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Dichter und Lenker. Jens-Holger Kirchner mit dem Buch, in dem sein Werk aus Kinderzeiten erschienen ist. Seit dem Runden Tisch 1989 ist er politisch aktiv, seit 2005 Stadtrat.
© Mike Wolff

Winterpoesie: Wenn Herr Kirchner auf Jens-Holger trifft

Als Kind widmete Pankows Baustadtrat dem Winter ein Gedicht, das er fast vergessen hatte. Ein Kamingespräch über alte Träume und neue Aufgaben.

Zu Weihnachten ist Jens-Holger Kirchner von seiner Vergangenheit eingeholt worden. Sie hat den muffig-sauren Geruch alten DDR-Papiers und steht in einem Winterliederbuch, erschienen 1976 im VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig, auf Seite 34, unten. „Viele Flocken schweben nieder“ heißt das Werk, komponiert „nach einem Kindergedicht von Jens-Holger Kirchner, 12 Jahre“. Das Buch ist der Zufallsfund eines Tagesspiegel-Redakteurs mit sächsischem Migrationshintergrund. Und Kirchner ist einer der präsentesten Bezirksstadträte Berlins. Weil er im Boombezirk Pankow nach dem Ordnungsamt jetzt die Abteilung Stadtentwicklung verantwortet.

Und weil er nicht nur redet, sondern auch etwas zu sagen hat. Kirchner hat das als „Ekelliste“ berühmt gewordene Smiley-System zur Restauranthygiene etabliert und angesichts der chronischen Müllberge im Mauerpark das Bonmot geprägt, dass es dort „keine Veranstaltungspflicht“ gebe. Er hat den zu „K 21“ aufgeblasenen Protestballon gegen den Umbau der Kastanienallee zur Landung gezwungen. Jetzt rüstet er sich für den Kampf um bezahlbaren Wohnraum in der wachsenden Stadt, bei dem ihn Gegner vom Baulöwen bis zum Kleingartenverein erwarten. Das letzte Geld aus dem 2012er-Haushalt musste schon zum 15. Dezember verbucht werden, und die Bezirksverordneten sind in der Weihnachtspause. Kirchner hat also Zeit, um zurück- und nach vorn zu schauen – und auch zur Seite.

„Mensch, das ist sogar vertont worden?!“, sagt der 53-Jährige beim Blick in das Buch, in dem sein für irgendeinen Wettbewerb junger Talente verfasstes Werk zwischen Klassikern wie „Schneemann bau’n und Schneeballschlacht“ hervorsticht. Schweigend betrachtet er die Noten. Er hört sie nicht mehr. Ein Seufzer. „Das zeigt, dass Kompetenzen auch verloren gehen können.“ Acht Jahre lang sei er von Woltersdorf bei Erkner zur Musikschule nach Köpenick gefahren. Dreimal die Woche, mit seinem Cello auf dem Rücken, das so verflucht viel schwerer war als die Geigen seiner Mitschüler, aber nicht sperrig genug, um im Auto gebracht zu werden wie die Instrumente der Kontrabassisten. Manchmal habe er seine Mutter dafür gehasst. Später war er ihr dankbar, dass sie ihm die Tür zur Welt der Musik geöffnet hat. Als die Tür noch offen stand und Kirchner als Jugendlicher nach Berlin zog, sattelte er um auf Bassgitarre. Er wollte sein wie Deep Purple; der Roger Glover vom Friedrichshain. Aber er blieb der Jens-Holger.

Während die Tür zur Musik sich schloss, öffneten sich andere. Eine davon in der Knaackstraße, wo er dank seines unter DDR-Bedingungen extrem nützlichen Berufs als Tischler eine Wohnung fand und zum maßgeblichen Akteur eines Tausch- und Plausch-Biotops aus Handwerkern, Künstlern und dem Kohlenhändler von gegenüber aufstieg. In dieser komfortablen Nische blieb er mit Frau und drei Kindern – auch, weil er mangels zeichnerischen Talents nicht den erhofften Studienplatz in Holzgestaltung bekommen hatte. Die Absage sei völlig berechtigt gewesen, sagt Kirchner. Nur habe er das selbst erst später erkannt.

Prenzlauer Berg ist heute eine andere Welt.

Stattdessen schloss er sich der pädagogisch geprägten Wanderzirkusgruppe „Spielwagen Berlin“ an, die ein Kinderland auf dem Kollwitzplatz und ein Lehmhüttendorf in Marzahn errichtete. Dorthin in die Neubauten zogen die Leute, um dem hinfälligen Prenzlauer Berg zu entkommen. Dem sei mit dem „Wasserturm“ nur eine einzige Gaststätte geblieben, nachdem der Besitzer des „1900“ in den Westen abgehauen war.

Jetzt ist der Bezirk eine andere Welt. Kirchner, der im Dreiländereck von Pankow, Prenzlauer Berg und Weißensee wohnt, ist noch da. Die aktuelle Ureinwohnerquote von Prenzlauer Berg beziffert er auf 15 Prozent. Aber statt ein Klagelied über Gentrifizierung und Dachgeschoss-Schwaben anzustimmen, konstatiert er: „Ohne Sanierung wären die Leute auch weg. Weil die Häuser zusammengekracht wären. Und die sonstige Infrastruktur gleich mit.“

Kirchner findet auch den schwefligen Geruch der Braunkohleöfen aus früheren Wintern verzichtbar. Er kennt Leute, die nicht wegen der steigenden Mieten weggezogen sind, sondern weil sie tolle Jobs in Amerika und Westdeutschland fanden. Und er sieht in den vielen Kiez- und Elterninitiativen kein Zeichen von Egoismus, sondern von Engagement. Oft werde auf hohem Niveau gejammert. Dem begegne man mit Gelassenheit, sagt Kirchner, aber nicht mit Parolen wie „Und in Afrika verhungern die Kinder!“

Dass er nach der Wahl vor einem Jahr sein geliebtes Ordnungsamt abgeben musste, hat ihm womöglich die Gelassenheit bewahrt. „Bei noch fünf Jahren Ordnungsamt könnte man auf die Idee kommen, dass die ganze Welt so ist.“ Man würde entweder sarkastisch oder amerikanisch. „Das ist nicht mein Gesellschaftsmodell“, sagt Kirchner, aber angesichts des Status Quo „hadere ich mit mir“: 550 Tonnen illegaler Müll in einem Jahr seien weiß Gott genug, um härtere Strafen zumindest zu diskutieren. Lieber wäre Kirchner, die Bürger würden ihre Stadt selbst in Schuss halten. Aber: „Liebe sieht anders aus“, resümiert er, während vor seinem geistigen Auge die Männer der BSR anrücken, die der Bezirk allzu oft um Hilfe rufen muss.

„Glitzert, schimmert weißer Schnee / doch wenn man hinfällt, tut es weh“, heißt es im Gedicht von Jens-Holger. Ein schöner Reim für jemanden, der 40 Jahre später den Winterdienstmuffeln auf den Fersen war. Das tut nun ein Kollege von der CDU.

Kirchner preist lieber das Vergnügen, „sich mit Krieger zu kloppen“ und meint damit scherzhaft Dispute wie den mit dem Möbelunternehmer, dessen Neubauprojekt am alten Rangierbahnhof Pankow ihm viel zu autofixiert ist. Im Bezirk mit dem größten Zuwachs bei jetzt schon fast 400 000 Einwohnern werde auch über Verdichtung zu reden sein – in den Höfen Prenzlauer Bergs ebenso wie am Thälmannpark oder in Kleingartenanlagen, die in Wahrheit Wohnsiedlungen auf Billigpachtland seien.

Ein Schauer schüttelt den Stadtrat beim Gedanken an diese Debatten, während neben ihm das Kaminfeuer prasselt. Jetzt ist erst mal Weihnachtspause. Zeit für die Kinder, die alle um die 30 sind, und für die drei Enkel. „Organisierte Auszeiten gehören zur Professionalität“, sagt Kirchner. Zumal er als Grüner Nachhaltigkeit nicht nur predigen, sondern auch leben wolle. Wahrscheinlich wird er sogar sein Diensthandy ausschalten. Aber ganz sicher ist er noch nicht.

Viele Flocken schweben nieder,
kalter Winter wird es wieder,
bald ist alles tief verschneit,
und es naht die Weihnachtszeit.

Schwäne suchen ihre Speise,
Kinder laufen auf dem Eise;
unter ihren Pudelmützen
sieht man sie gewaltig schwitzen.

Glitzert, schimmert weißer Schnee,
doch wenn man hinfällt, tut es weh.
Blinkt auch manchmal nur ein Stern,
hab ich doch den Winter gern.

(Von Jens-Holger Kirchner, 12 Jahre alt)

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