Musik, Verkauf, Bettelei in der S-Bahn: Wer ist der nervigste Musiker der S1?
Die S-Bahnlinie 1 kennt viel Entertainment: Musiker, Bettler, Verkäufer. Manche Vorstellung ist großartig, vieles ist okay und einiges stört. Der Zehlendorf Blog hat nachgefragt und den nervigsten Musiker ausgemacht.
Jeden Tag zwischen Wannsee und Friedrichstraße gibt es spontane Konzerte. Man sitzt in der S-Bahnlinie S1, oft steht man auch, weil es so voll ist, und plötzlich knipst einer Musik an. Blaskapellen, Gitarristen, Minnesänger, Tenöre - alles ist dabei. Und mitten drin sind da noch die Obdachlosenverkäufer und andere Menschen, die versuchen "ein bisschen Kleingeld oder etwas Essbares" zu erbetteln. Das alles ist in Ordnung und völlig normal in einer Großstadt. Aber wenn wir ehrlich sind, dann sind wir trotzdem genervt - nicht immer, aber immer öfter. Oder?
Wir haben deshalb nachgefragt, was Menschen sagen, die täglich zwischen Zehlendorf und Mitte unterwegs sind. Wie erleben sie die Musik und die Musiker, wie reagieren eigentlich die Fahrgäste, abgestumpft, arrogant, verständnisvoll? Einen Musiker haben wir uns allerdings etwas genauer betrachtet, und man kann ihn hier auch im Video sehen. Wir wollen ihn nicht vorführen oder seine Persönlichkeitsrechte verletzten, aber seine Masche, wenn es denn eine ist, ist besonders irritierend. Er spielt nicht schlecht auf der Gitarre, singen kann er weniger gut, aber danach beginnt er, die Fahrgäste ironisch anzugehen. Verbal. Er findet das lustig, sie zu veralbern und sich lustig darüber zu machen, dass niemand lächelt. Überraschenderweise bekommt er dann auch nie Geld. Wir haben ihn versucht zu fragen, aber er wollte nicht antworten. Er sagt, er spiele seit 25 Jahren auf der Straße, und die Leute seien immer zufrieden. Nun ja, wenn er meint.
Am Freitag, 24. Mai, kam es auf der S1 wegen dieses Musikers zu folgender Szene: Er spielt, plötzlich die Durchsage des Zugführers: "Bitte entschuldigen Sie diese Musik. Aber man kann nichts dagegen machen, der Mann kommt immer wieder. Bitte geben Sie ihm kein Geld. Danke!"
Im Folgenden Aussagen von Menschen, die auf der Linie fahren, die aber anonym bleiben wollen.
"Funktionslogik eines Erpressungsversuchs"
Herr N: "Soweit es Blaskapellen mit bettelnden Kindern betrifft, hat sich die Lage zuletzt wieder etwas entspannt; dennoch handelt es sich dabei um wiederkehrende Lärmbelästigung, und das teils sehr offensive Verhalten der Bittsteller unterlegen dem Ganzem die Funktionslogik eines Erpressungsversuchs. Es gibt auch einen sittsameren Barden, neuerdings mit Bart, der Ausgereiftes zum Vortrag bringt. Auch das erschöpft sich aber bei ständiger Wiederholung. Insgesamt ignorieren die Fahrgäste das Geschehen, hinreichend oft gehen aber die Geldbörsen auf, manchmal aus Mitleid der Älteren gegenüber den Kindern, oder bei Touristen oder Gelegenheitsnutzern."
"Ab und zu gibt es Beifall"
Herr B: "Ich fahre jeden Tag mit der Linie 1. Die Zahl der Musiker hat sich meiner Beobachtung nach kaum geändert, wenn überhaupt, dann sind es eher weniger geworden. Die 'Qualität' schwankt, es gibt zum Beispiel einen Mann, der Arien singt - toll. Heute hatte ich allerdings einen Panflötenspieler im Waggon, der doch nur säuselte. Obdachlosenzeitungs-Verkäufer gibt es fast täglich, zuweilen mehrmals hintereinander. Sie leiern ihr Programm runter. Manche von ihnen stinken leider, ich wechsele dann meist den Waggon. Richtige Bettler habe ich in letzter Zeit kaum angetroffen. Die Bahngäste reagieren zumeist gar nicht, manch einer verzieht den Mund. Sie fühlen sich belästigt, aber arrogant wirken sie nicht. Ab und zu gibt es auch Beifall (oft von Touristen), wenn eine Gesangseinlage gelungen ist."
"Eine Melodie zog mich in den Bann"
Frau H: "Ich habe gerade vorgestern eine lustige Situation erlebt, ein Gitarrist und ein Straßenfeger-Verkäufer stiegen gleichzeitig ein und haben totales Konkurrenz-Gehabe an den Tag gelegt. Der eine hat angefangen zu spielen und zu singen, der andere versuchte dann, über die Musik hinweg seine Zeitung an den Mann zu bringen, beide wurden immer lauter, dann endete das Ganze in wüsten gegenseitigem Beschimpfungen. Geld hat ihnen keiner gegeben. Ich steige jeden Tag zweimal um, sitze hin und zurück also insgesamt in sechs Zügen, und gefühlt ist in jedem zweiten ein Musikant/Obdachloser. Mich nervt das inzwischen auch, es stört mich aber, wenn Fahrgäste so tun, als seien sie Luft. Leider machen es die meisten so. In der S1 war mal ein ganz großartiger Geiger, den habe ich aber nie wieder gesehen. Der hat eine Melodie gespielt, die ich nicht kannte und die mich total in ihren Bann gezogen hat. Ein paar Wochen lang danach habe ich richtig darauf gehofft, dass er wieder kommt. Es gibt auch einen Osteuropäer mit Blasinstrument, der wirklich toll ist, und dann immer zu schüchtern, einem die Mütze hinzuhalten. Er hört irgendwann auf und wartet, ob jemand auf ihn zukommt und ihm was gibt. Sonst huscht er wieder raus aus dem Waggon, und ich habe schon mehrfach beobachtet, dass Fahrgäste Kleingeld hervorgeholt hatten und dann überrascht waren, als er ausstieg, ohne rumgegangen zu sein."
"Einer ist frech, schlecht, beleidigend"
Frau B: "Ich persönlich finde den Russen (um die Mitte Dreißig, mittlerweile mit Bart) am besten, mit seinem Operngesang und Gitarre. Er könnte wirklich als professioneller Musiker irgendwo auftreten. Er ist zudem nett, nicht aufdringlich und er spiel/singt recht lange. Die Fahrgäste, so wie ich es sehe, finden sein Auftritt recht angenehm. Ganz im Gegenteil zu einem Musiker mit englischen Akzent. Frech, schlecht und immer einen beleidigenden Spruch auf den Lippen (dass die Leute immer arbeiten, kaufen, kaufen, kaufen und nichts abgeben). Ich bin immer froh, wenn er wieder weg ist. Die meisten Leute wenden sich auch von ihm ab. Noch schlechter ist eine Gruppe Südländer mit ihrem Ghettoblaster. Sie können nichts, sind laut, treten nur kurz auf, halten einem gleich den Geldbecher vor die Nase. Die Fahrgäste halten dann meist auch ihre Taschen fest. Ein Mal habe ich erlebt, als ein Gast sie höflich darum bat, keine Musik zu machen, da er las. Sie sind alle förmlich ausgerastet, schrieen den Mann an und beleidigten ihn. Das muss man sich wirklich nicht gefallen lassen, wenn man Ruhe haben will. Die Musiker müssen es akzeptieren und nicht einen als einen kranken Nazi beschimpfen. Zumal er alleine war und die anderen zu mehreren."
"Momente, um den Alltag zu vergessen"
Herr L: "Es gibt Momente, in denen man selbst schlecht gelaunt ist oder beschäftigt mit Dingen, die einen umtreiben. Und wenn dann ein Musiker kommt, wie beispielsweise ein junger Mann in der S1 und Opern singt, und die Stimme auch noch klasse ist, dann ist das wunderschön. Man kann dann für einen Moment den Alltag vergessen, und ich finde, alleine für diese Leistung gebührt dem Tenor auch Anerkennung, und ich gebe immer Geld. Das ist aber die Ausnahme. Meistens ist es nervig, weil die Musiker kaum spielen und selbst schlecht gelaunt sind. Ich verstehe ja, dass man ungehalten ist, wenn niemand Geld gibt, aber das ist ja nun mal ein Business, und es ist ein freier Markt, wenn man dann nicht höflich ist, sondern die Leute auch noch beschimpft, wie ein dicklicher Musiker aus England, dann finde ich das wirklich unangebracht."
"Telefonierer nerven mehr"
Frau M: "Ehrlich gesagt, die Musiker und Bettler, egal wie schlecht die sind oder wie aufdringlich, sind nichts gegen total aufdringlich am Handy telefonierende Menschen, bei denen man gezwungen ist, sämtliche ihrer privaten Probleme mitzubekommen und die einfach nicht merken, dass die S-Bahn ein Raum ist, in dem auch noch andere Menschen sind."
Die Namen der Befragten sind der Redaktion bekannt. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.