Musik und Gesundheit: Das singende Krankenhaus
Der Chefarzt trällert gemeinsam mit Patienten und Schwestern: An zwei Berliner Kliniken gibt es eigene Chöre. Die heilsame Wirkung des Singens ist nachgewiesen. Rehabilitation gelingt dadurch schneller, stationäre Aufenthalte werden kürzer.
Jetzt hat auch der Chefarzt seinen Kittel ausgezogen. Statt seiner chirurgischen Instrumente hält er zwei Holzklöppel in der Hand und schlägt sie rhythmisch aneinander. Den Takt gibt Krankenschwester Angelika Wall vor. Die sogenannte „Breast Care Nurse“ aus dem Brustzentrum der DRK-Kliniken Westend hat ebenfalls die Arbeitskleidung abgelegt und sich stattdessen eine Gitarre um die Schulter gehängt. In der Mitte des Stuhlkreises, den 26 Mitarbeiter und Patienten bilden, steht Chorleiter und Psychoonkologe Urs Münch und gibt den englischen Text vor: „This little light oft mine. I'm gonna let it shine. Let it shine, let it shine, let it shine.“ Es ist warm geworden während der letzten paar Lieder, in dem angenehmen Tagungsraum der DRK-Kliniken mit Holzvertäfelung und Parkettboden. Einige Leute haben ihre Pullis abgelegt. Wer hier Patient ist und wer Mitarbeiter, ist kaum auszumachen.
Es ist das zweite Mal, dass sich in den DRK-Kliniken Westend der Krankenhauschor trifft. Eingeladen sind alle Patienten, ihre Angehörigen und das Personal, Pflegekräfte wie Ärzte. Sie müssen keine Noten lesen können und nicht einmal der englischen Sprache mächtig sein. Urs Münch singt im ersten Durchlauf erst einmal alles genau vor. Die ausgesuchten Texte sind kurz genug, dass man sie sich auch ohne Notenblätter merken kann. Es sind deutsche, jüdische, indianische, afrikanische Lieder dabei, deren Teile sich beliebig oft wiederholen lassen, so dass sich alle gut einsingen können.
Die Initiative geht auf Thomas Steinmüller zurück, den Leiter der Klinik für Chirurgie der DRK-Kliniken, der sich unter die Sänger gemischt hat. Auf einem Kongress für Musiktherapie hatte er viel über die heilsame Wirkung des Singens erfahren und beschlossen: Das brauchen wir auch. Er spielt selbst seit 30 Jahren Querflöte und musiziert privat in einem Ensemble. Als Musiker weiß er aus Erfahrung, „dass Musik einen positiven Effekt haben kann auf viele Bereiche des menschlichen Lebens". Und dazu gehört eben auch die Gesundheit.
Momentan trifft sich der Klinikchor einmal im Monat. Wenn der Zuspruch weiterhin so gut bleibt, soll das Angebot ausgebaut werden. Steinmüller schwebt eine Zertifizierung als „Singendes Krankenhaus“ vor. Seit 2009 bemüht sich der Verein „Singende Krankenhäuser“ mit Sitz in Stuttgart darum, Chöre in Gesundheitseinrichtungen und Altersheime zu bringen. Der Verein betreibt Forschungsarbeit zur therapeutischen Wirkung des Singens und bietet Fortbildungen für die Klinik-Chorleiter an. Derzeit gibt es bundesweit 24 zertifizierte singende Krankenhäuser – davon eines in Berlin. Das „Josephinchen“, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin am St.-Joseph-Krankenhaus Berlin, wurde bereits 2012 als bundesweit erstes Singendes Kinderkrankenhaus zertifiziert.
Singen als therapeutische Maßnahme biete sich für alle medizinischen Fachbereiche an, sagt Thomas Steinmüller. „Natürlich kann es immer nur eine begleitende Maßnahme sein“, sagt er. Ersatz für eine Tumorbehandlung etwa könne das Singen selbstverständlich nicht sein. Dafür kostet es wenig. Und nicht zuletzt: „Es hat keine Nebenwirkungen.“ Die positive Wirkung des Singens ist wissenschaftlich erwiesen. Laut Studien sinkt dadurch der Schmerzmittelverbrauch. Die Rehabilitation gelingt besser und schneller, die stationären Aufenthalte werden kürzer und depressive Zustände seltener. Die Atemfunktion wird gesteigert, ebenso die Durchblutung. Der Körper schüttet Glückshormone aus.
Im Krankenhauschor in Westend wiegen sich mittlerweile die ersten Teilnehmer auf ihren Stühlen hin und her. Urs Münch gibt zum nächsten Lied eine kleine Choreografie vor und animiert die Sänger zum Aufstehen. Er schnipst mit den Fingern, klopft sich auf die Schenkel. Viele stehen auf und suchen sich eines der Instrumente aus, die in der Mitte des Stuhlkreises auf einem Tuch liegen: Rasseln, Trommeln, Schellen, Holzklöppel. Eine Teilnehmerin erfindet ihre eigene Choreografie und stampft über den Boden. Sie hat Regel Nummer eins beherzt, die Urs Münch eingangs vorgestellt hat: „Alles, was hier stattfindet, ist eine Einladung. Jeder darf selbst entscheiden. Worauf habe ich Lust?“ Regel Nummer zwei: „Es gibt keine falschen Töne.“ Münch hat an einer der Fortbildungen des Vereins Singende Krankenhäuser teilgenommen, in vier Modulen über je drei Tage hinweg. Dabei hat er gelernt, wie man einen Chor anleitet. Darüber hinaus hat er sich dort mit den Themen Singen mit Krebserkrankungen, Singen in der Psychiatrie und Singen mit Atemwegserkrankungen befasst. „Und man lernt natürlich jede Menge Lieder kennen.“
Beim nächsten Stück, einem neuseeländischen Lied, stehen dann fast alle Teilnehmer. Sie wandern umher, stampfen, trommeln. Zwei laufen aufeinander zu und umarmen sich. Beim Singen gehe es auch um das positive Gruppenerlebnis, sagt Münch. Darum, dass die Menschen Freude miteinander haben. Gerade die Krebspatienten aus dem Tumorzentrum der DRK-Kliniken seien „massiv mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert“. Für sie sei die Frage ganz wichtig: „Wie kann ich trotzdem Lebensfreude haben?“
Als der letzte Ton verklungen ist, sucht eine 61-jährige Brustkrebspatientin aus Steglitz ihre Sachen für den Heimweg zusammen. Sie war zum ersten Mal dabei und will unbedingt wiederkommen. „Schade, dass das nicht jede Woche ist“, sagt sie. Jetzt geht sie fröhlich nach Hause. Besonders gefallen hat ihr, „dass so viel gelacht wird“. Gabriele Nickel aus Reinickendorf, Krankenschwester im Tumorzentrum, ist direkt im Anschluss an ihre Schicht zum Chor gekommen. „Reingegangen bin ich angespannt“, sagt sie. Es war ein stressiger Tag. „Jetzt gehe ich entspannt und fröhlich raus.“ Garantiert mit einem Lied auf den Lippen.
Mehr Informationen unter www.singende-krankenhaeuser.de
Franziska Felber