Kultur: Weitermachmusik
Wie aus einem Hilfsprojekt in der Flüchtlingskrise professionelle musische Bildung für Kinder erwachsen soll
Eine Geige in die Hand und los geht’s. Musik muss man machen, dachten sich Marie Kogge, Violinistin und Lehrerin an der Potsdamer Waldorfschule, und der Kinderarzt Peter Hauber, und riefen 2015 das Projekt Mitmachmusik in der Flüchtlingsunterkunft auf dem Potsdamer Brauhausberg ins Leben. Die Idee: Kinder als Leidtragende von Krieg, Krisen und Gewalt sollen an Musik, vor allem klassische, herangeführt werden. Gemeinsam zu musizieren, das stützt und heilt, so der Gedanke. Nur: Was, wenn immer mehr Kinder anfangen wollen, Musik zu machen, andere aber sich als begabt erweisen und individuell auf ihrem Instrument gefördert werden müssten? Andere wiederum mehr Aufmerksamkeit und Kontinuität benötigen, um überhaupt zuhören zu können? Nach zwei Jahren intensiver Arbeit und jeder Menge „freudvoller Begegnungen mit Musik“, wie Marie Kogge, die künstlerische Leiterin des Potsdamer Projekts, betont, befinde sich das Projekt Mitmachmusik derzeit in einem Umbruch. Der allerdings wegweisend sein kann.
Mitmachmusik, gegründet als ein Berlin-Brandenburger Verein mit der ehemaligen Intendantin der Berliner Philharmoniker, Pamela Rosenberg, als Vorsitzende, existiert mittlerweile an fünf Standorten, vier davon in Berliner Flüchtlingsunterkünften. Mehrere Hundert Kinder aus Krisenregionen wie Syrien oder Afghanistan nehmen daran teil. Und es wächst weiter, neue interessierte Familien stoßen hinzu, wollen mitmachen. Wie soll man gemeinsam und sinnvoll musizieren, wenn es nur einen großen Raum und eine große Gruppe gibt? Individuelle Förderung ist kaum möglich, von Einzelunterricht ganz zu schweigen.
Doch gerade jetzt, sagt Marie Kogge, müsse man weiter Musik machen. Das Vertrauen ist aufgebaut, erste musikalische Erfolge erzielt. „Es kann nicht einfach aufhören.“ Mit ihrem Kammermusikensemble Incendo hatte die Violinistin vor einigen Jahren bereits in Westafrika, im Senegal und in Togo, über das Auswärtige Amt musikalische Begegnungen zwischen europäischer Klassik und anderen Kulturkreisen initiiert. Keine bloßen Konzerte, sondern wirklichen Austausch, wie sie betont. „Begegnung geht nur, wenn man zwei Brückenköpfe hat“, sagt sie. Marie Kogge schafft diese Verbindung zwischen den Kulturen und den Menschen intuitiv und mit viel pädagogischer Erfahrung.
Manchmal bricht ihr aber auch ein Pfeiler der Brücke weg. Wie bei ihrer Schülerin Sara. Sie hat ihre Geige abgegeben. Das zehnjährige Mädchen, das aus Damaskus nach Deutschland kam, spielte zwei Jahre lang bei Mitmachmusik. Zweimal die Woche musizierte sie zusammen mit den anderen Flüchtlingskindern auf dem Brauhausberg. Sara sei so etwas wie das Vorzeigekind des Potsdamer Projekts gewesen, erzählt Marie Kogge, begabt, neugierig, gelehrig.
Zuletzt aber schickte der Vater sein Kind einfach nicht mehr zu den Treffen von Mitmachmusik. Aus eigenem Frust über sein Scheitern in Deutschland, vermutet Kogge. „Dieser Frust ist so gefährlich.“ Selbst Gespräche ihrer arabischen Kollegen mit dem Vater halfen nicht. Es führte kein Weg weiter. Sara gab ihrer Lehrerin das geliehene Instrument zurück, und das, was für diese noch schlimmer war, sogar freudig gehorsam. Für Marie Kogge war es die wohl größte Niederlage von Mitmachmusik. „Da haben wir versagt“, sagt sie. Und: „Wenn es nicht gelingt, die Eltern mit an die Hand zu nehmen, haben wir verloren.“
Denn wie lässt sich mit Flüchtlingskindern, deren familiärer und kultureller Hintergrund musischer Bildung keinen Wert beimisst, musizieren – und zwar mit der nötigen Kontinuität? Und wie lässt sich aus einem Verein, der sich auf die Fahnen schrieb, mithilfe der Musik Begegnungen zu schaffen und in der Flüchtlingskrise zu helfen, eine professionelle Struktur aufbauen – eine Struktur, die begabte Kinder fördert und nicht fallen lässt?
„ Es war die Geschichte mit Sara“, sagt Marie Kogge, „die mich bewogen hat, mit Nabeel zu sprechen.“ Nabeel Abboud Ashkar ist eigentlich studierter Physiker, vor allem aber ist er Violinist. Er kommt aus Nazareth, ist arabischstämmig wie die meisten Einwohner der Stadt im Norden Israels. Dort hat er vor mehr als zehn Jahren Polyphony gegründet, ein Projekt, um arabischen Kindern musische Bildung zu ermöglichen. Von der elementaren Instrumenten- und Rhythmuskunde bis hin zur erstklassigen Ausbildung zum Profimusiker. In den vergangenen zehn Jahren haben rund 10 000 Kinder und Jugendliche Polyphony durchlaufen. Nabeel Abboud Ashkar hatte zuvor bereits eine Musikschule in Ramallah geleitet und umgebaut und spielte selbst in Daniel Barenboims West Eastern Divan-Orchestra, in dem Juden und Palästinenser gemeinsam musizieren.
Marie Kogge schaute sich während einer Reise nach Israel Polyphony an, seit August dieses Jahres ist der 39-Jährige des Öfteren Gast in Potsdam bei Mitmachmusik. Es gebe viele Gemeinsamkeiten zwischen Mitmachmusik und Polyphony, sagt Nabeel Abboud Ashkar. Aber die Herausforderungen hierzulande seien doch anders. „Mitmachmusik hat es mit einer viel komplexeren Realität zu tun. Wir erleben bei Polyphony den gewachsenen Konflikt zwischen Arabern und Juden in Israel, hier aber kommen die Kinder aus so unterschiedlichen Ländern und Kulturen.“ Das Dilemma vieler solcher Projekte sei es, den sozialen Aspekt zu verlieren, sobald es darum geht, eine höhere musikalische Qualität anzustreben. „Wir versuchen bei Polyphony, dabei keine Kompromisse zu machen.“ Wenn dies auch bei Mitmachmusik gelänge, wäre das ein großer Schritt und einzigartig in Deutschland.
Nabeel Abboud Ashkar nahm zuerst am Sommercamp von Mitmachmusik teil, um sich einen Eindruck vom Ist-Zustand des Projekts zu machen, führte später zusammen mit seiner Frau Gespräche mit den Eltern über deren Wünsche und Bedürfnisse, wertete sie aus und hilft bei der Neustrukturierung des Projekts. Auch im neuen Jahr wird er öfter in Potsdam sein und die Supervision des Teams um Marie Kogge übernehmen. Es seien kleine Änderungen, aber ein „Riesenumbruch“, sagt sie.
Erste Ergebnisse des neuen Ansatzes sind schon ersichtlich: Im Kulturhaus Babelsberg wird es Einzelunterricht für die fortgeschrittenen Schüler geben, dazu Ensemblearbeit. Vielen arabischen Eltern müsse zuvorderst vermittelt werden, dass Musiker auch ein Beruf sei, sagt Ashkar. So könne ihnen auch eine Perspektive für die Integration ihrer Kinder gegeben werden. Bislang spielte der Leistungsgedanke bei Mitmachmusik keine Rolle, doch Ashkar ist überzeugt davon, dass es sinnvoll sei, diesen stärker zu betonen. „Musik zu machen ist nicht nur Freude, sondern harte Arbeit.“
Auf der Suche nach professioneller Unterstützung und Kooperationen ist Mitmachmusik auch in Kontakt mit der Education-Sparte der Berliner Philharmoniker. Auch die Kammerakademie Potsdam (KAP) stehe, wie Geschäftsführer Alexander Hollensteiner sagt, als Partner in den Startlöchern. Ideen gibt es viele und auch bereits erste gemeinsame Erfahrungen. Bei dem szenischen Konzert „Orpheus 17“ von Helmut Oehring spielten drei afghanische und syrische Musiker, mit denen Marie Kogge arbeitete, zusammen mit der Kammerakademie. Erste Konzertbesuche hat die KAP für die Flüchtlingskinder organisiert.
Klar ist allerdings für die KAP und Marie Kogge, dass nur eine kontinuierliche und langfristige Zusammenarbeit Sinn macht. „Wir können uns eine Art Mentoring-Programm vorstellen“, sagt Alexander Hollensteiner. Das Interesse der Musiker sei da, einzelne Kinder individuell zu fördern und sogar Einzelunterricht zu übernehmen. Ob und wie sich das genau umsetzen lässt, soll sich bis zum Sommer zeigen. Auch für die KAP sei das eine Lernphase. „Für uns ist es gut, so jemanden wie Marie Kogge an der Seite zu haben, die extrem pädagogisch versiert ist. Das ist besser, als selbst so etwas aufzubauen.“ Eher wird die KAP jetzt selber Baustein, der helfen soll, das Bauwerk Mitmachmusik in die Höhe wachsen zu lassen.
Grit Weirauch
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