Konflikte im Berliner Straßenverkehr: Wenn sich Verkehrsteilnehmer beschimpfen
Hermann Bohlen hat ein Hörspiel über den Wahnsinn im Berliner Verkehr gemacht. Inspiriert wurde er von seinen Alltagserfahrungen in Kreuzberg.
Autohupen, Quietschen, Drohungen, sexistische Beleidigungen – das ist der Sound, der jeden Tag auf Berlins Straßen zu hören ist. Im toten Winkel, dem Straßenverkehr, entgleitet wütenden Menschen die Kontrolle: „Das habe ich alles auf der Kamera, du kleiner Pisser“ ist da noch eine harmlose Variante. Für sein Hörspiel „Tote Winkel – Dem Irrsinn des Straßenverkehrs auf der Spur“ fand Hermann Bohlen Inspiration auf Twitter und auf Kreuzbergs Straßen.
„Anfangs habe ich Fahrradfahrer gebeten, sich ein Mikrofon umzuhängen und in brenzligen Situation richtig die Sau rauszulassen.“ Die Ergebnisse klangen dem Hörspielmacher dann aber zu schüchtern, zu verhuscht. Authentisch sollte es sein, obwohl in seinem Verkehrshörspiel so manches erfunden ist.
Das war schon bei seinem ersten Stück vor 25 Jahren so. Damals suchte er sich Experten mit einem bestimmten Jargon: Soziologen, Polizisten oder brave Bürger. Die erzählten die fiktive Geschichte über eine unbekannte Bevölkerungsgruppe, die „Unsortierbaren“, so glaubhaft, dass es schwerfällt, ihr nicht auf den Leim zu gehen.
Ein Stück über den „Irrsinn des Straßenverkehrs“ zu machen, lag für den Hörspielmacher nahe, sozusagen direkt vor der Haustür. In Friedrichshain-Kreuzberg ist er oft mit dem Fahrrad unterwegs und regt sich dabei täglich auf. Gäbe es nicht das Wochenendhaus in der Märkischen Schweiz, wäre er mit seinen zwei Töchtern und seiner Frau, der preisgekrönten Hörspielregisseurin Judith Lorentz, „schon längst aus Kreuzberg ausgerückt“. Aber er ist sich auch sicher: Irgendwann verschwinden die Autos von Berlins Straßen.
Die grünen Punkte auf der Fahrbahn der Bergmannstraße, die Poller, mit denen das Bezirksamt den Verkehr beruhigen will – dies seien Schritte in die richtige Richtung, findet Bohlen. Nur die Inszenierung des Grünen-Stadtrats Florian Schmidt ist ihm nicht geheuer: „Damit sollte er ein bisschen sparsamer umgehen, um nicht zu viel Skepsis zu erregen.“
Wie das bei ihm selbst so ablaufe mit der Wut? „Ich spreche laut, schreie und klopfe auch mal aufs Dach.“ Das klingt nach der zentralen Figur in seinem Hörspiel, die berichtet: „Es fing damit an, dass ich Leuten aufs Dach gehauen habe, wenn die mich geschnitten haben.“
Und tatsächlich sprach Hermann Bohlen die Rolle selbst ein. Beim Geklopfe auf Autodächer bleibt es in „Tote Winkel“ nicht – im Beisein seiner Tochter verliert der Mann die Beherrschung und es kommt zu einer Schlägerei. Deswegen muss er zur „verkehrstherapeutischen Maßnahme“.
Frei von Moral und Sittlichkeit
Experten zum „Irrsinn des Straßenverkehrs“ fand Bohlen im Internet. Auf Twitter durchforstete er wütende Posts und aufgeheizte Diskussionen, stieß schließlich auf den Nutzer @Poliauwei, der seinen echten Namen nicht nennen möchte. Mit ihm war Bohlen drei Stunden in Kreuzberg unterwegs – ausgerüstet mit einem auf dem Helm angebrachten Mikrofon, „um die Hände frei zu haben beim Aufnehmen“. Die meisten Töne der Tour taugten allerdings nur zur Inspiration – beide waren zu aufgeregt, um so richtig auszurasten.
Einen besonders heftigen Pöbelton stellte ihm der Twitterer @rad_ritter zur Verfügung: Mit dem Übersehen beim Abbiegen fängt es an – der Radfahrer macht das Handzeichen, wird aber trotzdem vom Autofahrer überholt. Er klopft gegen das Auto, daraufhin wird der Fahrer aggressiv, schimpft wüst drauflos und will dem Radfahrer sogar die Kamera vom Helm reißen. Die Tonspur der hitzigen Situation durfte Bohlen für sein Hörspiel verwenden.
Doch nicht alle Straßenverkehrsexperten wollten ihr Material freigeben: „Einen besonders ausdrucksvollen Ton, der seit Jahren auf Youtube verlinkt ist“, bekam Hermann Bohlen nicht, obwohl er dem Mann ein Honorar dafür anbot. Wahrscheinlich, so vermutet er, habe der Motorradfahrer Sorge gehabt, ob die Youtube-Veröffentlichung seiner Kameraaufnahmen legal sei – denn eigentlich bedarf es dafür laut Paragraf 22 des Kunsturhebergesetzes einer Einwilligung aller Betroffenen.
Glücklicherweise gibt es Hörspielstudios und Sprecher, die Situationen glaubhaft nachstellen können. So verzahnte der Hörspielmacher nachgestellte und auf der Straße aufgenommene Töne mit den therapeutischen Sitzungen. Außerdem zu hören: ein Kinderchor, der in Kombination mit Sirenen und Unfallgeräuschen Gänsehaut verursacht.
Auf der Straße lebten manche Verkehrsteilnehmer etwas aus, das „alle Moral- und Sittlichkeitsgesetze“ außer Kraft setze. So beschreibt es im Hörspiel ein Polizist, der den Jargon nicht spielen muss, weil er wirklich mal Polizist war.
Beleidigungen, Drohungen bis hin zu Körperverletzungen – das passiert jeden Tag im Berliner Verkehr. Wohin es im Ernstfall führen kann, möchte man lieber nur als Inszenierung hören, nicht selbst erleben.
Das Hörspiel „Tote Winkel – Dem Irrsinn des Straßenverkehrs auf der Spur“ ist noch bis zum 31. Mai 2020 hier in der Mediathek des WDR zu finden