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Hartmut Semken steht in der Kritik.
© dapd

Piratenchef Hartmut Semken: Wie ein "Schlag ins Gesicht"

Ist er überfordert? Oder weigern sich die, die ihn kritisieren, einfach, Ruhe zu geben? Hartmut Semken, Landesvorsitzender der Piratenpartei, muss weiter um sein Amt fürchten.

Es war ein „Schlag ins Gesicht“, was Hartmut Semken, Berlins Oberpirat, seiner Basis angetan hat. So sieht es zumindest einer der Piraten, der an diesem Abend in die Kreuzköllner Kneipe „Kinski“ gekommen ist, zum wöchentlichen Treffen der Piraten. Ein Parteichef, der nie ins Amt hätte gelangen sollen und der überfordert ist, das ist eine Hälfte der Geschichte, die an diesem Dienstagabend zu erfahren ist. Ein Parteichef, der sich immer für die Piraten aufgeopfert hat, der seinen Job prima macht und nun einfach mal in Ruhe gelassen werden sollte, das ist die andere Hälfte.

Semken sieht sich mit dem Versuch konfrontiert, ihn als Parteichef zu stürzen, und der Auslöser dafür ist ein Text, den er auf seinem privaten Blog veröffentlich hat. Er ließ wissen, das wahre Naziproblem der Piraten seien nicht die Parteimitglieder, die mit rechtsextremistischen Ausfällen auf sich aufmerksam machen, sondern jene, die immer nach Abgrenzung schrien. Nun, ein paar Tage und eine öffentliche Entschuldigung später, steht er im vorderen Raum des "Kinski" vor rund 20 Piraten und referiert, wie seine Partei eigentlich funktioniert. Das tut er mit Ausdauer. „Opa erzählt vom Krieg“, ruft einer hinein. „Schlimmer“, kontert der Vorsitzende. „Hase erzählt vom Krieg.“ Hase, kurz für Hartmut Semken, das ist sein parteiinterner Spitzname.

Sehen Sie hier, welche 15 Piraten ihre Partei im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten:

Hinten, in einem weiteren Raum, bei viel Club Mate und noch mehr Zigaretten, sitzen jene, die lieber auf den Vortrag verzichten. Es sind Piraten darunter, die zum ersten Mal zu diesem wöchentlichen Treffen gekommen sind, andere sind Stammgäste, auch Mitglieder des Abgeordnetenhauses sind dabei. Einer von ihnen, Oliver Höfinghoff, gehört zu jenen drei einflussreichen Piraten, die Semken öffentlich zum Rücktritt aufgefordert haben. Es gibt aber auch wichtige Piraten, die sich als Unterstützer zu Wort gemeldet haben, so wie Bundespressesprecher Christopher Lang.

Ob Semken noch der richtige Parteichef ist, das ist eines der Themen, das die Piraten an diesem Abend diskutieren. „Mein Ansehen hat offenbar sehr gelitten, auch wenn ich immer noch viel Rückhalt spüre“, dieses Fazit wird Semken später ziehen. Beides ist hier zu spüren.

Tief sitzt bei einigen das Entsetzen über den Parteichef. Zum Beispiel, weil Semken geschrieben hatte, wer zur Blockade von Neonazi-Demonstrationen aufrufe, wende selbst „Nazi-Methoden“ an. Eine so unglaubliche Dummheit sei das, glauben manche, dass sie nicht einfach verziehen werden könne. "Ziemlich oft müssen unsere Vorstände sagen: 'Dazu haben wir leider noch keine Position.' In diesem Fall haben wir eine Position, und der Vorsitzende sagt das Gegenteil. Das ist doch absurd." So sieht es der Abgeordnete Höfinghoff, denn schließlich hätten die Berliner Piraten im Jahr 2012 den Blockade-Aufruf des Bündnisses "Dresden Nazifrei" unterstützt, um einen Naziaufmarsch am Jahrestag der Bombardierung Dresdens zu verhindern.

Sehen Sie hier, mit welchen Pannen die Berliner Piraten schon von sich reden machten:

Sogar, dass die Wahl von Semken nicht mehr gewesen sei als ein Betriebsunfall, glauben manche. Vor der Landesmitgliederversammlung im Februar schien sicher, dass Parteichef Gerhard Anger mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt würde. Doch auf dem Parteitag zog Anger, völlig überraschend, seine Kandidatur zurück. Dann musste alles ganz schnell gehen. Unter Schock habe man gestanden, sagen manche Piraten. Semken sei gewählt worden, weil die vielen Neulinge, die nach der Berlin-Wahl eintraten, ihn als den netten Vortragenden aus dem Kinski kannten. Mehr nicht.
Auch dass er sein Amt ganz anders ausübe, als er es einst versprochen habe, ist zu hören. Schließlich warb Semken mit der Ankündigung für sich, er wolle ein verwaltender Vorstand sein und dafür sorgen, dass die Piraten politisch arbeiten können, ohne mit eigenen Botschaften in den Vordergrund zu treten. Dann aber kritisierte er nur kurz nach seiner Wahl im Interview mit dem Tagesspiegel die Arbeit der Abgeordnetenhausfraktion. Schon damals habe er die Rolle, die ihm zugedacht war, verlassen, sagen seine Kritiker. Und die umstrittenen Blog-Beiträge seien nur der jüngste Beweis: Semken habe nicht verstanden, dass er als Landesvorsitzender nicht mehr einfach seine Privatmeinung auf den Markt tragen könne. Schon gar nicht, wenn es eine solche Meinung sei.

Aber nicht alle sehen das so. Manche schätzen Semkens Arbeit, betonen, wie sehr er sich in den vergangenen Jahren für die Piraten aufgerieben habe. Sie haben schlicht die Nase voll von den Debatten um ihren Parteichef. Schließlich hat der längst öffentlich Abbitte geleistet. Seine Aussagen seien „falsch und unangemessen“ gewesen, hat er in seinem letzten Blog-Beitrag zum Thema geschrieben. Zehn Prozent der Mitglieder des Landesverbands müssen sich zusammentun, damit es zu einer außerordentlichen Landesmitgliederversammlung kommt. Die Unterschriftensammlung läuft. „Einige wenige halten mich offenbar für überfordert, was aber nicht der Fall ist. Aber womöglich sagt das etwas über die Situation anderer Akteure aus.“ So wehrt sich Semken gegen die Angriffe, die ihn sein Amt kosten könnten.

„Verzeiht mir bitte meine Unbedachtheit.“ Das schrieb Semken in seinem letzten Beitrag. Viele scheinen dazu bereit zu sein. Doch für Semken wird es darauf ankommen, wie viele dazu nicht bereit sind.

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