Robert-Koch-Institut startet Studie in Berlin: Wie viele Menschen haben sich tatsächlich mit Corona angesteckt?
In Berlin-Mitte testet das RKI rund 2000 Menschen auf Antikörper um herauszufinden, wie viele Menschen schon mit Covid-19 infiziert waren. Ein Besuch.
Berlin-Mitte ist dynamisch. Zumindest was die Verbreitung des Coronavirus anbetrifft. Er gehört zu den Berliner Bezirken, in denen die Rate der Neuinfektionen am höchsten ist. Zeitweise war Mitte traurige Spitze im bundesweiten Vergleich. Darum ist der Bezirk der erste großstädtische Raum, der Teil der Antikörper-Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) ist.
Und nun stehen Menschen von früh am Morgen bis spät abends an zwei Teststellen vor einem Bus und warten darauf, dass man ihnen eine Nadel in den Arm steckt. Denn sie liegt im Blut – die Antwort auf die Frage, die das RKI mit der Untersuchung „Corona-Monitoring lokal“ beantworten will: Wie viele Menschen haben sich tatsächlich mit dem Coronavirus angesteckt? Nicht alle Fälle tauchen in den offiziellen Statistiken auf. Die Krankheit kann auch völlig symptomlos verlaufen.
8000 Berliner im Bezirk Mitte haben in den vergangenen zwei Wochen Post vom RKI bekommen. Sie wurden zufällig aus dem Melderegister ausgewählt und eingeladen. Nur 20 Minuten dauere es, heißt es im Infoschreiben. Den Termin kann man online ausmachen, die Zeitfenster reichen von 7 Uhr früh bis 8 Uhr abends. Es gibt zwei Studienzentren zur Auswahl: eins in Moabit und eins in Wedding.
Wo genau sie sind, soll nicht veröffentlicht werden, bittet Jörn Schaarschmidt, Sprecher der Studie. Man befürchte, dass Menschen dorthin kommen, die nicht als Probanden ausgewählt wurden.
An der Teststelle in Wedding angekommen geht tatsächlich alles sehr schnell. Man muss die Einladung und einen Ausweis vorlegen, eine Mitarbeiterin geht Schritt für Schritt die Einverständniserklärung durch. Blutabnahme? Ja. Rachenabstrich? Ja. Datenspeicherung? Ja.
Das Ergebnis dauert bis zu vier Wochen
Danach geht es zu dem umgebauten Bus. Zwei davon stehen an jeder Teststelle. In einem befindet sich ein Labor, im anderen wird das Blut abgenommen und der Abstrich gemacht. Nach einem kurzen Pieks und einem unangenehmen Drücken im Rachen ist alles in Minuten vorbei.
„Trinken sie einen Schluck Wasser, dann geht das Gefühl im Hals weg“, sagt die Frau in Schutzkleidung. Sie hat recht. Das Ergebnis soll innerhalb von vier Wochen vorliegen, ergibt der Rachenabstrich, mit dem auf eine aktive Corona-Erkrankung getestet wird, ein positives Ergebnis, werden die Studienteilnehmer umgehend informiert.
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Mitte ist weder der größte, noch der bevölkerungsreichste Bezirk der Stadt – und derzeit auch nicht der am stärksten von der Pandemie betroffene. Warum also Mitte? Warum nicht Neukölln? Der Bezirk hat seit Wochen die höchste Inzidenz in der Stadt – das sind die Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen.
Inzwischen hat auch Friedrichshain-Kreuzberg Mitte überholt. „Wir haben Ende September die Planungen für unseren vierten Studienort abgeschlossen. Berlin-Mitte war zu diesem Zeitpunkt mit rund 55 Fällen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen der Bezirk mit der höchsten Fallzahl pro Einwohner“, sagt Studienleiterin Claudia Santos-Hövener. Inzwischen liegt der Wert bei mehr als 300.
Es würde jedoch keinen großen Unterschied machen, wenn Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg ausgewählt worden wären, sagt Santos-Hövener, denn sie haben alle in etwa dieselbe Struktur: „Alle drei Bezirke sind sehr urban, haben eine hohe Bevölkerungsdichte, eine verhältnismäßig junge Bevölkerung und eine große soziale Vielfalt.“
Diffuses Infektionsgeschehen in Berlin
Im Vergleich zu den anderen drei Teilnehmer-Orten der Studie, Kupferzell (Baden-Württemberg), Bad Feilnbach und Straubing (beide Bayern), habe man es in Berlin-Mitte mit einem diffusen und laufenden Infektionsgeschehen zu tun, sagt Santos-Hövener. In anderen Fällen seien Ausbrüche im Frühjahr auf bestimmte Veranstaltungen zurückzuführen gewesen. Im viel diverseren Mitte gehe es nun auch um Faktoren wie die soziale Lage der Betroffenen sowie die Wohn- und Arbeitssituation.
Um diese Daten zu erheben, sollen die Teilnehmer noch einen Fragebogen ausfüllen. Das RKI will Daten zum Gesundheitszustand: Rauchen Sie? Hatten Sie bereits Corona? Haben Sie Diabetes? Aber auch zum privaten Verhalten: Waren Sie im Ausland? Wie genau halten Sie sich an die Corona-Regeln? Mit wem haben Sie Kontakt? Und zum sozialen Status: Arbeiten Sie? Welchen Bildungsabschluss haben Sie?
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So soll ein realistischeres Bild des Infektionsgeschehens entstehen. Die Forscher wollen wissen, wie viele Fälle es tatsächlich gab, wie viele Menschen bereits Antikörper gebildet haben, welche Personen häufiger von einer Covid-19-Erkrankung betroffen sind und wie oft die Infektion im Krankenhaus und auf der Intensivstation behandelt werden muss.
Teilnahmequote in Großstädten geringer
Bisher hätten sich mehr als 1700 Menschen bereit erklärt mitzumachen, sagt Sprecher Schaarschmidt. Das Ziel sind 2000. Er ist optimistisch, dass diese Zahl bis zum Ende der Studie am 5. Dezember erreicht wird. „Wir hatten befürchtet, dass es in Berlin-Mitte schwieriger werden könnte, Teilnehmende zu gewinnen“, sagt er. Das liegt jedoch nicht an Mitte oder Berlin, sondern daran, dass die Teilnahmequote in Großstädten generell geringer sei, als in kleineren Gemeinden.
In Kupferzell mit nur etwas mehr als 6000 Einwohnern hätten 63 Prozent der Angefragten mitgemacht. In Bad Feilnbach (etwas mehr als 7400 Einwohner) 59 Prozent und in und Straubing (fast 48.000 Einwohner) 30 Prozent. Das liege daran, dass in kleineren Orten die Betroffenheit bei einem Corona-Ausbruch oft größer ist.
„In kleinen Gemeinden, wo jeder jeden kennt, kann es sein, dass sich die Menschen betroffener fühlen, weil in ihrem Umkreis jemand Corona hatte“, sagt Schaarschmidt. Außerdem könne der soziale Druck mitzumachen stärker sein. Und: „Wenn der Nachbar sagt, das ist gar nicht schlimm, dann gehe ich vielleicht auch eher hin“. Für Kupferzell liegen bereits Ergebnisse vor, hier hatten vier Mal mehr Menschen das Coronavirus als zuvor bekannt. In Bad Feilnbach waren es 2,6 Mal mehr. Für Mitte rechnet das RKI mit ersten Daten im Januar oder Februar.