Flüchtlingskinder in Berlin: Wenn nichts mehr hilft, dann hilft Musik. Manchmal.
Erste-Hilfe-Musikerziehung. So nennt Demetrios Karamintzas vom Verein MitMachMusik das, was er tut: musizieren mit geflüchteten Kindern.
Und dann, plötzlich, passiert es. Sanft summend ertönen die Celli, im Gleichklang streichen die Bögen der Geigen über die Saiten, der Oboist drückt den Rücken durch, die Blockflöten lassen sich tragen von der tiefen und ruhigen Melodie wie Schiffchen auf einer Welle. Niemand im Publikum wagt in diesem Moment, in dem alles zusammenpasst, auch nur einen Finger zu rühren. Zwei Takte, drei, vier, vorbei.
Sie haben so lange geübt. Hevey und Mirza mit ihren Flöten, Walid mit seiner Oboe, die Streicher.
Das kleine Orchester, das an diesem Winterabend in Wedding zu den Klängen eines afghanischen Liedes zusammenwächst, ist ein Orchester der Kinder, viele von ihnen sind noch im Grundschulalter, ihre Füße in den Turnschuhen erreichen nicht den Boden, wenn sie auf den wuchtigen Stühlen sitzen.
Es ist Orchestertag des Vereins MitMachMusik, dessen Namen vollständig ist mit dem Zusatz: „ein Weg zur Integration von Flüchtlingskindern“. Professionelle Musiker besuchen zwei Mal wöchentlich Kinder in Berliner Unterkünften, um mit ihnen zu musizieren. Das soll den Kindern Leichtigkeit vermitteln. Freude. Selbstbewusstsein.
„Ich nenne das, was ich tue, emergency music education“, sagt Demetrios Karamintzas, genannt Taki. Erste-Hilfe-Musikerziehung. Der 38-Jährige ist Musikdirektor bei MitMachMusik, ein schmaler, lebhafter Mann. An einem Donnerstagnachmittag im November betritt Demetrios Karamintzas in quietschbunten Socken die Räume des Kinderklubs in der Gemeinschaftsunterkunft Pichelswerderstraße in Spandau. So farblos und trist das Gebäude von außen wirkt, so licht, warm und wuselig ist es im Inneren. Mehr als die Hälfte der 550 Bewohner hier ist jünger als 18 Jahre.
„Takiiii“, rufen die Kinder, die im Kreis auf kleinen bunten Stühlen sitzen. „Taki“, schreit auch der neunjährige Mirza und klopft mit der Hand auf einen freien Stuhl neben sich, „Taki sitzt bei mir.“ Die Begrüßung in großer Runde ist ein festes Ritual. Und es ist zugleich Demetrios Karamintzas’ liebster Moment. „Wenn alles, was über den Tag passiert ist, was die Kinder in der Schule erlebt haben oder in der Familie, draußen bleibt und alle merken: Jetzt ist Zeit für die Musik.“
Etwa zwanzig Kinder lachen ihn erwartungsvoll an. Sie alle, das ist zu vermuten, haben Schlimmes erlebt. Eine Flucht mit all ihren Unwägbarkeiten und Verlusten. Einen Krieg vielleicht. Sie haben Verletzungen davongetragen und manche sind auch sichtbar. Ein Junge hat schwere Verbrennungen im Gesicht und an den Händen. Weil er die Töne auf dem Instrument nicht greifen kann, spielt er im Flötenkreis ein Glockenspiel. Musik, diese Alleskönnerin, sie kann auch das: Für ein, zwei Stunden am Nachmittag gibt sie den kleinen Menschen ein Stück Kindheit zurück.
Niemand stellt Fragen darüber, was war
Demetrios Karamintzas sagt: „Ich habe kein Interesse daran, Kinder zu unterrichten, die sowieso alles haben.“ Er singt: Und wer bist du?
Mirza!
Hallo Mirza, was machen wir für dich?
Mirza überlegt, er lacht, schaut an die Decke, überlegt weiter, beginnt dann, sich rhythmisch auf die Oberschenkel zu klopfen, eins, zwei, eins, zwei. Alle machen es ihm nach und rufen im Takt: Mirza, Mirza, Mirza. Sie singen: Hallo, Mirza, hallo! Hallo, Mirza, hallo!
Und wie heißt du?
So geht es reihum. Aufgeregt rutschen die Kinder auf ihren Stühlen nach vorne, wenn klar ist: Gleich sind alle Augen auf sie gerichtet. Zwischen ihnen sitzen die Oboistin Özge Inci, 31, die Musikpädagogin Annette Bohsung, 48, und der 33-jährige Freiwillige Mahran Alkhatib. Sie und Demetrios Karamintzas sind das Team für den Musikunterricht in der Pichelswerderstraße, den es seit dem vergangenen Sommer hier gibt.
Tsch, tsch, tschhhh. Wer hört die Seidentücher fallen, die Annette Bohsung durch die Luft und auf den Boden gleiten lässt? Ich, ich, ich. Zwanzig Kinder legen je ein Ohr auf den Linoleumboden. Luft anhalten. Und während die Sekunden und Minuten an diesem Nachmittag vergehen, scheint etwas Eigentümliches zu passieren: Es ist, als schöpften die Erwachsenen die überschüssige Energie der Kinder ab. Die Kleinen werden ruhiger, die Großen verschwinden am Abend laut lachend, schwatzend und einander umarmend in den Berliner Feierabendverkehr.
Manchmal, sagt Karamintzas, habe er das Gefühl, auch die Traurigkeit der Kinder aufzunehmen. Dafür brauchen sie nichts zu erzählen. Niemand stellt Fragen darüber, was war. Die Gegenwart ist wichtig. Von allen Menschen dieser Erde sind Kinder jene, die das am besten können: im Moment leben. Musizieren ist Echtzeit, das hilft.
Rund 432 000 geflüchtete Kinder leben derzeit in Deutschland, sie machen etwa 25 Prozent der gesamten Anzahl der Schutzsuchenden aus. Allein in Berlin wohnen knapp 23 000 minderjährige Geflüchtete. Wer es hierhergeschafft hat, ist physisch und psychisch erschöpft. Doch auch das Hiersein ist anstrengend.
Es gibt Studien, die zeigen, dass Musiktherapie Geflüchteten helfen kann. Dänische Wissenschaftler zum Beispiel fanden heraus, dass Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung signifikant gemindert werden, wenn die Betroffenen über einen längeren Zeitraum komponieren und musizieren. Die Erwachsenen und Kinder waren weniger aggressiv, ängstlich und hoffnungslos.
Natürlich, die Musiker des Vereins MitMachMusik verstehen sich nicht als Therapeuten. Aber sie kennen die Kraft der Musik aus eigenem Erleben. „Wenn du weinen musst und nicht kannst, dann hilft das richtige Musikstück“, sagt Demetrios Karamintzas. Musik ist alles.
„Viele der Kinder sind sehr ernst“, sagt er. Nicht nur aufgrund dessen, was sie erlebt haben. Durch Schul- und Kitabesuche finden sie sich viel schneller im neuen Land zurecht als ihre Eltern. Alle im Stuhlkreis sprechen gut Deutsch, viele können ein bisschen Englisch und manche Griechisch – weil sie vor ihrer Ankunft in Berlin bereits in Griechenland in Unterkünften lebten. Nun sind sie zu Managern ihrer Familien geworden, zu Übersetzern, Vermittlern zwischen Ämtern und Eltern.
"Das Ich-Gefühl geht im Krieg verloren"
Demetrios Karamintzas sagt, er finde es schön, wenn die Kinder alleine zum Musikkreis kommen, ohne jüngere Geschwister, auf die sie aufpassen müssen. Damit sie Zeit für sich haben. Etwas, das in einer Gemeinschaftsunterkunft, selbst wenn jede Familie ein eigenes Apartment bewohnt wie in der Pichelswerderstraße, eine Seltenheit ist.
„Das Ich-Gefühl geht im Krieg verloren“, sagt Demetrios Karamintzas. „Wir geben es den Kindern zurück.“ Das Angebot der MitMachMusiker ist dabei nicht nur Spaß, sondern auch Unterricht, die Lehrer sind auch mal streng. Karamintzas hat Erfahrung mit solchen Projekten. Kurz nach seinem Abschluss am berühmten Konservatorium Juilliard School in New York City zog es ihn nach Israel, Palästina, Afghanistan. Anfang der 2000er Jahre half er Daniel Barenboim bei der Gründung des ersten palästinensischen Jugendorchesters.
Demetrios Karamintzas ist professioneller Oboist, wenn auch im vergangenen Jahr eher auf Stand-by. Es blieb zu wenig Zeit. Gefühlt saß er ständig in U- und S-Bahnen, auf dem Weg zu den kleinen Musikern, die diese Gesellschaft integrieren will und für die doch kein Platz in ihrer Mitte gefunden wird, sondern an den Stadträndern.
Karamintzas wurde in New York geboren, sein Vater ist Grieche, seine Mutter Amerikanerin. Mit vier Jahren hatte er sich in den Kopf gesetzt, Klavier zu spielen. Mit elf verliebte er sich in den Klang der Oboe, daheim, vor dem Fernseher, auf dem Disney’s „Fantasia“ lief. Darin „Danse Arabe“ aus Tschaikovskys Ballett „Der Nussknacker“. Der erste Einsatz der Oboe, ein G, lang, lang, länger. Ein Ton in 3-D, die Welt, ach was, das ganze Universum erschien dem Jungen auf dem Sofa darin. Wenn Kinder in der Pichelswerderstraße gefragt werden, warum sie bei MitMachMusik dabei sind, dann lautet die Antwort oft: Taki.
Musik ist die Sprache, die jeder versteht
Um 17 Uhr beginnt hier der Flötenkreis für Kinder ab acht Jahren. Nicht in den Räumen der Kinderbetreuung, sondern in einem Nebenzimmer. Eilig werden Tische und Stühle zur Seite geräumt und Notenständer aufgeklappt. Wer am Flötenunterricht teilnimmt, der tut dies verbindlich, nach fünf Unterrichtsstunden darf das Instrument auch ausgeliehen werden. Allein, das Üben ist in den beengten Verhältnissen der Unterkunft nicht leicht. „Ich spiele gerne zu Hause, wenn ich freihabe“, sagt die zehnjährige Hevey. Und fügt hinzu: „Wenn alle einverstanden sind.“ Das heißt: wenn ihr Vater nicht zufällig Nachrichten sehen möchte und wenn kein Geschwisterchen schläft.
Wie Mirzas Familie kam auch Heveys aus Kurdistan im Norden Syriens nach Berlin. Seit drei Jahren schon wohnt sie in der Pichelswerderstraße, Mirza seit eineinhalb. Beide musizieren seit August mit Karamintzas und seiner Truppe – und beide pflegen ihre Notenblätter in den bunten Mappen hingebungsvoll wie einen Schatz. Heveys dunkles Haar fällt in Wellen über die Schultern. Sie wirkt besonnen, nicht ganz so lebhaft wie Mirza, der ständig in Bewegung ist. Sie kommen um des Lernens willen, nicht weil sie von einer Zukunft als Orchestermusiker träumen. Wenn sie die Flöten an ihre Münder führen, dann spricht aus ihren Gesichtern höchste Konzentration.
Doch zunächst beginnt auch diese Unterrichtsstunde mit einem Ritual. Alle – etwa zehn Kinder – stehen im Kreis. Arme nach oben strecken: „Über mir der Himmel“. Vorbeugen Richtung Boden: „Unter mir die Erde“. Hände auf die Brust: „Das bin ich“. Arme ausstrecken: „Und hier sind wir“. Ein Klatschspiel folgt. Wer am Ende eines Liedes verpasst, seine Hand wegzuziehen, ist raus – und geht zum Whiteboard, um Noten zu schreiben.
Jeder notiert in einer anderen Farbe eine kleine Komposition. Tuu sagen sie zu den halben Noten, den leeren Notenköpfen mit Hals; ta zu den Viertelnoten, den vollen Notenköpfen mit Hals; titi zu den Achtelnoten, den vollen Notenköpfen mit dem Fähnchen am Hals. Mirza malt mit einem orangefarbenen Stift, Heveys Noten sehen aus wie Lollis. Tuu – tuu – ta – ta – titi – titi – ta.
Musik ist die Sprache, die jeder versteht
„Füße auf den Boden“, ruft Demetrios Karamintzas den Flötisten zu. Sicherheit, Standhaftigkeit, das ist fürs Leben nicht unwichtig, für schöne Musik jedoch entscheidend. Wer herumwackelt, dessen Finger rutschen schnell von den Löchern der Blockflöten. Wer schief flötet, irritiert die anderen. Und dann ist alles im Eimer.
Musik ist die Sprache, die jeder versteht. So ist es nachzulesen auf einem Info-Flyer des Vereins MitMachMusik. Ein großer Satz, den bis ins Kleinste nachvollziehen kann, wer mit Annemarie Seither-Preisler in Graz telefoniert. Die Psychologin und Biologin erforscht seit vielen Jahren, wie Musik das kindliche Gehirn beeinflusst. „Musik“, erklärt sie, „wird schon von Säuglingen verstanden.“ Der Mensch, egal wie klein er ist, sucht nach Sinnvollem in seiner Umgebung. „Musik ist Struktur in Klang und Zeit“, sagt Seither-Preisler. Demzufolge ist Musik so etwas wie der Prototyp einer Sinngestalt, die sich ständig erneuert und wandelt, was den Menschen fasziniert und freut. Erst mal in der Welt der Musik angekommen, assoziieren wir alle, egal wo auf dieser Erde wir geboren werden, beim Hören von Sprache und Musik ähnliche Emotionen: Schnelles Tempo mit hohen Tönen, ein bisschen Staccato, das ist Freude. Langsames Tempo mit dunklen Tönen ist Trauer. Furcht, Ärger, Sanftmut, all dies wird akustisch unmittelbar erkannt. „Und tatsächlich sind die Hirnstrukturen, die für Musikalität wichtig sind, auch für die Sprachverarbeitung wesentlich“, erklärt Seither-Preisler. Wer durch regelmäßiges Musizieren seine Hörfähigkeit trainiert, dem fällt es auch leichter, eine Sprache zu lernen.
Die Unterrichtssprache in der Pichelswerderstraße ist Deutsch. Es ginge wohl auch ohne Worte.
Bei professionellen Musikern, das weiß Annemarie Seither-Preisler zu berichten, sind die Gehirne vernetzter. Denn um ihre Instrumente zum Klingen zu bringen, gebrauchen sie mehr als nur einen Sinn. Sie greifen die Klappen ihrer Klarinetten oder die Saiten ihrer Geigen, sie streichen Bögen und schlagen Trommeln. Und reagiert der Körper nicht schon beim bloßen Zuhören – oft ohne, dass wir es sofort merken? Durch das Wippen eines Fußes, das Gehen im Rhythmus einer Musik, die gerade durch unsere Kopfhörer tönt? Wer der österreichischen Psychologin lange genug zuhört, wird glauben, dass Musik all unsere Sinne sensibilisiert und damit die Welt interessanter, lebendiger und schöner macht. Warum hat der Mensch Musik entwickelt, sie hat ja gar keinen Überlebenssinn? Von wegen!
Im Sommer 2015 wandte sich Demetrios Karamintzas zum ersten Mal an eine Flüchtlingsunterkunft in Moabit. „Ich fand es berührend zu sehen, wie sich die Deutschen der Herausforderung mit den Flüchtlingen gestellt haben“, erinnert er sich. Er wollte seinen Teil beitragen und als Musiker war das für ihn Naheliegende: Musikunterricht. Auf eine Anfrage per E-Mail erhielt er keine Antwort und so fragte er Freunde über Facebook, wer noch eine Blockflöte zu Hause habe und sie spenden wolle. Mit zwanzig Instrumenten in einer Sporttasche marschierte er in die Unterkunft. Deren Verwaltung hatte nichts dagegen, dass er mit den Kindern musiziert. Er stellte sich ins Foyer und begann zu spielen. Dann kamen die Kinder. Bald darauf traf er Pamela Rosenberg.
"Durch Musik finden Kinder zu sich selbst"
Sie ist Mit-Initiatorin der MitMachMusik und ein wenig auch deren Botschafterin. Rosenberg, 1945 in Los Angeles geboren, war von 2006 bis 2010 Intendantin der Berliner Philharmoniker und bis 2014 Dekanin an der American Academy in Berlin. Sie arbeitete in leitenden künstlerischen Positionen an der Nederlandse Opera in Amsterdam und leitete die Opern in Stuttgart und San Francisco. Der Impuls zu MitMachMusik kam vom Berliner Kinderarzt Peter Hauber, sagt Pamela Rosenberg. Gemeinsam mit der Geigerin Marie Kogge und dem Unternehmer Peter Kuttner starteten sie im Sommer vor drei Jahren das Projekt. Im April 2016 gründeten die vier einen Verein, denn sie wollten Spenden entgegennehmen können und die Musiker fair bezahlen. Rosenberg übernahm die Koordination und bald waren noch mehr Musiker dabei.
Pamela Rosenberg kann gar nicht genug betonen, wie wichtig ihr das Projekt ist. „Durch Musik finden Kinder zu sich selbst“, sagt sie und erklärt sogleich, was genau sie damit meint: „Es fängt mit dem Hören an, damit, sich selbst wahrzunehmen, die Umgebung – und andere.“ Dazu kommt: Wer ein Instrument spielt, kann sich ausdrücken. Wer übt, lernt Disziplin. Wer Erfolgserlebnisse hat, tut etwas für sein Selbstwertgefühl.
Was für alle Kinder dieser Erde gut ist – jene, die Kriegs- und Fluchterfahrungen haben, kann es heilen. Ein wenig. Musik, der vermeintliche Luxus, zusammengekürzt an Kitas und Schulen, ist eben keiner! „Die Kinder“, sagt Pamela Rosenberg, „werden dadurch ernährt.“
Schnell wurde die Gruppe der zu unterrichtenden Kinder größer. MitMachMusik brauchte Struktur. So lud Rosenberg im Herbst 2017 einen Kollegen ein, der in Nazareth ein ähnliches Projekt mit arabischen Kindern leitet. Er schlug ein Pyramidensystem vor, dem sie nun in fast allen neun Unterkünften folgen: Nach Musik- und Flötengruppe kommt der Instrumentenkreis. Die Kinder dürfen ein Instrument ihrer Wahl ausleihen und bekommen zunächst Einzelunterricht, damit sich keine falschen Gewohnheiten einschleichen. Die Instrumente hat der Verein gemietet oder gekauft, manche sind gespendet. Die vierte Stufe ist das Orchester, in dem schon 30 Kinder spielen.
"Was heißt schon Integration?"
Während das Projekt wuchs, tauchten auch Probleme auf. Zwischen Kindern, die noch in Unterkünften lebten, und jenen, die ausgezogen waren, gab es Streit – vielleicht aus Neid. Weil jedoch alle gemeinsam musizieren sollten, mussten „neutrale“ Standorte gefunden werden. Nun soll auch die Nachbarschaft rund um diese drei neuen Standorte eingebunden werden. Auch deutsche Kinder dürfen mitmusizieren. Stichwort Integration. So weit die Theorie.
An einem regnerischen Donnerstag im November ist die in der Praxis zu beobachten. „Wir sitzen ganz vorne in der S-Bahn“, schreibt Demetrios Karamintzas per SMS, kurz bevor der Zug aus Spandau an der Haltestelle Hackescher Markt einrollt. Da steigen sie aus, Hevey und ein Junge im Kapuzenpulli, dahinter, wachsam, die Kinder sanft vor sich herschiebend, ihr Lehrer. Sie sind verabredet mit Schülern der Berlin Cosmopolitan School in Mitte, wo die Musiklehrerin Bridget Kinneary, 25, mit einer Handvoll Geigern wartet.
Besonders wichtig: Nachhaltigkeit
Seit Oktober bietet Kinneary den Nachmittagsklub „Ensemble Without Borders“ an, Ensemble ohne Grenzen. Doch die Musiker zusammenzubringen, ist durchaus kompliziert, allein die Anreise dauert ewig. „Es ist Wahnsinn“, sagt Bridget Kinneary, die auch Musikdirektorin bei MitMachMusik ist, „was alles gemacht werden muss, damit die Kinder in echten, organischen Kontakt treten.“
Die Berlin Cosmopolitan School ist eine exzellent ausgestattete Privatschule, durch deren Treppenhaus die Kinder aus Spandau ehrfürchtig eilen. Der Musikraum liegt am Ende eines Flurs im zweiten Stock, Gitarren und Ukulelen hängen an den Wänden, in einer Ecke stehen Trommeln, es gibt ein Schlagzeug und E-Gitarren.
In aller Schnelle: ankommen. Über mir der Himmel, unter mir die Erde, hier bin ich und das sind wir. Die sieben kleinen Musiker positionieren sich in einem Kreis. „Es ist wichtig“, sagt Bridget Kinneary, „dass ihr einander anseht. Sonst klappt das Zusammenspiel nicht.“ So blickt die Geige zur Flöte:
Wie heißt du?
Hevey.
Wie alt bist du?
Zehn.
Ich auch.
Ich habe im Januar Geburtstag.
Ich auch!
„TikTikTik“ heißt das Stück, dass alle spielen, und langsam tönen die Flöten lauter, selbstbewusster in diesen fremden Räumen. „Was heißt schon Integration?“, fragt Bridget Kinneary und lacht. „Kultur ist etwas Werdendes und wir bauen sie gemeinsam.“
Nach knappen vierzig Minuten ist Schluss, die Schule für die BCS-Kinder beendet – und den Spandauern steht der lange Rückweg bevor. Zügig durch die verregneten Straßen von Mitte, zurück in die S-Bahn. Demetrios Karamintzas wird sie wieder in die Gemeinschaftsunterkunft bringen. Wo er in der Woche darauf wieder sein wird. Und wieder und wieder. „Ohne Nachhaltigkeit“, sagt er, „respektiert man uns nicht.“
Walid ist ein gutes Beispiel für diese Nachhaltigkeit. Ein Elfjähriger mit traurigen Augen und liebenswertem Gemüt. Damals, in Moabit, ließ er sich von Demetrios Karamintzas’ Flötenklängen anlocken. Fortan kam er immer wieder, er lernte Noten lesen und Flöte spielen, dann Klarinette und schließlich Oboe. Wegen Taki. Klar. Aber auch, weil „es ein so schwer zu spielendes Instrument ist und man viel üben muss“, sagt er. Demetrios Karamintzas ist stolz auf Walid. Längst lebt dessen Familie in einer richtigen Wohnung. Trotzdem bleibt Walid dem Projekt verbunden, übt, bekommt Unterricht.
Beim Musizieren werden bestimmte Neurotransmitter ausgeschüttet. Oxytocin zum Beispiel, auch bekannt als „Bindungshormon“. Deswegen bauen Menschen, die gemeinsam musizieren, Vertrauen zueinander auf, fühlen sich einander nah.
Auch Walid ist zum Orchestertag nach Wedding gekommen. Seit einer Woche hat er eine feste Zahnspange und für einen Oboisten ist das schmerzhaft. Karamintzas hat seine Einsätze reduziert, auf den Notenblättern vor Walid sind grobe Striche zu sehen. Wenn Walid zu lange spielt, dann drückt die Spange an die Innenseite der Lippe und es blutet. Er wollte trotzdem dabei sein. Schräg vor ihm saßen drei Streicher aus der Berlin Cosmopolitan School. Die meisten Eltern waren nicht gekommen.
Katja Demirci