Obdachlosigkeit, Zwangsprostitution, Missbrauch e.a.: Wie helfe ich richtig?
Der Bettler im Bank-Foyer, der alkoholkranke Kollege, die einsame Nachbarin: Wir sehen sie – aber tun wir was? Ein Dossier über Sinn und Unsinn des Aktivwerdens, mit einem einleitenden Essay, Szenen aus dem Leben und dem Rat von Experten.
Alle Tage stand er dort, bei Regen, Hitze, Wind und Wetter. Der Mann vor dem Eingang des Supermarkts sah abgerissen aus. Etwa Ende vierzig, schäbiges Jackett, ausgebeulte Cordjeans, ungekämmt, mäßig rasiert. Sein Blick beim Hochhalten der Obdachlosenzeitung oszillierte zwischen: „Haben Sie Mitgefühl!“ und „Sie da, Ihnen geht es gut, mir nicht!“ Dazu gelegentlich verbale Nötigungen, deren Inhalt mit ihrem aggressiven Ton kontrastierte: „Schönen guten Tag! Haben Sie zwei Euro?! Wenigstens fünfzig Cent vielleicht?!“
Eines Tages fragte ein pensionierter Beamter den Mann, was er für ihn tun könne. Der Beamte, Mitte siebzig, hatte Zeit, er wollte dem Gestrandeten helfen. Er hörte: arme Kindheit, abgebrochene Lehre, fortgelaufene Frau, Schulden, Verlust der Wohnung. Keiner muss hier in Berlin, keiner im Land so leben!, erklärte der Helfer. Er telefonierte. Ämter, Behörden, Hilfsorganisationen. Irgendwann waren die Papiere beisammen, war eine kleine Wohnung gefunden, stand ein Job beim Blumengrossisten in Aussicht.
Allerdings: Je näher man dem Ziel rückte, desto nervöser wurde der Obdachlose. Seine Dankbarkeit schlug um in Abwehr und Wut. Schließlich wurde er ausfallend, verschmähte die Wohnung und verschwand.
Wochen später tauchte er wieder vor der Glastür des Supermarktes auf. Wie früher hielt er die Obdachlosenzeitung hoch, fror ostentativ, schnorrte Passanten an, stieß sein sarkastisches „Danke auch!“ aus, wenn einer nichts gegeben hatte, und lächelte, wenn einer was gab.
Offenbar war es so: Man hatte ihn nicht verstanden. Man hatte ihm seine Rolle wegnehmen wollen, seine Würde als öffentlicher Ankläger an der Ecke, seine Genugtuung beim Machen von Vorwürfen. Für den Mann gab es nur das eine: den Weg zurück auf seine Bühne.
Hilfe muss man nicht nur wollen, suchen. Man muss auch wissen, warum man sie braucht oder will – ohne Erkenntnis der Ursachen der Lage und des Begehrens wird Helfen auf der Hälfte steckenbleiben, so wie hier.
In der Großstadt sind Forderungen nach Solidarität überall präsent. In U- und S-Bahn reichen Musikanten ihren Hut herum. Im Foyer der Sparkasse hockt eine Drogensüchtige und fragt nach Münzen. Auf der Straße sitzt ein Obdachloser mit einer blutigen Kruste im Gesicht. Jedes Mal könnte man geben, helfen, alarmieren, intervenieren. Oder anders, wenn da der Nachbar ist, die Nachbarin, ein Mensch, der seine Lebensgeschichte erzählen will, der flirtet, charmiert – aber nie etwas zurückgeben möchte. Er oder sie wollen nur abladen, wie auf einer Müllhalde. Wie viele Stunden der eigenen Zeit soll man ihnen schenken?
Die Frage ist: Ab wann und wie ist Helfen produktiv, wann ein Übergriff, wann sogar kontraproduktiv? Soll man das Jugendamt anrufen, wenn ein Nachbarkind lange schreit? Den Kältebus, wenn einer im Winter unter der S-Bahn-Brücke liegt? (Soll man übrigens ruhig tun, aber keinesfalls, ohne die Person vorher anzusprechen! Wenn sie nicht ansprechbar ist: 112 anrufen. Wenn sie keine Hilfe will: bitte in Ruhe lassen.)
Die Frage ist auch immer: Wem helfe ich überhaupt? Dem Anderen? Oder meinem eigenen Gewissen? Helfen gehört zum Ursprung des sozialen Lebens, als ein Aspekt von Geben und Teilen. Marcel Mauss, ein französischer Ethnologe, hat erklärt, dass Gesellschaft überhaupt erst durch die komplizierte Dynamik von Geben und Nehmen begründet wurde. So haben Menschen gelernt, sagte Mauss, wie sie „einander gegenübertreten, ohne sich gegenseitig umzubringen“.
In Großstädten, in Industriegesellschaften generell, sind diese Dynamiken oft teils unsichtbar. Staatliche Stellen übernehmen das Verteilen und Umverteilen über Steuern, Sozialsysteme, Transferleistungen. Geben und Nehmen im Arbeitsleben folgen der Logik des Finanzsystems. 1903 schrieb der Soziologe Georg Simmel einen Essay über die Großstädte. Simmel, von 1893 bis 1912 Privatdozent in Berlin, erkannte die Mehrdimensionalität der Stadt, und dass ihre Bewohner einander, anders als Leute auf dem Land, je nach Kontext in vielen unterschiedlichen Rollen begegnen. Als Angestellte, Nachbarn, Kneipenfreunde. Ohne Kontext können Sie einander völlig fremd sein – namenlose Unbekannte am Straßenrand, Leute, mit denen einen nichts verbindet, denen man zu nichts verpflichtet ist. Sind solche Fremden in Not, ist Helfen kein fragloser Aspekt der sozialen Sphäre, sondern Ermessenssache.
Stadt kann auch die Freiheit bedeuten, sich nicht helfen zu lassen
Simmel beschreibt, wie der expandierende städtische Raum immer rationaler organisiert wurde. Straßennamen und Hausnummern strukturierten das Netz der Adressen. Auch die Zeit der Großstädter ist anders organisiert als die der Landbewohner, es regiert die Uhr statt der Natur. Emblematisch stehen Ziffernblätter an Bahnhöfen für die Rationalisierung des Arbeitslebens, für den der Ökonomie unterworfenen Lebensstil. Helfen kann bedeuten, diese Logik zu unterlaufen, ihr etwas anderes entgegenzusetzen: die zusammen verbrachte Zeit, die freiwillig geleistete Arbeit, die geschenkte Aufmerksamkeit, ohne Rechnung und Berechnung, ohne Quittung und Kalkül.
Doch Stadt heißt, verheißt auch Freiheit. In kleinen Orten kann jeder Schritt sozialer Kontrolle unterworfen sein. In der Stadt sind unendlich viele Selbstentwürfe möglich. Zugleich gestattet die Stadt, sich zurückzuziehen ins Anonyme. Das kann Isolation bedeuten, zu häuslicher Gewalt und psychischer Erkrankung führen, vor allem in Zeiten der Krisen und Arbeitslosigkeit. Wohlfahrtsstaaten stoßen an ihre Grenzen, wenn ihnen dazu außer Transferleistungen und erratischen staatlichen Kontrollen nichts einfällt. Auch einzelne Hilfswillige kapitulieren bald, wenn sie merken, dass ihre Interventionsmöglichkeiten beschränkt sind.
So erging es kürzlich auch dem CDU-Politiker Martin Patzelt aus Frankfurt an der Oder, als er zwei Asylbewerberinnen aus Nigeria und deren Kindern eine ganze Wohnung anbot. Einbauküche, Fernsehapparat, Terrasse. Nach zwei Tagen zog es die Frauen zurück in die Heimunterkunft. Das, was sie vor allem brauchten, war eben keine Einbauküche, sondern Gespräche mit Landsleuten, gemeinsames Kochen, Austausch im Alltag.
Dieses kleine Lehrstück birgt, ebenso wie das vom Anfang dieses Textes, eine große Aussage. Erstens: Die Gabe selbst kann ambivalenten Charakter haben, erpresserisch oder überfordernd wirken. Zweitens: Wo soziale Strukturen dysfunktional sind, wird Helfen und Geben eine Reparatur am Rand bleiben.
Konstruktive Wege des Intervenierens suchen Politiker wie Neuköllns Jugend- und Gesundheitsstadtrat Falko Liecke, der jüngst einen couragierten Katalog zum Kinderschutz vorgestellt hat. Unter anderem sollen Schutzteams mit „Feuerwehrfunktion“ sofort eingreifen können. Wird aus der Nachbarschaft oder von Kitas, Schulen ein dringender Verdachtsfall von Kindeswohlgefährdung gemeldet, ist die Kinder-Feuerwehr da, schätzt ab, leitet Hilfsmaßnahmen ein. Kaum ein privater Nachbar könnte das leisten.
Neue Wege beschreiten auch Aktivisten wie der in Berlin tätige Priester Leo Penta, 1952 in New York geboren. Penta hat „Community Organizing“ studiert, beim selben Lehrer wie der junge Barack Obama. Weniger der einzelne Wohltäter, sondern Bürgerplattformen, Akteure der Zivilgesellschaft können Strukturen verändern, das erfahren Penta und seine Mitstreiter in ihrer Praxis. Sie setzen sich dafür ein, die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur von Stadtvierteln zu ändern: Wo stehen Gebäude leer, aus denen eine Schule werden könnte? Umfragen von Tür zur Tür ermitteln die Anliegen der Bevölkerung, Anwohnerversammlungen suchen nach Lösungen. Gemeinsam wird Druck auf Politiker gemacht. Da geht auch mal eine Abordnung von Aktivisten in ein Rathaus und besetzt so lange den Flur vor dem Zimmer des zuständigen Verantwortlichen, bis sie gehört wird. Leute helfen sich selber, als Gruppen mit Interessen. Und damit helfen sie auch anderen, Nachbarn, Freunden. Bei dieser Art der helfenden Arbeit entsteht fast immer eine neue, haltbarere Form der Solidarität. Sie wiederum kann den politischen Willen wecken, mehr Chancengleichheit zu schaffen, bessere Integration, stärkere Inklusion. Darum geht es bei alledem: das Anerkennen der Anderen.
Dieser Text von Caroline Fetscher erschien in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin. Lesen Sie auf den folgenden Seiten konkrete Fälle, die Tagesspiegel-Mitarbeiter im Alltag erlebt haben - und zu welcher Form von Hilfe Experten, deren Statements Veronica Frenzel aufgezeichnet hat, jeweils raten.
Fall 1: Die jungen Prostituierten
Eine junge Frau im engen Oberteil beugt sich aus dem Fenster gegenüber meinem Büro – ich sehe sie zum ersten Mal – und blickt auf die Straße, gedankenverloren. Es ist ein trüber Herbstnachmittag.
Seit einem Jahr habe ich den Verdacht, dass die Wohnung gegenüber ein Bordell ist, dass dort zumindest Prostituierte leben. Die Fenster sind mit buntem Papier beklebt, auf dem Balkon hängen ständig andere junge, hübsche Frauen Wäsche auf. Manchmal rufen sie aus dem Fenster jemandem auf der Straße etwas auf Bulgarisch zu. Die Frauen kommen alle aus Bulgarien. Ab und zu rauchen auf dem Balkon auch breitschultrige, düster dreinblickende Männer. Im Erdgeschoss des Hauses gegenüber liegen zwei bulgarische Kneipen. An manchen Abenden sehe ich die Mädchen aus der Wohnung gegenüber vor diesen Kneipen stehen, in hohen Stiefeln und engen Hosen. Jedes Mal frage ich mich: Ob die Mädchen sich freiwillig prostituieren? Sollte ich nicht, für alle Fälle, die Polizei rufen? Fast immer sage ich mir dann: Die Polizei hätte doch schon längst eingegriffen, wenn sie könnte, denn dass sich diese Mädchen prostituieren, ist offensichtlich, und hier fahren oft Streifenwagen vorbei. Manchmal, wenn ich mich so nicht beruhigen kann, denke ich auch: Wenn die Bulgaren herausfinden, dass du sie verpfiffen hast, könntest du ein Problem bekommen. Noch nie habe ich die Polizei gerufen.
An diesem Nachmittag versuche ich Augenkontakt mit dem Mädchen von gegenüber aufzunehmen. Sie sieht mich nicht, oder sie ignoriert mich. Wenig später schließt sie das Fenster und verschwindet hinter dem bunten Papier. Den Rest des Tages frage ich mich: Sollte ich etwas tun? Veronica Frenzel
Was tun? Margit Forster von der Hilfsorganisation Solwodi, die sich um Frauen in Not kümmert:
Ich würde zuerst zu klären versuchen, ob Minderjährige unter den Frauen sind. Falls ja, sollte man das dem Landeskriminalamt melden, dort gibt es ein zuständiges Dezernat. Die Polizei würde sofort eingreifen. Der Hinweis kann auch anonym gegeben werden. Wenn keine der Frauen minderjährig ist, könnte man eine Hilfsorganisation einschalten, die Streetwork macht und bulgarischsprachige Mitarbeiterinnen hat. Die könnten die Frauen auf der Straße ansprechen. Man könnte sich aber auch in diesem Fall an die Polizei wenden, die in Berlin sehr sensibel reagiert, wenn sie hört, es könnte sich bei Prostituierten um Zwangsprostitutierte handeln. Grundsätzlich ist es richtig, sein Gefühl ernst zu nehmen, die Frauen könnten nicht selbstbestimmt der Prostitution nachgehen. Manche der Frauen, die aus armen Verhältnissen nach Deutschland kommen, um als Prostituierte Geld zu verdienen, werden etwa auch von der Familie oder dem Ehemann geschickt. Ob sie selbstbestimmt handeln oder nicht, ist oft kaum herauszufinden. Was soll eine junge Frau mit vielleicht niedrigem Bildungsniveau und einem solchen Hintergrund sagen? Wenn sie sagt, dass sie Opfer von Zwangsprostitution ist, müsste sie die Familie oder Bekannte aus ihrem Dorf anzeigen – und dann dorthin zurückkehren. Wenn sie keine Anzeige erstatten möchte, muss sie sagen, dass sie sich freiwillig prostituiert. Solchen Frauen in solchen Situationen mehr Schutz zu geben – da ist auch die Politik gefordert.
Solwodi, Tel. 81 00 11 70, berlin@solwodi.de;
IN VIA, kath. Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit, Tel. 66 63 34 87, moe@invia-berlin.de;
KOK, Koordinierungsring gegen Menschenhandel, Tel. 26 39 11 76, buero@kok-buero.de;
Landeskriminalamt, Fachdezernat 47, Tel. 46 64-0
Fall 2: Der reglose Obdachlose
An einem Morgen füllt sich der Bahnsteig eines Schöneberger U-Bahnhofs nach und nach. Nur an einer Stelle bleibt es leerer, Frauen und Männer laufen einen Bogen, kurven um eine Bank herum. Auf der Bank hockt, liegt fast ein alter Mann. Seine Beine sind nach vorne gespreizt, sein Oberkörper hängt so schief, dass er jeden Moment von der Bank zu stürzen droht, die Augen sind geschlossen. Unter ihm ein See aus Urin.
Dann fährt die U-Bahn ein. Ich will einsteigen – und bleibe doch zurück. Ich gehe zu dem Mann und weiß nicht, was ich machen soll. Seine Kleidung ist schmutzig, er stinkt, bewegt sich nicht, ich höre keinen Atem. Da kommt ein Mitarbeiter einer Reinigungsfirma, er zieht Besen und Putzmittel in einem Wagen hinter sich her. Er ruft: „Ah, hast dich wieder vollgepinkelt!“
Ich bin froh, mit jemandem sprechen zu können. Ich frage den Putzmann, ob er den Alten kennt, ob ich die BVG alarmieren oder den Notarzt rufen soll. Da wird er richtig sauer. Was ich für Ideen hätte. So etwas würde er täglich sehen, vor allem „mit dem Kollegen hier“. Würde ich wirklich etwas tun wollen, „dann würden Sie den Alten mit nach Hause nehmen und ihn baden“.
Ich denke, das kann es doch nicht gewesen sein, da wacht der alte Mann plötzlich auf. Er ist also nicht ins Koma gefallen oder tot, sondern schaut jetzt irritiert auf die Pfütze unter sich und sagt einfach: „Ich war das nicht.“ Die U-Bahn kommt. Ich steige ein. Ruth Ciesinger
Was tun? Svetlana Krasovski, leitende Schwester in der Ambulanz der Berliner Stadtmission:
Ich würde ein Gespräch mit dem Herrn anfangen, ohne dabei auf die peinliche Situation – die nasse Hose, die Urinpfütze – einzugehen. Zum Beispiel würde ich meinem Erstaunen darüber Ausdruck
verleihen, wie er es schafft, auf der harten unbequemen Bank so tief und fest zu schlafen. Dann würde ich ihn fragen, ob ich vielleicht nach einer bequemeren Schlafmöglichkeit für ihn googeln dürfte. Im Winter ist das nicht so kompliziert. Da sucht man zum Beispiel einfach nach Kältehilfe, auf der Webseite findet man dann Adressen mit Notübernachtungen, Nachtcafés, Suppenküchen, medizinischen Einrichtungen für Obdachlose und
so weiter, aufgeteilt nach Bezirken. Landet man bei einer dieser Stellen, kann man von dort aus auch weitervermittelt werden. Ich würde daneben vorschlagen, den Kältebus der Berliner Stadtmission anzurufen. Es bleibt aber unsicher, ob der Mann bereit ist, auf die Hilfsangebote einzugehen. Wenn man die Möglichkeit hat, kann man dem Mann auch anbieten, eine Hose zum Umziehen zu kaufen.
Pater Kalle Lenz, St.-Christophorus-Gemeinde Neukölln, mit Sozialarbeiterin Nieves Kuhlmann:
Man muss hier zwischen akuter und nachhaltiger Hilfe unterscheiden. Wenn der Mann trotz wiederholter energischer Ansprache keine Reaktion zeigt oder offensichtlich verletzt oder krank ist, muss man den Notarzt rufen. Alles andere wäre unterlassene Hilfeleistung. Den Mann selbst ins Krankenhaus zu bringen, macht wenig Sinn. Er haut wahrscheinlich bald wieder ab – falls er überhaupt mitgeht. Die Mitglieder unseres Beschäftigungsprojektes „Pallotti-Mobil“, mit denen wir diese Szene besprochen haben, fanden die Geschichte einfach traurig, sie glauben, dass man kaum etwas machen kann. Den Vorschlag, den Mann mit nach Hause zu nehmen, halten wir für keine gute Idee. Das will er wahrscheinlich gar nicht. Und man überfordert sich damit – und hat danach womöglich überhaupt keine Lust mehr, irgendwem zu helfen. Grundsätzlich gilt: Jeder muss Grenzen setzen, auch wir, sonst kann man irgendwann gar nicht mehr helfen. Nachhaltig helfen kann man sowieso nur, wenn man Vertrauen schafft, und dafür müsste man den Mann regelmäßig sehen. Das übersteigt natürlich die Möglichkeiten von einer Frau, die nur auf die S-Bahn wartet. Dafür gibt es professionelle Angebote, zum Beispiel die Notübernachtungen, wo auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter anwesend sind. Man kann den Obdachlosen auf diese Angebote aufmerksam machen. Allerdings kennt er diese Möglichkeiten in der Stadt vermutlich schon, und er weiß, wo er eine warme Mahlzeit bekommt und eine Schlafgelegenheit. In jedem Fall ist es sinnvoll, jetzt im Winter die Nummer der Kältehilfe im Handy einzuspeichern.
Kältebus der Berliner Stadtmission: Tel. 0178-523 58 38 (tägl. 21–3 Uhr), kaeltehilfe.de;
Kältehilfe, Tel. 810 56 04 25 (tägl. 19–23 Uhr), kaeltehilfe-berlin.de
Fall 3: Der verfallende "Motz"-Verkäufer
Die Tür geht auf und ein Mann betritt das Café. Er ist groß und dunkelhaarig. Sein Hut sitzt ein wenig schräg und sein Mantel reicht fast bis zum Boden – der Mann achtet auf sein Äußeres. Zur Begrüßung tippt er sich kurz an den Hut, dann geht er ohne zu zögern an die Tische und verkauft die Obdachlosenzeitung „Motz“. Der Mann ist noch jung, vielleicht Anfang dreißig. Im Café kennt man ihn. Er kommt zwar nicht jeden Tag, doch er kommt regelmäßig. An manchen Abenden merkt man, dass er irgendwas genommen hat. Trotzdem geht er aufrecht.
Im letzten Winter sah man ihn dann längere Zeit nicht. Mehrere Monate blieb er weg, ohne dass es jemand bemerkte. Vielleicht fragte sich der eine oder andere kurz, wo der junge Mann mit dem Hut geblieben ist, mehr aber auch nicht. Dann, im Sommer, war er wieder da. Oder vielmehr war es seine Hülle, die wieder da war: Die Tür geht auf und er schlurft herein. Der Hut ist weg. Statt des Mantels trägt er eine beigefarbene Daunenjacke. Seine Schultern sind nach vorne gebeugt, sein Gesicht ist aufgeschwemmt. Aus dem aufrechten Mann ist eine gebeugte Gestalt geworden. Kommt er an die Tische, wenden sich die Blicke oft ab.
Eigentlich kenne ich den Mann nicht. Gesehen habe ich ihn immer nur von Weitem. Einmal habe ich ihn gefragt, wie er heißt. Sein Name ist Thomas. Hilfe angeboten habe ich ihm nicht. Nun ist wieder Winter. Dass er das letzte Mal im Café war, ist schon wieder eine ganze Weile her. Stella-Marie Hombach
Was tun? Pater Kalle Lenz, St.-Christophorus-Gemeinde Neukölln, mit Sozialarbeiterin Nieves Kuhlmann:
Wir können Obdachlosen nicht unbedingt helfen, aber wir können versuchen, ihnen menschlich zu begegnen. Wer sich das zutraut, hilft schon, wenn er Respekt und Freundlichkeit zeigt. Etwa, indem man den hier beschriebenen Mann das nächste Mal anspricht, ihm vielleicht einen Kaffee anbietet, ihn fragt, warum er schon so lange nicht mehr da war. Den Mitgliedern unseres Beschäftigungsprojektes „Pallotti-Mobil“, mit denen wir die Szene besprochen haben, war auch wichtig, dass man mit Einschätzungen vorsichtig ist. Nicht jeder, der auf der Straße lebt, hat ein Suchtproblem. Vielleicht ist der Mann auch unterzuckert.
drogennotdienst.org, 24h-Beratung unter Tel. 192 37;
Sozialer Dienst des Roten Kreuzes, Tel. 34 80 31 63
Fall 4: Die verwirrte Frau
Es war mitten im Sommer, da überquerte sie die Freybrücke über die Havel: eine junge Frau in Jogginghosen und einer merkwürdig dicken Jacke. Die Überquerung dauerte, denn sie führte eine etwa zehn, zwölf Meter lange Reihe von gefüllten Plastiktüten und Tragetaschen mit sich. Sie trug jeweils zwei Tüten zehn Meter weiter, ging zurück, holte die nächsten beiden.
Tage später war sie am Rand der Heerstraße unterwegs, stadtauswärts. Dann bog sie links ab auf die Wilhelmstraße in Spandau. An den Einfamilienhäusern, und den Bushaltestellen und dem bürgerlichen Italiener vorbei zog sie, Schritt für Schritt, Tasche für Tasche, jetzt stadtauswärts Richtung Kladow, Groß Glienicke, Potsdam. Man sah sie an der Bundesstraße auf dem Radweg mit ihrer Taschenkolonne, dann sah man sie weniger gut, weil der Radweg im Wald verschwand. Dann bog sie nach Kladow ab. Dann war sie weg. Eingesammelt vielleicht, eingeliefert?
Dann, eines Morgens, sah man sie im Wald zwischen Kladow und Sacrow, mit ihrer Taschenkolonne. Aus der Nähe gesehen wirkte sie ein bisschen heruntergekommen, die Jogginghose sah aus, als habe sie schon mal hineingepinkelt, ihre Haare hätten eine Wäsche gebrauchen können, die ganze zarte junge Frau ein Bad im Sacrower See, der zu dieser Zeit schön warm war.
Die ganze Zeit war der Gedanke da gewesen, das Auto einfach anzuhalten, wenn man sie abends, auf dem Nachhauseweg, an der Straße gesehen hatte, sie zu fragen, ob man ihr helfen könne, wenigstens mit 20 Euro. Jetzt war die Gelegenheit da, das Angebot nachzuholen. Für den Weg durch den Wald würde sie noch Stunden brauchen. Also den Waldlauf zu Ende gebracht, zu Hause eine Packung Zwieback geschnappt – sie musste doch Hunger haben –, zwanzig Euro und das Fahrrad. Zurück zu ihr und sie gefragt: „Können Sie etwas zu essen brauchen?“ Sie, mit dem Blick am Fragenden vorbei und dem Ausdruck eines psychotischen Rehs: „Ichhabekeinenredebedarf!“ – „Wollen Sie vielleicht“ – den Zwanziger hochhaltend – „ein bisschen Geld?“ Sie: „Ichhabekeinenredebedarf!!!“
Unerreichbar schien sie. Sollte man die Behörden auf sie hetzen? Das Sozialamt? Sie war nicht hilflos, sie war frei, es war Sommer, warm und ruhig im Wald.
Und sie hatte klar eine schwere Macke. Nach dieser Begegnung ist sie verschwunden. Werner van Bebber
Was tun? Pater Kalle Lenz, St.-Christophorus-Gemeinde Neukölln, mit Sozialarbeiterin Nieves Kuhlmann:
Handeln muss man nur, wenn eine akute Notlage besteht, die Frau verletzt oder krank ist. Das scheint hier nicht der Fall zu sein. Mit Wertungen wie „Macke“ sollte man zurückhaltend sein. Man weiß nicht, was die Frau alles durchgemacht hat. Zu sehen ist: Sie kommt mit ihren Tüten langsam voran, aber sie kommt voran. Manchmal wollen Menschen einfach in Ruhe gelassen werden. Sinnvoll ist es, die Frau zu grüßen, anzulächeln, wahrzunehmen. Wenn man sie regelmäßig grüßt und sie irgendwann zurücklächelt oder gar grüßt, ist das schon ein Erfolg und es ergibt sich vielleicht eine Kontaktmöglichkeit. Dann hat man dazu beigetragen, dass sie die Welt menschlicher sieht.
Svetlana Krasovski, leitende Schwester in der Ambulanz der Berliner Stadtmission:
Solche Situationen habe ich schon selbst erlebt, da bin ich ratlos. Wenn das Wetter mild ist und die Kontaktaufnahme gescheitert, bringt Nachgrübeln nichts. Man muss die Frau gehen lassen. Im Winter sollte man die Kältehilfe informieren. Doch auch unser Kältebusfahrer kennt eine Frau, die einfach nicht in den Bus steigen will. Aber selbst wenn die Frau jede Hilfe ablehnt, ist es gut, wenn sie merkt, dass man um sie weiß. Es könnte sein, dass sie irgendwann die Hilfe annimmt. Das wäre der erste Schritt ins Hilfenetz. Für uns sieht das aus wie ein kleiner Schritt, für sie ist es ein
großer. Leider schaffen es manche nie, ihn zu gehen.
Ludger Vossmann, Berater beim Berliner Krisendienst, der in seelischen und psychiatrischen Notlagen hilft:
Die Frau schottet sich ab aus Gründen, die wir nicht kennen, das muss man akzeptieren. Wenn es minus zehn Grad hätte, würde das Zwischenmenschliche gebieten, sie anzusprechen, etwa so: „Es ist extrem kalt, kommen Sie zurecht?“ Hat man den Eindruck, es geht ihr nicht gut, sollte man die Feuerwehr rufen. Man kann auch immer beim
Krisendienst um eine Einschätzung der Situation bitten.
Krisendienst, Tel. 31 59 19 27, berliner-krisendienst.de
Fall 5: Die alkoholkranke Trainerin
Zeichen, dass unsere Cheftrainerin ein Alkoholproblem hat, gab es seit Jahren. Da war die Party, auf der sie ganz am Schluss eine Runde Kurze bestellte – und alle selber austrank, weil keiner mehr konnte. Da war ab und an das ungute Gefühl, sie könnte eine Fahne haben, wenn sie das Training der Handballkids leitete. Sie erschien nicht zu Spielen, die früh am Morgen angesetzt waren. Aber irgendwie haben alle geschwiegen – obwohl viele einen Verdacht hatten.
Natürlich, das stellte sich später heraus, wollten viele ihr da schon insgeheim helfen, vom Alkohol loszukommen. Was letztlich aber den Anlass gab, gemeinsam zu handeln, ist gar nicht so leicht auszumachen. Vielleicht war es, dass jüngere Trainer sie immer offensichtlicher von den Eltern fernhielten, weil der Alkoholgeruch nicht mehr zu ignorieren war. Von Beratungsstellen lernten wir dann zunächst: Alkoholiker können sich in letzter Konsequenz nur selber helfen. Wenn der Arbeitgeber sehr bestimmt Grenzen zieht, ist das sogar hilfreicher, als vermeintlich einfühlsam im Freundes- und Bekanntenkreis auf Nöte einzugehen. Eine schwierige Entscheidung: Wie weit darf man gehen, ohne eine Existenz zu vernichten? Schließlich stellten wir ihr von Vereinsseite ein Ultimatum. Ein weiteres Mal alkoholisiert in der Halle: letzte Verwarnung, Abbruch des Trainings. Ein zweites Mal: Du fliegst. Einmal kam sie danach mit Fahne zum Training. Großes Drama. Aber sie akzeptierte, dass wir sie nach Hause schickten. Danach ist nichts mehr vorgefallen. Sie behauptet, „alles im Griff“ zu haben. Richtig eingestanden hat sie Alkoholmissbrauch allerdings nie.
Das ist neun Monate her. In den letzten Wochen glaube ich, Anzeichen des Rückfalls wahrzunehmen. Erstaunlich ist, wie wenig man den eigenen Sinnen zu trauen meint. Ist das Minzgeruch? Und soll der eine Alkoholfahne überdecken? Schwitzt sie so stark, weil die Halle warm ist oder weil sie zu Hause etwas getrunken hat? Im Moment stellt sich für mich die Frage: Wann greift man wieder ein? Sebastian Lehmann
Was tun? Hartmut Große, Geschäftsführer von Al Anon, einer Selbsthilfegemeinschaft, die sich an Angehörige und Freunde von Alkoholikern richtet:
Wenn man den Verdacht hat, dass ein Bekannter, in dem Fall die Cheftrainerin, alkoholkrank sein könnte, kann es unter Umständen sinnvoll sein, seine Hilfe anzubieten – niemand ist aber dazu verpflichtet zu handeln. Trinken ist in unserer Gesellschaft nicht verboten, Alkoholismus ist Sache jedes Einzelnen. Es gibt kein Patentrezept, wie man mit alkoholkranken Menschen umgeht. Deshalb muss man sich unbedingt fragen: Wieso will ich eingreifen? Steht mir dieser Mensch wirklich nah? Oder ist es eher ein allgemeines Betroffenheitsgefühl? Fühle ich mich in der Lage dazu, das Thema anzusprechen? Prinzipiell ist es besser, „Ich mache mir Sorgen“ zu sagen als „Du trinkst zu viel“. Man kann anbieten, dem Alkoholkranken zu helfen, eine Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker oder einen Therapieplatz zu finden, und ihn dorthin zu begleiten. Es ist normal, dass die Trainerin die Abhängigkeit leugnet. Fast jeder Alkoholiker ist überzeugt, keiner zu sein. Alkoholiker sind krank, alles dreht sich um die Befriedigung der Sucht, ihre Wahrnehmung ist anders als die von Gesunden. In diesem konkreten Fall betrifft die Sucht die anderen Vereinsmitglieder. Ich rate, dass der Vereinsvorstand entscheidet, ob die Trainerin bleiben soll. Der Einzelne kann jeden Tag aufs Neue entscheiden, wie er mit dem Gegenüber umgeht. Anders stellt sich die Situation dar, wenn ein Familienmitglied oder ein enger Freund alkoholkrank ist. Dann ist es für Angehörige sinnvoll, sich einer Al-Anon-Gruppe anzuschließen. Dort lernt man, die Mechanismen von Alkoholismus besser zu verstehen, sich nicht in endlose und meist sinnlose Diskussionen mit dem Alkoholkranken zu verstricken. Auch bekommt man durch die Erfahrungen anderer Angehöriger eine neue Sichtweise auf die Krankheit.
Anonyme Alkoholiker, Tel. 192 95 (Mo–Fr 17–21.30 Uhr, Sa/So 19–21.30 Uhr), anonyme-alkoholiker.de;
Al Anon, Tel. 0201/77 30 07 (Mo–Do 9–17 Uhr,
Fr 9–15 Uhr), al-anon.de, zdb@al-anon.de
Fall 6: Das belästigte Mädchen
Ringbahn, Wochenende, spätabends, frühmorgens. Mein Freund und ich sind auf dem Heimweg. Ich nippe am Rest meines Biers und beobachte meine Mitreisenden. Die drei Jugendlichen auf dem Vierersitz neben uns scherzen laut miteinander. Die beiden Jungs ziehen das Mädel abwechselnd auf ihren Schoß, kitzeln sie. Sie lacht. Sagt Nein. Lacht wieder. Ruft kichernd: „Lass das!“ Ist das noch Spaß? Einer der beiden küsst das Mädchen in den Nacken, berührt ihre Brust. Auf einen Schlag bin ich stocknüchtern. Im Gegensatz zu ihr. Lallen, Kichern, immer und immer wieder: „Nein.“ Die Jungs hören nicht auf. Als unsere Station ausgerufen wird, spricht mein Freund das Mädel an: Geht’s dir gut? Kennst du die beiden? Sollen wir dir ein Taxi rufen? Die Jungs wirken plötzlich wie kleine Kinder, die man bei irgendwelchem Unfug erwischt hat. Beteuern, das Mädchen schon ewig zu kennen. Der eine sei ihr Freund. Wir beachten die beiden gar nicht. Erst beim Aussteigen wenden wir uns an die Halbstarken: Nein heißt Nein! Das könnt ihr nicht früh genug lernen! Auf dem Nachhauseweg bleibt ein fader Beigeschmack. War das genug? Zu viel? Überhaupt irgendwas? Katharina Langbehn
Was tun? Hauptkommissar Christian Zorn, Zentralstelle Prävention beim LKA:
Es ist gut, wie der Freund in dieser Situation
reagiert hat. Dass das Mädchen lacht, heißt nicht, dass es mit den Annäherungsversuchen einverstanden ist. Das Lachen kann eine Übersprunghandlung sein, es könnte verdecken, dass sie nicht weiß, wie sie mit einer ihr unangenehmen Situation umgehen soll. Grundsätzlich gilt: Wenn man das Gefühl hat, dass jemand sich übergriffig verhält, ist das Grund genug zu reagieren. Der Freund hat das Mädchen angesprochen und nicht die Jungs. Damit stärkt er das vermeintliche Opfer – und die Jungs fühlen sich offenbar ertappt, in die Öffentlichkeit
gebracht. Mehr kann das Paar in diesem Fall nicht tun. Denn entgegen dem Zweifel willigt das Mädchen offenbar in die Handlungen der Jungs ein. Es ist aber eine Gratwanderung.
Jugendliches Ausprobierverhalten muss man akzeptieren, bei Gewalt jedoch handeln. Zweifel, ob das Mädchen in dem Moment die Wahrheit sagt, lassen sich nicht endgültig auflösen. Wenn man sich allein in einer solchen Situation wiederfindet, ist es gut, andere anzusprechen und gemeinsam auf das vermeintliche Opfer zuzugehen. Manchmal hilft es, eine Hand zu reichen, damit es leichter aus der Situation heraustreten kann. Niemals ist es gut, den Täter unter Druck zu setzen, ihm gar zu drohen. Er kann aggressiv reagieren, wie ein Tier, das sich in die Enge getrieben fühlt. Nichtstun ist immer die schlechteste Option. Im schlimmsten Fall ist jeder in der Lage, die Notbremse zu ziehen, nach dem Aussteigen die Polizei zu rufen, das Sicherheitspersonal zu informieren oder über die Notrufsäule Hilfe anzufordern.
Notruf 110
Fall 7: Der Verdacht auf Missbrauch
Der zehnjährige Junge aus meinem Haus läuft vor mir auf dem Bürgersteig in Richtung Supermarkt. Ich denke noch darüber nach, aufzuholen, ihn zu fragen, was er kaufen will. Da hält ein Geländewagen am Straßenrand. Der Junge bleibt vor der Fahrertür stehen, lächelt, steigt hinten ein, der Fahrer, ein Grauhaariger, lässt den Motor aufheulen und fährt davon.
Mit einem schlechten Gefühl bleibe ich zurück. Ist der Junge mit einem Pädophilen unterwegs? Nicht zum ersten Mal habe ich diesen Verdacht. Schon einmal habe ich vom Balkon aus gesehen, wie der Junge zu dem Mann in den Geländewagen gestiegen ist. „Woher kennst du den?“, fragte ich den Jungen später. Der Mann sei ein Freund der Eltern, antwortete er, ein wenig zu schnell, als hätte es ihm jemand diktiert. „Wir waren im Schwimmbad“, sagte er. Ich merkte: Der Junge ist stolz darauf, einen deutschen Freund zu haben. Doch ich sagte mir auch: Pädophile sprechen oft Kinder aus sozial schwachen Familien an. Kinder, die oft unbeaufsichtigt sind. Jungs wie den Zehnjährigen. Vor vier Jahren ist der Junge mit seiner Familie aus Rumänien gekommen, heute lebt er mit sechs Geschwistern und den Eltern von Hartz IV, in einer Vierzimmerwohnung. Nach der Schule streunt er oft auf der Straße herum.
Während ich weitergehe, überlege ich, meinen Verdacht der Polizei zu melden. Ich gehe die Fakten durch. Mir wird klar: Ich habe nichts in der Hand. Und vielleicht meint der Mann es ja nur gut? Veronica Frenzel
Was tun? Ralf Rötten vom Verein „Hilfe für Jungs“:
Beim Verdacht von Pädosexualität – Pädophilie ist unserer Ansicht nach verharmlosend – geht es darum, genau zu schauen: Was weiß ich? Und was vermute ich bloß? Im beschriebenen Fall geht es die Nachbarin im Grunde nichts an, welchen Umgang der Junge hat. Sie könnte den Eltern ihre Beobachtungen mitteilen, etwa: „Ich habe gesehen, dass ihr Sohn zu einem Mann ins Auto gestiegen ist. Wissen Sie darüber Bescheid?“ Mehr nicht. Es ist Aufgabe der Eltern, mit dem Jungen zu sprechen. Anlass, ihm den Umgang mit dem Erwachsenen zu verbieten, gibt es meiner Ansicht nach nicht. Generell gilt: Jedes Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen ist anders. Allgemeingültige Ratschläge für Außenstehende gibt es nicht. Wenn man unsicher ist, ob oder wie man handeln soll, ruft man am besten die Hotline des Berliner Kinderschutzes an.
Bianca Biwer von der Opferhilfe Weißer Ring:
Eine Meldung an das Jugendamt ist nur dann sinnvoll, wenn der Beobachter den dringenden Verdacht auf Kindeswohlgefährdung hat, der über das Beobachtetehinausgeht. Ich empfehle nicht, die Eltern oder gar den Geländewagenfahrer direkt anzusprechen. Eltern mit so einer Beobachtung zu konfrontieren, könnte als Vorwurf aufgefasst werden. Dies hätte zur Folge, dass die Eltern sich verschließen. Man kann auch nicht wissen, ob sie den vermeintlichen Täter kennen – Täterstrategien beinhalten meist, dass die Eltern dem Täter vertrauen – und ob sie dem Kind glauben würden, wenn es von Übergriffen erzählte. Wird dem Kind kein Glauben geschenkt oder wird es für Vorwürfe gar bestraft, wird es sich nicht mehr öffnen. Auch eine Strafanzeige ist nicht ratsam. Damit bringt man die Polizei in Ermittlungszwang, es besteht die nicht zu unterschätzende Gefahr von Falschbeschuldigung und der damit verbundenen Zerstörung der sozialen Existenz des vermeintlichen Täters. Man kann die Polizei aber bitten, sich die Situation näher anzusehen.
Hotline Kinderschutz, 24h-Beratung unter Tel. 61 00 66;
Hilfetelefon Sexueller Missbrauch, Tel. 0800-22 55 530
(Mo/Mi 9–14 Uhr, Di/Fr 16–21 Uhr, So 15–20 Uhr,
nicht an Feiertagen) oder E-Mail an mail@nina-info.de
Fall 8: Die einsame alte Nachbarin
Wenn mein Sohn sagt, er wolle zu Frau Bohn, dann will er fernsehen. Wir haben keinen Fernseher.
„Darf ich zu Frau Bohn?“
„Dann glotzt du wieder die ganze Zeit.“
„Nein.“
„Ihr unterhaltet euch?“
„Sie macht mir Schinkenbrote.“
Mein Sohn ist sechs. Ich weiß, dass Frau Bohn aus dem vierten Stock unsere Kinder liebt. Sie erkundigt sich jedes Mal nach ihnen, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen. Eigene Enkel hat sie keine. Ich wüsste nicht, dass sie je Besuch von der Familie bekäme.
„Die Kinder kommen bald wieder, ja?“, fragt sie.
Und ich: „Klar.“
„Geht es ihnen gut, alle gesund?“
Ich hole dann ein bisschen aus, um die verschiedenen Stadien anrückender und wieder abflauender Erkältungen und Ohrenentzündungen möglichst eindrucksvoll auszumalen. Aber vor allem, um zu entschuldigen, dass die Kinder schon so lange nicht mehr vorbeigeschaut haben. Die alte Dame nickt verständnisvoll. Frau Bohn lächelt, während ihr der Hut schief auf dem Kopf sitzt und die ungewaschenen Haare platt drückt. Schon der Gedanke an ihre kleinen Freunde hier im Haus, ihre „Engel“, wie sie sagt, beglückt sie, die sonst wohl nicht viel beglückt. Sie hat für Besorgungen und um überhaupt einmal rauszukommen nur wenige Stunden am Tag, in denen eine Pflegerin sich um ihren Mann kümmert. Der liegt schwer dement in seinem Bett. Seine verwirrten, spitzen Schreie, die früher durch die Wohnungstür ins Treppenhaus drangen, sind abgeklungen. Frau Bohn ist von Stille umgeben.
Mein Sohn hüpft die Stufen herab. Er klopft. Ein paar Worte an der Tür, dann verschluckt ihn die Stille. Als er Stunden später wieder auftaucht, hat er ein glühendes Gesicht. Das Gesicht eines Erstklässlers, der sich zu wenig bewegt, aber Bewegendes zu verarbeiten hat. In einer Hand hält er Schokolade.
„Na, was hast du geguckt?“
„Alles.“
Sollte ich mir Sorgen machen? Um das Kind? Um Frau Bohn? Sollte ich mit hinuntergehen, ein Brettspiel unter dem Arm? Man denkt ja immer, man müsste selbst etwas unternehmen. Dabei machen mein Sohn und Frau Bohn einander die Freude, die ich mit meinen Sorgen gar nicht verbreiten könnte. Ich muss es nur zulassen, oder? Kai Müller
Was tun? Anita Reimann, 94 Jahre alt:
Seit dem Tod meines Mannes vor elf Jahren lebe ich in einem zehnstöckigen Haus in Neukölln. Mit den meisten Nachbarn habe ich kaum etwas zu tun, mit einem dafür ein sehr gutes Verhältnis. Seitdem er mir vor Jahren mal mit dem Fernseher geholfen hat, sehen wir uns fast jeden Tag. Er kommt kurz, fragt, was ich brauche. Er hat auch meine Schlüssel, für den Notfall. Bei den anderen Nachbarn würde ich mich schon über ein kurzes Gespräch im Flur freuen. Ich denke, das geht den allermeisten alten Menschen so. Aber es stimmt natürlich: Das ständige Alleinsein kann einen schon zur Verzweiflung bringen. Vor eineinhalb Jahren habe ich zu meinem Sohn gesagt, der mich einmal in der Woche besucht: „Wenn du das nächste Mal kommst, kannst du mich in die Irrenanstalt bringen.“ Bei seinem nächsten Besuch hat er mir dann die Telefonnummer vom Verein „Freunde alter Menschen“ mitgebracht. Seitdem nehme ich regelmäßig an Veranstaltungen teil, mindestens einmal im Monat. Kaffeeklatsch, Ausflüge. Ich werde abgeholt und wieder nach Hause gebracht. Alleine wäre ich nie darauf gekommen, dass es so was gibt. Vielleicht freut sich Frau Bohn ja, wenn ihr Nachbar ihr den Kontakt heraussucht.
„Freunde alter Menschen“, Tel. 13 89 57 90, famev.de