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Sie brauchen Kontakte - Clan-Kriminelle setzen auf bürgerliche Komplizen.
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Berlins kriminelle Subkultur: Wie Beamte, Manager und Ärzte mit Clans illegale Geschäfte machen

Die berüchtigten Clans bilden eine Parallelgesellschaft. Für den Zugang zu sensiblen Daten, Rezepten und Großaufträgen brauchen sie bürgerliche Komplizen.

In den Baumkronen am Kanal zwitschern die Vögel, ein Angler schwenkt seine Rute, es geht gemächlich zu in Teltow. In dem Brandenburger Städtchen betrieb Gerd F. bis vor Kurzem eine Arztpraxis. Die berüchtigten Clans, von denen so oft die Rede ist, kennt man in Teltow nur aus den Fernsehnachrichten über die benachbarte Hauptstadt.

Bis am 27. Mai in Berlin nicht nur das dortige Spezialeinsatzkommando, sondern gleich die Bundes-Eliteeinheit GSG 9 einige Wohnungen der arabischen Großfamilie C. stürmte – und Fahnder in Teltow zeitgleich Gerd F. festnahmen. Dem Arzt wird „banden- und gewerbsmäßiger Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge“ vorgeworfen. Er soll einem Patienten so viel Tilidin verschrieben haben, dass es sicher nicht für den Eigenbedarf gedacht war.

Tilidin ist ein synthetisches Opioid, als Schmerzmittel bekannt, unter gewaltaffinen Kleinkriminellen aber als Alltagsdroge beliebter, weil sich unter deren Wirkung angstfreier zuschlagen lässt. Dem Stammpatienten soll F. auch Tilidin-Rezepte, die auf andere Namen ausgestellt waren, überlassen haben. Die Rezepte wurden in einer Apotheke in Berlin-Neukölln eingelöst, einige der Ampullen schließlich bei einer Zufallskontrolle in einem Wagen der Großfamilie C. gefunden.

Libanons Hisbollah-Miliz und eine Brandenburger Arztpraxis?

Seit Jahren ist von arabischen Clans, kriminellen Großfamilien die Rede: Hunderte Männer mit den immer selben zehn Nachnamen fallen in Berlin durch Raub, Diebstahl, Körperverletzung, Nötigung, Erpressung, Drogen, Betrug aller Art, Geldwäsche sowie Verstöße gegen das Waffengesetz auf. Die Älteren kamen vor 40 Jahren aus dem Libanon, einige ihrer Söhne wurden durch aufsehenerregende Taten oder zur Schau gestellte Kontakte ins Showbusiness bekannt.

Weniger bekannt ist, dass sich die berüchtigten Clans bei aufwendigeren Geschäften von Leuten helfen lassen, die gemeinhin als unverdächtig gelten: Männern mit urdeutschen Namen, soliden Berufen und kaum Vorstrafen. Unter den Komplizen der raffinierteren Täter aus den Großfamilien befinden sich gut verdienende Akademiker, zuletzt sogar einige Beamte deutscher Sicherheitsbehörden. So entdeckten Ermittler beim Abhören und Observieren des Milieus in den letzten fünf, sechs Jahren neben Gerd F., dem Arzt, noch Bernd K., den Manager, Rolf L., den Polizisten, und Stefan P., den Einzelhändler.

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Im Fall der Tilidin-Dealer fanden Ermittler bald heraus, dass die in Berlin gefundenen Ampullen über Rezepte aus Teltow besorgt wurden. Bei der daraufhin im Mai erfolgten Razzia entdeckten Beamte neben Tilidin scharfe Munition. Rund 70.000 Euro soll die Bande durch das Tilidin mit den Teltower Rezepten eingenommen haben. Die hat der Arzt, soweit üblich, bei den Krankenkassen abgerechnet. Ob er von der Tilidin-Bande zusätzlich bezahlt wurde, ist nicht klar. Von der Untersuchungshaft wurde Gerd F., 77 Jahre, verschont.

Deutscher Mittelstand und kriminelle Subkultur

Von den vier Berliner Verdächtigen, die Beamte „überwiegend der Organisierten Kriminalität“ zurechnen, sitzt einer schon wegen anderer Taten in Haft. Nicht nur in Berlin, auch in Beirut sind Männer aus dem involvierten C.-Clan als Schmuggler, Dealer und Unterstützer der islamistischen Hisbollah bekannt. Libanons Hisbollah-Miliz und eine Teltower Arztpraxis? Ermittler gehen davon aus, dass F. wohl nicht genau wusste, mit wem er sich eingelassen habe.

Wenn deutscher Mittelstand mit der kriminellen Subkultur kooperiert, dann nicht aus Sympathie. Neben akuten Geldsorgen dürfte eine gewisse Gier die Leute zu Komplizen gemacht haben.

Ab dieser Woche steht der ehemalige Manager, 48, eines Landesunternehmens vor Gericht. Sein Fall hatte den Senat erstmals 2014 beunruhigt. Bernd K., damaliger Monatsbruttoverdienst fast 30 000 Euro, galt im Betrieb als unbeliebt, in der Politik als ergebnisorientiert. Die Senatoren wünschten sich einen umtriebigen Macher.

Tilidin ist ein Schmerzmittel, in flüssiger Form wird es auf dem Schwarzmarkt als lukrative Droge gehandelt.
Tilidin ist ein Schmerzmittel, in flüssiger Form wird es auf dem Schwarzmarkt als lukrative Droge gehandelt.
© Imago/Stock

Wie umtriebig der Finanzexperte tatsächlich war, bemerkten Ermittler des Landeskriminalamtes. Sie überwachten einen Enddreißiger, der im Umfeld eines arabischen Clans gedealt haben soll. Dabei begegnete ihnen der Manager, der so gar nicht zum Milieu des mutmaßlichen Dealers passte. Vorläufig ergaben die Ermittlungen, dass der drogenaffine Mann einen Reinigungsdienst betrieb und dem Manager 20.000 Euro geboten haben soll, um so einen Großauftrag des Unternehmens zu erhalten.

Die Indizien reichten nicht, 2019 wurde das Verfahren eingestellt, K. ist somit unschuldig. Dass der Ex-Manager trotzdem vor Gericht steht, hat damit zu tun, dass er auch dafür Geld genommen habe, dass eine bestimmte Firma die Telefonanlagen des Staatsunternehmens aufrüstet. Die Staatsanwaltschaft spricht von 250.000 Euro, die K. erhalten haben soll, um einen Fünf-Millionen-Euro-Auftrag an jene Firma zu vergeben. Deren Vertreter, die den Manager für diesen Auftrag bestochen haben sollen, heißen allerdings Thomas und Michael.

"Clans brauchen Kontakte in angesehene Berufsgruppen"

In einer Woche geht am Berliner Landgericht das Verfahren um einen Autoschieberring weiter. Angeklagt sind Männer mit libanesischen, türkischen, polnischen Papieren. Und Rolf L., 47, Polizist, derzeit suspendiert. L. habe seine Komplizen, die gestohlene Jaguar, VW und BMW umgerüstet außer Landes gebracht haben sollen, mit Informationen aus dem Polizeicomputer versorgt. Was er dafür bekam? Bislang hieß es: Geld und Kokain.

In Berlin ist Oberstaatsanwalt Thorsten Cloidt für Ermittlungen im Clanmilieu zuständig. Zu laufenden Verfahren äußert er sich nicht. Aber Cloidt kennt die Fälle, in denen deutsche Akademiker einschlägigen Großfamilien halfen. „Clan-Kriminelle brauchen für ihre Taten nicht zwingend Komplizen aus anderen Milieus, aber sie greifen immer wieder auf Leute aus anderen Kreisen zurück“, sagt der Staatsanwalt. „Täter aus den einschlägig bekannten Familien brauchen Kontakte in angesehene Berufsgruppen. Denn solche Zugänge haben die Familien nicht aus sich selbst heraus.“

Salopp formuliert: Ein Medizin-Studium hat in diesen Familien niemand absolviert, in den Vorstand eines Landesunternehmens schaffte es auch keiner. Aber Kontakte in, sozusagen, bessere Kreise stellen Clan-Männer eben immer mal wieder her.

So griff auch der Betreiber eines Sanitätshauses 2015 auf die Dienste einer Großfamilie zurück. Über Jahre hatte Stefan P. die Krankenkassen betrogen, indem er Verordnungen für Einlagen und orthopädische Schuhe im Wert von 600.000 Euro abrechnete, die niemand brauchte. Die Rezepte lieferte ihm unter anderem ein Mann namens Ali, hieß es vor Gericht, der 100 Versichertenkarten einer weitverzweigten Familien besorgt hatte – und dafür angeblich 250 Euro „Leihgebühr“ pro Stück bekam.

Razzia in Berlin im Mai - verdächtigt ist auch ein Arzt. Er soll der Großfamilie C. illegitim Rezepte verschafft haben.
Razzia in Berlin im Mai - verdächtigt ist auch ein Arzt. Er soll der Großfamilie C. illegitim Rezepte verschafft haben.
© Paul Zinken/dpa

Den Clans bleibt die Macht auf der Straße, die Dominanz in den Nischen bestimmter Kieze. Vergangenes Jahr rückte Berlins Polizei zu 382 Einsätzen zur Bekämpfung der Clankriminalität aus. Beamte kontrollierten 322 Lokale, 190 Shisha-Bars, 60 Wettbüros, 25 Friseure und elf Juweliere. Sie beschlagnahmten 35.000 Euro aus Drogengeschäften, 554 Kilogramm unversteuerten Tabak, 123 Autos und 104 Waffen.

Massenschlägereien, Auto-Raserei, Pöbeleien - gesellschaftlich sind die Clans isoliert

Gesellschaftlich sind die Familien, deren Mitglieder meist deutsche Staatsbürger sind, weitgehend isoliert – und sie marginalisieren sich fortlaufend selbst. Immer wieder prügeln sich die Clan-Männer wegen Bagatellen untereinander, ziehen wegen Autorennen, Verstößen gegen die Corona-Maßnahmen und öffentlichkeitswirksamen Pöbeleien unnötige Aufmerksamkeit auf sich.

Vergangenes Jahr definierte das Bundeskriminalamt den Terminus „Clan-Kriminalität“, als das systematische Begehen von „Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen“, die sich durch archaische Familienstrukturen, mangelnde Integrationsbereitschaft und grundsätzliche Ablehnung der Rechtsordnung auszeichnen.

Im April dieses Jahres rasten Angehörige des R.-Clans zum Kreuzberger Urban-Krankenhaus, steuerten dabei auf einen Polizisten zu, der sich durch einen Sprung zur Seite retten musste, blockierten lautstark die Klinikflure: Im Krankenhaus wurde die Mutter des Patriarchen des Clans behandelt. Im September 2019 beschossen sich rivalisierende Clan-Männer in Charlottenburg. Nur Wochen zuvor lieferten sich die Familien A. und R. in Neukölln mit Macheten und Verkehrsschildern eine Straßenschlacht.

All das Rohe, Archaische bedeutet nicht, dass es Berlins einschlägige Clans nicht in anderen Sphären versuchen. Und dann auf die Hilfe unauffälligerer Bürger zurückgreifen. Familie R., das ist vielfach berichtet worden, soll 77 Immobilien im Gesamtwert von 9,3 Millionen Euro erworben haben. Die Wohnungen, Häuser, Grundstücke wurden 2018 wegen des Verdachts der Geldwäsche vorläufig eingezogen. Den Stammsitz der Großfamilie hatte 2014 ein 19-jähriger, erwerbsloser Sohn erworben. Die landeseigene Eigentümergesellschaft der Villa verkaufte sie ihm dennoch.

Alle Immobiliengeschäfte der Großfamilien segnete ein Notar ab

Nicht nur diesen Kauf, auch jedes andere Immobiliengeschäft der Familie R. segnete ein Notar ab. Die Justizverwaltung hatte nicht zuletzt wegen der Clan-Geschäfte 2019 eine Task Force „Geldwäsche“ eingesetzt. Die Beamten überprüften in diesem Jahr zunächst 25 Berliner Notare, schon dabei ergaben sich elf Verdachtsfälle: Es geht um Immobiliengeschäfte sowie um die Übertragung von Unternehmensanteilen. Nun soll die dem Zoll unterstellte Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen die Fälle genauer prüfen.

Dass die 77 Immobilien des R.-Clans überhaupt eingezogen werden konnten, liegt an einer seit 2017 geltenden Regel im Strafgesetzbuch. Zuvor musste der Staat nachweisen, dass das Geld für Häuser, Schmuck, Luxuswagen aus Verbrechen stammt – erst dann konnten die Güter eingezogen werden. Nun gilt eine teilweise Beweislastumkehr: Besteht „kein vernünftiger Zweifel“, wie die Bundesregierung mitteilte, dass Vermögen aus kriminellen Taten stammt, kann es auch dann eingezogen werden, wenn die konkrete Tat, aus der die Beute stammt, nicht nachgewiesen wird.

Für die Immobiliengeschäfte brauchen auch Clan-Männer einen Notar. Von 25 in Berlin dieses Jahr überprüften Notaren fanden Justizkontrolleure bei elf "Verdachtsmomente".
Für die Immobiliengeschäfte brauchen auch Clan-Männer einen Notar. Von 25 in Berlin dieses Jahr überprüften Notaren fanden Justizkontrolleure bei elf "Verdachtsmomente".
© David Ebener/dpa

Vielen Ermittlern reicht das nicht, so fordert der Bund Deutscher Kriminalbeamter eine volle Beweislastumkehr wie sie in Italien gilt: Wer die legale Herkunft seines Vermögen nicht ausnahmslos darlegt, dem kann es der Staat wegnehmen. „Dann würde es für viele eng, die bislang niemand im Blick hatte – die Protzer aus den Clans sind ja noch vergleichsweise leicht zu entlarven“, sagt ein mit dem Milieu vertrauter Beamter. „Trotz der Gesetzesnovellierung 2017 ist Deutschland ein Geldwäscheparadies.“

Wie viel Profit die Familien tatsächlich machen, wie viel Geld davon in Deutschland versickert, welche Summen in den Libanon transferiert werden – darüber können Ermittler nur spekulieren. Die Familien halten zusammen, belastende Aussagen sind selten. Und auch die bürgerlichen Helfer haben keinen tieferen Einblick in die Strukturen: Von der Innenwelt des Milieus, den Traditionen, der Familienehre sind die Komplizen mit den urdeutschen Vornamen weit weg.

Das ist bei Björn, Mitte 30, anders. Der Hüne ist in der Berliner Rotlichtszene seit Jahren bekannt. Früher bewegte sich der Mann unter Rockern, die auf der Straße inzwischen aber kaum noch was zu sagen haben. Seit zwei, drei Jahren wird er häufig mit aktenkundigen Clan-Mitgliedern gesehen. Ermittlern fiel er wegen Eigentums- und Waffendelikten auf. Dem Kraftprotz soll in Neukölln ein Lokal gehören, für das – milieutypisch – jemand anderes als Betreiber eingetragen ist. Björn vermietet an Szenegrößen zudem Autos und betreibt einen Handy-Shop.

Erhalten die Clans die Daten ihrer Konkurrenten durch Handy-Shops?

Letzteres beunruhigt Ermittler. Üblich ist, dass Mobilfunkanbieter zahlreiche Einzelunternehmer lizenzieren, die dort Handy-Verträge abschließen und Smartphones verkaufen. Dabei haben die Betreiber unvermeidbar Zugriff auf Namen, Telefonnummern, Adressen ihrer Kunden. Befürchtet wird in Björns Fall, dass das Milieu so an die Daten unliebsamer Kritiker, Beamter und Konkurrenten gelangen kann.

So nah stand Gerd F., der Arzt aus Teltow, den Großfamilien nie. Der Neurologe hat die Männer, die das Tilidin verkauften, wohl nicht getroffen. Sollte er verurteilt werden, droht ihm trotzdem Haft. Für gewerbs- und bandenmäßigen Betäubungsmittelhandel „in nicht geringer Menge“ sieht das Gesetz mindestens fünf Jahre Freiheitstrafe vor.

F. war – wie die anderen Beschuldigten auch – nicht zu erreichen. Bis zu einer Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.

Müssen Mitglieder bekannter Clans selbst ins Gefängnis – und das ist häufiger der Fall, als in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird – können sie sich erstaunlich oft auf den vorauseilenden Ruf ihrer Familie verlassen. Mithäftlinge sind aus Sorge vor der Macht der verzweigten Clans vorsichtig, Bedienstete zuweilen auch. Und gelegentlich helfen Justizvollzugsbeamte den inhaftierten Sprösslingen der Großfamilien sogar.

Vor einigen Tagen wurde ein Mann aus Potsdam-Mittelmark angeklagt. Der 40-Jährige ist Beamter der Justizvollzugsanstalt Heidering, die in Brandenburg liegt, aber von Berlin betrieben wird. Die Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung in Neuruppin wirft dem Beamten neben Bestechlichkeit auch Beihilfe zum Betäubungsmittel-Handel vor. Er soll einem Verurteilten der Familie R. neben Mobiltelefonen auch Drogen in die Zelle geliefert haben.

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