Historiker erklärt, wie Krisen Gesellschaften verändern: „Wenn sich eine Stadt mit Krisen auskennt, dann Berlin“
Die Hauptstadt hat schon manchen Umbruch erlebt. Ein Historiker sagt, was sich aus der Geschichte für die Coronakrise lernen lässt.
Am Ende ging es ganz schnell. Das Kinosterben in Berlin hatte zwar schon ein paar Jahre vor dem schicksalhaften Tag begonnen. Der Fernseher war auf dem Markt und zog langsam in die Wohnzimmer ein. Es gab aber damals, Anfang der 1960er Jahre, noch viele Grenzkinos in Kreuzberg, Neukölln, Tiergarten, Wedding und Reinickendorf, die vor allem von Ost-Berlinern besucht wurden.
Als am 13. August 1961 der Mauerbau begann, wurden die meisten Grenzkinos innerhalb weniger Wochen geschlossen. Der Mauerbau hatte den Trend des Kinosterbens beschleunigt.
Das ist eines der Beispiele, die Hanno Hochmuth anführt, wenn man mit ihm über die Coronakrise spricht.
Was die Ereignisse von 1961 mit dem Virus zu tun haben? Sie sind ein Beispiel für eine der vier Lehren aus der Geschichte, die Hochmuth zufolge auch auf die Coronakrise zutreffen.
Krisen beschleunigen gesellschaftliche Prozesse. Krisen führen zu mehr Solidarisierung. Sie führen zugleich aber auch zum Gegenteil - einer Endsolidarisierung. Und Krisen können auch eine Chance sein.
Krisen beschleunigen gesellschaftliche Prozesse
„Wenn sich eine Stadt mit Krisen auskennt, dann ist das Berlin“, sagt Hochmuth. „Vielleicht hilft uns das auch in dieser Situation.“ Hochmuth ist Historiker und hat sich mit den Umbrüchen beschäftigt, die Berlin im Laufe seiner Geschichte erlebt hat. Der 42-Jährige ist wissenschaftlicher Referent am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und hat unter anderem die Ausstellung „Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt“ mit kuratiert.
Wie die Coronakrise aktuell gesellschaftliche Prozesse beschleunige, zeigen für den Historiker verschiedene Beispiele. Die Digitalisierung, die schon lange in Schulen, Universitäten und Unternehmen gefördert werden soll, habe durch die aktuellen Entwicklungen der vergangenen Wochen einen riesigen Schub bekommen. Der Flughafen Tegel könnte angesichts der ausbleibenden Passagiere nun ein halbes Jahr eher geschlossen werden als geplant
Krisen führen zu mehr Solidarisierung
Solidarisch seien die Berliner vor allem zur Zeit des Mauerbaus gewesen, sagt Hochmuth. In der von ihm ko-kuratierten Ausstellung „Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt“ wurden einzelne Kassiber, geheime schriftliche Mitteilungen, gezeigt. Kleine Nachrichten, die DDR-Grenzsoldaten, obwohl das sehr gefährlich war, kurz nach dem Mauerbau über die Mauer in den Westen geworfen hatten. Auf einem Zettel stand: „Ich hätte eine Bitte! Würden Sie so gut sein und mir ein paar nahtlose Strümpfe über die ‚Mauer' werfen? Bei uns gibt es so schlecht welche. Größe 9,5; nicht allzu hell! Im Voraus besten Dank, Ihr Freund!“
Die Ausstellung präsentierte auch die Nachricht, die daraufhin vom Westen in den Osten geworfen wurde: "Bitte schreiben Sie uns eine Adresse auf, wo wir die Strümpfe hinschicken können oder wir werfen die Strümpfe hier herüber, wenn Sie wieder hier stehen, aber das erste wäre wohl besser! Ihre Freunde!" Diese Anekdote ist nur eine von vielen Geschichten aus der Zeit der geteilten Stadt. „Das war eine ganz ungewöhnliche Solidarität, die es in dieser Zeit zwischen Ost- und West-Berlinern gab“, sagt Hochmuth.
Diese Solidarität hätte es nicht nur in Form von Briefen über der Mauer gegeben, sondern auf sehr vielen Wegen. Familiäre Beziehungen zwischen Ost- und Westberlin seien zu dieser Zeit sehr stark gewesen. „Meine Oma behielt sehr engen Kontakt zu ihrer Schwägerin in Lichtenrade. Sie ist zu Mauerzeiten ständig rüber nach West-Berlin gefahren und versorgte uns mit den Geschenken der Westverwandschaft“, erzählt Hochmuth, der im Prenzlauer Berg aufgewachsen ist. Seine Oma konnte als Rentnerin seit den 1970er Jahren nach West-Berlin fahren, um ihre Schwägerin zu besuchen, die sie mit Westgeld versorgte.
Krisen führen auch zur Endsolidarisierung
Als die Mauer gefallen war, hätte es eine auffällige Endsolidarisierung gegeben. Familiäre Beziehungen und Netzwerke, die während der Mauerzeit aufrechterhalten wurden, seien in den 90er Jahren eingeschlafen. Viele Ost und Westberliner Familien hätten danach wenig Kontakt gehabt.
„Auch bei uns ist das so gewesen. Zu meinen Lichtenrader Verwandten habe ich kaum noch Kontakt“, sagt Hochmuth. „Es ist erstaunlich, wie hoch die Solidarität in der Krisenzeit war. Aber als dann der Bedarf nicht mehr da war, brach der Kontakt oft ab.“ Für Ost- und Westberlin sei es schwierig gewesen, zusammenzuwachsen.
Auch Leserinnen und Leser des Tagesspiegels berichten, wie wichtig es sei, in dieser Krise aufeinander zu achten. Andere schreiben aber auch, dass sie egoistische Menschen erleben. Ein Beispiel hierfür sind die Hamsterkäufe in Supermärkten. Diese „Endsolidarisierung“ ist für eine Krise nicht ungewöhnlich, weiß Historiker Hochmuth.
Das „Hamstern“ war in Berlin 1945 weit verbreitet
So sei das „Hamstern“, wie wir es heute im Fall von Großeinkäufen in Supermärkten erleben, im Berlin des Jahres 1945 weit verbreitet gewesen. „Die Berliner sind damals massenweise für Hamsterfahrten nach Brandenburg gefahren und haben Kartoffeln von den Kartoffeläckern der Brandenburger Bauern geklaut. Das war eine gängige Nachkriegspraxis. Die Menschen haben das gemacht, um Essen für ihre Familien zu bekommen“, sagt Hochmuth. Die Angst, nichts zu essen zu haben, löse Urinstinkte aus.
Die Menschen möchten sichergehen, dass sie versorgt sind. Sie handeln instinktiv mit dem Angstgehirn, was zu Hamsterkäufen und irrationalem Handeln führt. „In unmittelbaren Krisensituationen sind Menschen oft solidarisch, weil man gemeinsam stärker ist. Es ist ein Urinstinkt, Schutz in der eigenen Gruppe zu suchen. Aber es gibt auch immer wieder Situationen, wo das Gegenteil passiert ist.“ Laut Hochmuth wird deshalb gerade von der deutschen Politik sehr oft an die Rationalität der Bürger appelliert. Es wird nicht mit Ängsten gespielt.
Hass auf egoistische Menschen
In der Zeit zwischen Blockade und Mauerbau gab es unter Westberlinern einen regelrechten Hass auf Menschen, die vermeintlich egoistisch waren und sich nicht solidarisch zeigten. Da ging es zum Beispiel um diejenigen, die nach Ostberlin fuhren, um dort günstiges Brot zu kaufen. Dieser Egoismus in Krisenzeiten war damals ein so großes Thema, dass er sogar einen Riss durch Westberliner Familien zog. Die entscheidende Frage war: Wer kauft billig im Osten ein und wer nicht.
„West-Berliner Bäcker haben Anfang der 1950er Jahre sogar ein ‚W' auf ihre Brotlaibe gestempelt, sodass man sehr genau sehen konnte, ob eine Familie zu Herrn Schimpf und Frau Schande gehörte und sich in Ost-Berlin mit billigerem Brot versorgte, oder ob sie solidarisch war und West-Berliner Brot kaufte. Das war ein Kontrollmechanismus im Alltag“, erzählt Hochmuth.
Für alle, die Berlin schöner und solidarischer machen, gibt es den Tagesspiegel-Newsletter „Ehrensache“. Er erscheint immer am zweiten Mittwoch im Monat. Hier kostenlos anmelden: ehrensache.tagesspiegel.de.
Fake News führten zu Egoismus
Für den Egoismus, die Endsolidarisierung, hätten aber auch Fake News eine wichtige Rolle gespielt, die während Krisen ihre Hochzeiten haben. „Es gab in der DDR damals aus verschiedenen Gründen Missernten. Die SED behauptete, dass Amerikaner Kartoffelkäfer über die DDR-Felder abgeworfen hätten, um die Ernten zu zerstören“, sagt Hochmuth. Solche Gerüchte würden es einer Gesellschaft erschweren, solidarisch zu sein.
Aus den meisten Krisen in der Vergangenheit sind nach Ansicht von Hochmuth unterschiedliche neue Chancen entstanden. Das Coronavirus fördert nicht nur technische Möglichkeiten wie die Digitalisierung, sondern auch soziale Begebenheiten. Berlin ist geprägt durch Enge und volle Straßen. Viele Berliner leben anonym, es gibt keine festen Rollen. Durch Corona ändert sich einiges.
Krisen können auch eine Chance sein
„Plötzlich gibt es eine neue Achtsamkeit von Menschen aufeinander“, sagt er. „Das betrifft nicht alle Menschen, aber im Wesentlichen bewegen wir uns inzwischen anders in der Stadt. Wir achten auf unsere Mitmenschen, wir laufen nicht hustend durch die U-Bahn oder drängeln im Supermarkt. Ich kann mir vorstellen, dass wir auch langfristig mehr aufeinander achten werden.“
Dabei ist das aufeinander achten in der Coronakrise durch die Selbstisolation schwieriger als sonst. Eine außergewöhnliche Herausforderung ist die fehlende Nähe. Sehr viele Leserinnen und Leser gaben in unserer Umfrage an, dass sie nach der Coronakrise als Erstes jemanden umarmen möchte. Die Oma, den besten Freund, ganz viele Menschen auf einmal, einfach irgendjemanden.
Krisen zeigen, dass Dinge nicht immer so bleiben wie sie sind
„Krisen machen den Menschen bewusst, dass der Status quo veränderlich ist“, sagt Hochmuth. „Dass Dinge nicht so bleiben, wie sie sind.“ Diese außergewöhnlichen Situationen würden den Menschen vor Augen führen, dass die Zeit einem historischen Wandel unterliegt. „Wir sind durch die vergangenen Jahrzehnte verwöhnt, weil die Situation in Deutschland stabil war, aber das ändert sich jetzt.“
Dafür würden hierzulande Grundrechte und Bürgerrechte wieder mehr wertgeschätzt werden. „Was bedeutet es, dass wir an Ostern nicht verreisen können und unsere Religion nicht ausüben dürfen? In Situationen wie diesen wird uns unsere Freiheit erst richtig bewusst. Es hilft uns auch gesamteuropäisch, unsere Rechte nicht als selbstverständlich, sondern als historisch erstritten zu sehen.“
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