Die Sekunden vor dem Crash: Wie mit moderner Technik Unfälle aufgeklärt werden
Die Bordelektronik neuerer Autos kann Erstaunliches verraten. Das verhilft Opfern zu Gerechtigkeit und verändert die Arbeit der Ermittler.
Der Blick in die Zukunft ist brutal. Andreas Winkelmann hat ihn selbst noch nicht oft so klar gesehen wie in diesem Fall: Ein Tesla biegt, von einer kleinen Wohnstraße kommend, nach links in die Ringbahnstraße vor der BSR-Zentrale in Tempelhof ein. Auf der rechten Spur der Ringbahnstraße, in Richtung Tempelhofer Damm, ist Stau.
Langsam, aber ohne anzuhalten steuert der Fahrer durch eine Lücke im Stau hindurch. Für ihn sieht es aus, als wäre die Spur, auf die er einbiegen will, frei.
Was er nicht sieht, ist das Motorrad, das wie eine Rakete heranschießt – und in den einbiegenden Tesla einschlägt, ohne dass der Biker die geringste Chance hat zu reagieren.
Die Bilder des mit Front- und Seitenkameras für teilautonomes Fahren ausgestatteten Teslas sind gestochen scharf. Das E-Auto hat sie beim Aufprall des Motorrades automatisch gespeichert.
Winkelmann kann anhand der Aufzeichnung nicht nur den Unfallhergang exakt sehen, sondern auch potenzielle Zeugen aus den Autos im Stau ermitteln und das Tempo des Bikers errechnen, das wohl jenseits von 100 Stundenkilometern gelegen haben dürfte.
Video dient als Beweismaterial
Woraus sich ergibt, dass das Verschulden des Tesla-Fahrers relativ gering sein dürfte. Das wirkt sich auf seine Strafe aus, wenn er wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt wird.
Es kann die Chancen des Motorradfahrers verringern, vom Autofahrer Schmerzensgeld einzuklagen. Und es wird die Versicherungen beschäftigen, die für die medizinische Behandlung des schwerstverletzten Bikers aufkommen.
„Solche Aufnahmen werden wir künftig von vielen Unfällen haben, wenn das autonome Fahren weiterentwickelt wird“, sagt Andreas Winkelmann. Er leitet bei der Amtsanwaltschaft die Abteilung, die vor allem illegale Autorennen verfolgt.
Die sind seit Oktober 2017 strafbar, und die Fälle häufen sich. „Ende September werden wir wohl so viele Verfahren haben wie im gesamten Vorjahr“, sagt Winkelmann. Statistisch landet inzwischen mehr als ein Fall pro Tag auf seinem mit farbigen Aktenkladden vollgestapelten Schreibtisch oder auf denen seiner sechs Kollegen.
Experten können Aufnahmen beschlagnahmen und auswerten
Knapp drei Viertel der bisher rund 880 Verfahren bearbeitet die Amtsanwaltschaft. Schwerwiegendere Fälle und solche, bei denen die Fahrer unter 21 sind, landen bei der Staatsanwaltschaft. Winkelmann erklärt sich die Häufung mit der Wachsamkeit der Polizei und mit verschärften Vorgaben, nach denen die Beamten seit gut einem Jahr arbeiten.
Die Kernpunkte: Raserei – bisher nur eine Ordnungswidrigkeit – kann in vielen Fällen und auch bei „Solisten“ ein strafbares Rennen sein. Dann soll nicht nur ausnahmsweise, sondern „in der Regel“ die Fahrerlaubnis eingezogen werden. Und die Beamten sollen lieber einmal mehr das Auto beschlagnahmen als einmal zu wenig. Denn die Bordelektronik neuerer Modelle kann Erstaunliches verraten.
Man muss sie nur zum Sprechen bringen. Meist tut das ein vereidigter Sachverständiger – wie jener, der zufällig Rufbereitschaft hatte, als nächtens auf der Stadtautobahn ein Mercedes jemandem heftig hinten reinfuhr und der von der Polizei geholte Experte sich wunderte, wie weit die Trümmer verstreut lagen.
Digitale Daten nutzen vor allem den Opfern
Da es in Zeiten des serienmäßigen Antiblockiersystems keine Bremsspuren mehr gibt, wurde der Mercedes beschlagnahmt, um seinen „Event Data Recorder“, kurz EDR, auszulesen. Die Geräte sind seit 2014 Standard in Neuwagen. Bei Unfällen speichern sie Parameter aus den letzten fünf Sekunden vor dem Aufprall.
In diesem Fall hatte der Mercedesfahrer bis drei Sekunden vor dem Knall beschleunigt – mit zu 100 Prozent durchgetretenem Gaspedal und 206 Stundenkilometern Spitze bei erlaubtem Tempo 80. Er schaffte es noch, auf 124 Stundenkilometer abzubremsen, bis es krachte.
Damit ist klar, dass hier einer ohne Rücksicht auf Verluste raste. Das dürfte seine Strafe drastisch erhöhen. Und es kann den verletzten Passagieren des anderen Autos helfen, den Raser und seine Versicherung in Regress zu nehmen. „Die digitalen Daten nützen also nicht nur uns, sondern auch den Opfern, um zivilrechtliche Ansprüche durchzusetzen“, sagt Winkelmann.
Manchmal liefert die moderne Technik aber auch den Unschuldsbeweis, wie bei jenem Duo, dessen röhrende Motoren einer Polizeistreife in der Yorckstraße aufgefallen waren. Die Beamten stoppten den Ferrari und den Audi R8.
Der Vermieter der Sportwagen hatte vorsorglich Tracker installiert, mit denen sich die Fahrt rekonstruieren ließ. Siehe da: Die Autos waren irre laut, aber nicht zu schnell unterwegs. Winkelmann weiß von Vermietern, die typische Raserautos derart nachrüsten, um sie nach einer Polizeikontrolle schnell wiederzubekommen.
Von den rund 880 Fällen sind nach Auskunft des Amtsanwalts inzwischen 300 angeklagt und 110 mit rechtskräftigen Verurteilungen abgeschlossen worden. Die Strafen reichten von 40 Tagessätzen bis zu zwei Haftstrafen ohne Bewährung. Beide Täter waren ohne Rücksicht auf Verluste vor der Polizei geflüchtet. Der eine muss für zwei Jahre ins Gefängnis, der andere, der noch mehr auf dem Kerbholz hat, zwei Jahre und zwei Monate. „Wir haben nur wenige Fälle, die wir einstellen“, sagt Winkelmann.
Manche Verfahren werden allerdings bewusst geräuschlos abgewickelt – wie das jenes Rappers, dem eine öffentliche Verhandlung fürs Gangsta-Image sicher recht gewesen wäre. Aus dieser Ahnung heraus hat Winkelmann sich mit der Verteidigung geschmeidig auf 90 Tagessätze à 265 Euro geeinigt. Für die Strafhöhe spielen sowohl Ausmaß und Dauer der Raserei als auch die Umgebung, in der sie stattgefunden hat, eine Rolle.
„Sinnlos hochmotorisierte Autos“
Die Autos als Tatmittel dauerhaft einzuziehen, ist erst vier Mal gelungen, weil die meisten Raser gemietete oder geliehene Autos nutzen. Aktuell sitzt Winkelmann an einem Fall, in dem ein Jungmann mit Vaters noch nicht abbezahltem BMW gegen einen Renault Clio Sport angetreten war, als die Polizei zugriff.
Würde der BMW einkassiert, müsste auf Steuerkosten die Bank entschädigt werden, erklärt Winkelmann. „Das wäre ja Quatsch.“ Andererseits würde der Clio-Fahrer ungleich härter bestraft, wenn nur er sein Auto loswürde. Der Ausweg heißt „Einziehung unter Vorbehalt“: Der Mann muss den Clio verkaufen, wobei ihm das Gericht einen Mindestpreis vorschreibt, damit das Auto nicht für einen Euro an einen Kumpel geht. Und einen Teil des Erlöses muss der Mann an die Justizkasse überweisen.
Für Winkelmann zeigt dieser Fall exemplarisch, dass sich auch ein nicht ganz zu Ende gedachtes Gesetz gut anwenden lässt, wenn man nur will. Und in Berlin wollen nach seinem Eindruck alle – also die Polizei genau wie seine Abteilung, die demnächst einen weiteren Kollegen bekommen könnte. Er ist sicher, dass ihm die Arbeit nicht ausgehen wird: „Solange es solche sinnlos hochmotorisierten Autos gibt, wird es Leute geben, die der Versuchung nicht widerstehen können.“