eine Herausforderung, Hertha!
Gestern war Nürnberg von Anfang an besser. Der Dauerregen verwandelte den Rasen des Grunewaldstadions schnell in eine Schlammwüste, auf dem die Herthaner nie ihr technisch anspruchsvolles Spiel aufziehen konnten. Auch Sobek war eine Enttäuschung. Immer wieder ließ er sich vom massigen Dr. Hans Kalb den Ball abnehmen. Der Nürnberger Zahnarzt schleppte bestimmt zehn Kilogramm Übergewicht über den Platz. Aber das zusätzliche Gewicht vermochte er famos in Schussenergie umzuwandeln. Als Herthas Mittelläufer Karl Tewes nach ein paar Minuten Ludwig Wieder unfair anging, verhängte Schiedsrichter Willi Guyenz aus Essen zu Recht einen Freistoß. Dr. Kalb wuchtete den Ball mit urwüchsiger Kraft ins Tor.
Dieses 1:0 traf Hertha schwer. Ein paar hundert ungezogene Zuschauer schwenkten schnell und opportunistisch in das Nürnberger Lager um. Sie riefen „Schuss, Tor, hinein“, „Hanne ist Flasche“ und „Hi, ha, ho, Hertha ist k. o.“, was wohl als lustige Replik auf den neuen Berliner Schlachtruf gemeint war.
Das Stadion - zugig und nicht mehr zeitgemäß
Es herrschte eine seltsame Stimmung im Regen des früheren Deutschen Stadions, das ja ursprünglich für die wegen des Krieges ausgefallenen Olympischen Spiele von 1916 geplant war. So laut es auf den Tribünen auch zuging – unten kam wenig davon an, weil sich zwischen dem Spielfeld und den Zuschauern zwei störende Elemente aufbauten: die Aschenbahn für die Läufer und die Betonpiste für die Radfahrer. Hertha hat noch nie gern in diesem Stadion gespielt. Es fehlt der enge Kontakt zum Publikum, wie er auf dem neuen Hertha-Platz am Bahnhof Gesundbrunnen möglich ist. Wer mal auf der steilen Stehplatztribüne mit dem schönen Namen Zauberberg stand, der sehnt sich nicht gerade nach der zugigen Kurve in einem nicht mehr zeitgemäßen olympischen Stadion.
Auch die Nürnberger waren nicht gern in den Grunewald gekommen. Sie hätten viel lieber im Süden gespielt und hatten München als Ausrichter des Endspiels angeregt. Das aber war, bei allem Respekt vor der liebenswerten bayerischen Kapitale, ein besserer Witz. Immerhin ging es um Fußball, und in diesem Sport haben sich die Münchner noch nie hervorgetan. In den zwanzig Jahren der Meisterschaftsgeschichte hat es nur einmal eine Münchner Mannschaft, der TSV 1860, bis in die Vorschlussrunde geschafft. Nein, München ist einfach keine Fußballstadt, deswegen war das Nürnberger Ansinnen von Beginn an aussichtslos.
Zehn Nürnberger schlagen Hertha
Auf dem Rasen traten die Franken sehr viel überzeugender auf. Zwar bemühte sich Hertha in der zweiten Halbzeit ein bisschen mehr. Aber auch das nächste Tor schoss Nürnberg. Diesmal traf Heiner Träg mit einem schönen Schrägschuss. Nürnbergs Torhüter, der famose Nationalspieler Heiner Stuhlfauth, geriet nur einmal in Gefahr. Es war noch eine Viertelstunde zu spielen, als Hanne Sobek endlich einmal die von ihm gewohnte Spielkunst zeigte. Im Strafraum trat ihn der Verteidiger Luitpold Popp um. Strafstoß! In dieser Disziplin ist Herthas Emil Domscheid ein Meister, aber im gestrigen Endspiel wollte einfach nichts gelingen. Stuhlfauth boxte den schwach geschossenen Ball ins Feld zurück.
Hertha gab sich geschlagen und konnte auch nicht davon profitieren, dass Heiner Träg nach einem bösen Tritt gegen Otto Leuschner von Schiedsrichter Guyenz aufgefordert wurde, den Platz zu verlassen. Zehn Nürnberger hatten keine Mühe, das Ergebnis zu verteidigen. Ja, der Club ist ein würdiger Meister, aber er wird ja auch im Alltag der Süddeutschen Meisterschaft mehr gefordert als Hertha in Berlin. Der hiesige Vizemeister, Kickers 1900 aus Schöneberg, war im Viertelfinale der deutschen Meisterschaft 0:9 gegen Fürth untergegangen. Das sagt genug über das Niveau der Berliner Meisterschaft.
Hertha BSC würde sicherlich davon profitieren, wenn sich der Deutsche Fußball-Bund endlich dazu entschließt, einen reichsweiten Ligabetrieb aufzuziehen, mit den besten Klubs aus ganz Deutschland. Eine solche Spielklasse, man könnte sie Bundes- oder Reichsliga nennen, würde die Klubs Woche für Woche zu Höchstleistungen fordern und nicht nur einmal im Jahr. In diesem Fall könnte Hanne Sobek mit ein bisschen mehr Überzeugung in der Stimme sagen: „Dann eben das nächste Mal!“
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