Mythos und Wahrheit zum "Tatort Alex": Wer hat Angst vorm Alexanderplatz?
U-Bahn-Schläger, Junkies und Saufgelage. Wäre der Alexanderplatz ein Mensch, hätte er viele Feinde. Dabei ist Berlins "Problemplatz" weit besser als sein Ruf, sagen Experten - und warnen vor Panikmache.
Touristen schlendern mit Primark-Tüten zwischen den Gleisen, eine Straßenbahn verjagt sie bimmelnd, in Schrittgeschwindigkeit zieht das Kontakt-Mobil der Berliner Polizei seine Kreise. Wie immer wuseln am Alexanderplatz in Mitte Menschen aus unterschiedlichsten Milieus durcheinander. Mehr als 300 000 Personen überqueren täglich das Herz des ehemaligen Ost-Berlins mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unterschiedlichen Motiven – am Dienstagabend einige durchaus hektisch und genervt, aber alle friedlich.
„Und hier sollen wir uns jetzt also gruseln?“, fragt Ricarda Pätzold, die am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) unter anderem zu Sicherheit in urbanen Räumen geforscht hat und gerade eine Runde über den Platz dreht. Dabei verfolgt die diplomierte Stadtplanerin durchaus die beinahe wöchentlich erscheinenden Berichte über Gewalttaten im Bereich zwischen Rotem Rathaus und der Alexanderstraße, die gerne mit dem Label „Tatort Alex“ versehen und in Zusammenhang mit den tödlichen Tritten auf Johnny K. im Oktober 2012 gestellt werden.
Erst in der Nacht zu Sonnabend tauchte der Alexanderplatz wieder in den Nachrichten auf, als zwei Männer im Bus zwischen den Haltestellen Berliner Rathaus und Nikolaiviertel niedergestochen wurden und im U-Bahnhof Klosterstraße eine Gruppe Männer einen 25-Jährigen brutal verprügelt, niedergestochen und auf die Gleise geworfen hatte – er ist mittlerweile außer Lebensgefahr. Auch der am Ostersonntag vor der Ruine der Franziskaner-Klosterkirche tot aufgefundene Israeli war zunächst ein Opfer vom Alexanderplatz.
Der Alex ist vor allem eine Erzählung
„Was ist überhaupt der Alex? In der Berichterstattung reicht er ja bisweilen bis zur Klosterkirche“, sagt Pätzold, während sie sich dem Todesort von Thorsten Neumann nähert. Neumann wurde im August 2014 erstochen, als er einen Streit zwischen zwei betrunkenen Gruppen schlichten wollte. Korrekterweise müsste man von der Einmündung der Rosa-Luxemburg-Straße in die Karl-Liebknecht-Straße sprechen, sagt die Stadtforscherin, doch das habe dann keinen so hohen Nachrichtenwert. Durch die wiederholten Berichte über den Alexanderplatz als Tatort würde der Ort mit einer bestimmten, stigmatisierenden Erzählung ausgestattet, die vereinfacht ungefähr lautet: Hier können unbescholtene Bürger grundlos auf die Fresse bekommen oder ein Messer zwischen die Rippen.
Subjektive Sicherheitsgefühle
Diese Sorge teilen auch die Polizei und Innensenator Frank Henkel. „Mich macht nicht nur die brutale Tat betroffen, sondern auch ihre möglichen Folgen auf das subjektive Sicherheitsgefühl vieler Menschen“, sagte Henkel nach dem Mord an Neumann. Polizeisprecher Stefan Redlich geht davon aus, dass über Geschehnisse am Alexanderplatz fast immer berichtet würde, während es vergleichbare Delikte von anderen Tatorten oftmals nicht oder nicht prominent in die Nachrichtenspalten schafften. „Die starke mediale Thematisierung wirkt sich auf das Sicherheitsgefühl aus“, sagt Redlich.
Überhaupt steht beim „Alex“ das Gefühl vielleicht stärker im Vordergrund als das tatsächliche statistische Risiko. Stolz betonen Polizei und Innensenator, dass die Zahl der Gewalttaten am Platz dank der erhöhten Polizeipräsenz nach dem Fall Johnny K. deutlich zurückgegangen sei – von 634 Fällen im Jahr 2012 auf 570 im Jahr 2014. 570 Fälle hören sich aber immer noch gefährlich an, zumindest wenn man davon ausgeht, dass sie nach dem Muster von Johnny K., Thorsten Neumann oder dem 25-Jährigen von der Klosterstraße ablaufen.
Der Unterschied von Mördern und Taschendieben
Aber die Statistik fasst verschiedenste Vergehen zusammen: Rangeleien nach Demonstrationen wie dem Hungerstreik der Flüchtlinge im vergangenen Sommer, versuchte Taschendiebstähle, die zu kleineren Raubüberfällen werden, oder eskalierende Streits unter Obdachlosen. Alles in allem weicht die Zahl der Delikte am Alex nicht auffällig von der an anderen Knotenpunkten wie dem Kottbusser Tor oder dem Bahnhof Zoo ab, wenn man ins Verhältnis setzt, wie stark die Orte jeweils frequentiert werden – und auch dort gab und gibt es immer wieder brutale Übergriffe. Trotzdem wurden in jüngerer Zeit gerade für den Alexanderplatz Maßnahmen gefordert, die von noch mehr Polizei über eine komplette Video-Überwachung bis hin zu flächendeckenden Alkohol- und Waffenverboten reichen.
Was macht den Alex also so besonders, dass sich die meisten Sicherheitsdebatten um ihn drehen? „Die Architektur wird häufig beschuldigt“, sagt Pätzold. „Die Offenheit des Platzes gefällt vielen nicht, die fühlen sich dann nach jedem Vorfall bestätigt.“ Dabei trägt diese Offenheit im Gegenteil eher dazu bei, dass man sich sicher fühlt. Zudem passieren Gewalttaten grundsätzlich eher an Rändern und Übergängen eines Platzes, wo es zu unübersichtlichen Situationen kommt. „Das, was in der Forschung zu sogenannten Angsträumen erarbeitet worden ist, ist hier ja schon alles umgesetzt: es gibt kaum hohe Hecken oder nicht einsehbare Winkel“, sagt Pätzold und blickt demonstrativ in alle Richtungen.
Keine Architektur produziert friedliche Lämmchen
Johnny K. wurde in keiner dunklen Ecke attackiert, sondern auf der gut einsehbaren Verlängerung der Rathausstraße, an der die Urbanistin mittlerweile angekommen ist. Die Kritik an der Offenheit und Rohheit der Architektur ist aus wissenschaftlicher Perspektive verfehlt. „Der Platz ist nicht das eigentliche Problem; es gibt keine stadt- oder landschaftsplanerischen Maßnahmen, die alle Menschen zu friedlichen Lämmchen machen“, stellt die Forscherin klar.
Viel wichtiger für das Sicherheitsgefühl sei die Belebtheit eines Ortes. Zwar gebe es relativ wenige direkte Anwohner. Davon abgesehen ist am Alex jedoch immer irgendetwas los: Auch nachdem die Einkaufszentren geschlossen sind und die Sonne untergegangen ist, sind zahlreiche Lokale und die Bahnhöfe geöffnet, immer Menschen unterwegs. „Sicherheit funktioniert über soziale Kontrolle: Der Restaurantbesitzer will ja nicht, dass vor seinem Laden etwas passiert.“ Dagegen kümmerten sich die Sicherheitskräfte in den Shopping-Malls vor allem um die Durchsetzung des Hausrechtes und kaum darum, was außerhalb des Eingangsbereiches passiert. „So entstehen Komfortzonen und in der Konsequenz wirkt die normale Stadt bedrohlicher.“
Verantwortung übernehmen
Pätzold sieht die Anrainer – Kneipen, Einzelhandel, Bahn – in der Pflicht, mehr Verantwortung für den gemeinsamen öffentlichen Raum zu übernehmen. Deshalb steht die Stadtplanerin den Forderungen nach noch mehr Polizeipräsenz, die nach jedem Fall aufkommen, skeptisch gegenüber: „Die Polizei muss auf öffentlichen Druck hin versprechen, dass so etwas nie wieder vorkommt. Aber auch wenn sie mehr Beamte hinschickt, wird man das nie ausschließen können – man kann ja nicht jedem Passanten einen Polizisten an die Seite stellen.“
Damit liegt sie auf einer Linie mit Frank Henkel, der 2014 mitteilte: „Die Polizei kann nicht alles allein regen, was auf diesem Platz an Alkohol, Vernachlässigung und sozialen Spannungen aufeinanderprallt.“ In jeder Wochenendnacht versuchen zwölf Beamte, Sicherheit zu gewährleisten. Doch auch diese hohe Präsenz schreckt die Täter nicht immer ab.
Kameras könnten Zivilcourage noch mehr bremsen
Könnte eine Video-Überwachung mehr Erfolg versprechen? Immerhin stieg die Aufklärungsquote von Gewalttaten seit der Einführung von Kameras in den Bahnhöfen Zoo, Kottbusser Tor und eben Alexanderplatz deutlich. „Bei den meisten solcher Gewalttaten ist sicher Alkohol im Spiel. Wenn ich 2,5 Promille auf dem Zähler habe, ist mir die erzieherische Wirkung der Kamera eher egal“, sagt Pätzold. Im Gegenteil könnte Überwachung eventuell kontraproduktive Folgen haben: „Vielleicht hemmt das sogar die soziale Kontrolle und Zivilcurage, weil Leute denken, sie sind dafür nicht zuständig.“ Zudem ist eine Videoüberwachung für ganze Plätze unzulässig, stellte Henkel Anfang Februar klar. Der Innensenator glaubt zudem, dass „Technik allein nicht hilft“.
Ist der Alkohol die Wurzel allen Übels? Tatsächlich spielten sich die brutalsten Gewalttaten unter Alkohol- oder Drogeneinfluss ab. „Es gibt viele Clubs in der Nähe, das ist ein Kreuzungspunkt für Leute, die von diversen Partys kommen. Hier treffen unterschiedliche Milieus in einem enthemmten Zustand aufeinander, da kann es zu Konflikten kommen“, erklärt Pätzold. Ein Alkoholkonsumverbot gilt bereits im Bereich zwischen Fernsehturm, Spandauer Straße und Rotem Rathaus. Doch kann es das Problem ebenso wenig lösen wie ein Alkoholverkaufsverbot, schließlich seien die Täter in den allermeisten Fällen schon betrunken, bevor sie den Platz betreten.
Beunruhigende Sicherheitsmaßnahmen
Auch über ein totales Waffenverbot mit drakonischen Strafen, wie es in einigen Hamburger Kiezen gilt, wurde mit Blick auf den Alexanderplatz nachgedacht. Doch wie bei einem Alkoholverbot stellt sich die Frage, wer dies wie kontrollieren soll – und was stichprobenartige Taschenkontrollen mit dem Sicherheitsempfinden der Passanten machen. „Wie wirken sich viele der immer wieder diskutierten Strategien und Maßnahmen auf das städtische Leben aus, während sie die tatsächliche Sicherheit kaum erhöhen?“, fragt Pätzold rhetorisch auf dem Weg zurück zur Weltzeituhr.
Das grün-weiße Kontaktmobil steht wieder im nördlichen Teil des Platzes. „Alles ruhig heute“, sagt ein Polizist gelangweilt durch das halb geöffnete Fenster.