Häusliche Gewalt in der Coronakrise: Wenn die Kontaktsperre lebensgefährlich wird
Schon jetzt mehren sich die Fälle häuslicher Gewalt in Berlin. Wie können Beratungsstellen, Frauenhäuser und Rechtsanwälte den Betroffenen unter eingeschränkten Bedingungen helfen?
Zuhause wird es eng, zusätzlich sorgt Unsicherheit für ein größeres Aggressions- und Gewaltpotential. Für Betroffene häuslicher Gewalt könnten die Beschränkungen in der Coronakrise lebensgefährlich werden.
Seit dem 1. März ist die Kriminalität im Bereich häuslicher Gewalt um zehn Prozent höher als im vergangenen Jahr in diesem Zeitraum, zeigen aktuelle Zahlen der Berliner Polizei.
Eine genaue Analyse der aktuellen Statistik liegt noch nicht vor. Allerdings zeigte sich schon seit Anfang des Jahres 2020, dass die Fallzahlen wöchentlich fast immer über dem entsprechenden Vorjahreswert liegen, wie die Polizei mitteilt. Deshalb könne man noch nicht sagen, „ob der Fallzahlenanstieg der vergangenen Wochen mit den derzeitigen Pandemie-Auflagen im Zusammenhang steht.“
Im gesamten Jahr 2019 wurden mehr als 15.600 Personen in Berlin Opfer häuslicher Gewalt. In den vergangenen Jahren war es generell so, dass rund 70 Prozent der Opfer Frauen waren.
Was 2020 anders ist: Für die Betroffenen schließen sich durch die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen viele Türen. „Die erste Anlaufstelle ist für viele eine Freundin, eine Bekannte, eine Verwandte, wo die Frau erstmal für zwei, drei Tage unterkommt“, sagt Asha Hedayati, Rechtsanwältin in Berlin für Familien- und Ausländerrecht.
Erst wenn sie in einer gewohnten, stabilen Unterkunft Schutz gefunden hätten, sagt Hedayati, würden viele Betroffene Frauenhäuser und Beratungsstellen kontaktieren. Doch genau das ist durch das weitreichende Verbot von Besuchen bei Familie und Freunden nun weniger möglich.
„Das ist die Ruhe vor dem Sturm“
Hedayati berät ihre Mandantinnen aktuell aus dem Homeoffice, per Email und Telefon, soweit es geht. „Ich habe Frauen, die sich melden, aber nur ganz kurz telefonieren können, weil sie etwa nur für die Zeit eines Einkaufs Privatsphäre haben.“
Noch spürt Hedayati nicht, dass es zu mehr Vorfällen komme. Im Gegenteil: Bisher sei es „verdächtig ruhig“, sagt sie. Das, glaubt sie, „ist die Ruhe vor dem Sturm“. Erst in ein paar Wochen, vermutet sie, werden die „massiven Eskalationen innerhalb der Familie, die es sicherlich jetzt schon gibt, auch bei uns in der Beratung ankommen.“ Dann seien Beratungsstellen, Frauenhäuser und Anwältinnen wie sie stark gefordert.
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Das sieht die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung ähnlich. Dort geht man davon aus, dass die „notwendigen Einschränkungen für viele Familien eine enorme Belastung darstellen und zu einer Eskalation von Konflikten und somit auch von häuslicher Gewalt führen können“, heißt es in einer schriftlichen Antwort an den Tagesspiegel.
Auch die Gewaltschutzambulanz der Charité twittert: „Erste Erhebungen bestätigen die von Expertinnen und Experten geäußerte Befürchtung eines Anstiegs von häuslicher Gewalt während der Ausgangsbeschränkungen.“
Justiz im Notbetrieb
Die Einschränkungen verlangsamen außerdem die gerichtlichen Prozesse. Das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg etwa, wo sehr viele familienrechtliche Angelegenheiten verhandelt werden, befindet sich vom 23. März bis 24. April im Notbetrieb. „Eine zeitnahe Erledigung kann nur in unaufschiebbaren Eilangelegenheiten sichergestellt werden“, heißt es auf der Webseite. In allen anderen Angelegenheiten müsse „mit deutlich verlängerten Bearbeitungszeiten gerechnet werden.“
Auch die Polizei stellt ihre Präventionsarbeit mit direktem Kontakt während der Krise ein, zum Schutz ihrer Mitarbeiter und Bürgerinnen und Bürger. „Informationen zum Umgang, Schutzmöglichkeiten und Hilfen bei häuslicher Gewalt können aber selbstverständlich über die Internetseite abgerufen werden“, heißt es in einer schriftlichen Antwort an den Tagesspiegel. Wegweisungen, bei denen Täter für bis zu zwei Wochen der Wohnung verwiesen werden können, wendet die Polizei als Möglichkeit weiterhin an.
Auch Anträge auf Gewaltschutz werden von den vier Berliner Familiengerichten weiterhin schriftlich entgegengenommen und bearbeitet, bestätigt die Senatsverwaltung für Justiz. Derzeit werden sonst aber nur eilige Familiensachen behandelt.
Sorgerechts- und Unterhaltsverhandlungen, die die persönlich Anwesenheit erfordern, finden nur sehr begrenzt statt. Anwältin Hedayati sagt, ihre Termine vor Gericht wurden für den gesamten April abgesagt. „Nachholtermine gibt es noch keine.“
Das belaste besonders Familien: „Je länger diese Kindschaftsverfahren dauern, desto mehr Spannungen bringt es in die Familie“, sagt Hedayati. Dadurch könne es zu deutlich mehr Konflikten, Übergriffen und Kindeswohlgefährdungen kommen, besonders in der sowieso schwierigen Quarantänesituation.
Wenn Hedayati jetzt neue Fälle bekommt, könne sie zwar Anträge stellen, müsse aber die Mandanten vertrösten: „Das wird dann vielleicht deutlich später entschieden. Ich weiß nicht, wie lange die Verfahren jetzt dauern.“ Hedayati hofft auf andere Lösungen, zum Beispiel, dass Präsenztermine durch schriftliche Verfahren ersetzt werden können.
Krise erfordert bessere Ausstattung der Frauenhäuser
Auch viele Beratungsstellen haben ihre Gespräche mit Betroffenen auf Telefon und Online umgeleitet. Das birgt eigene Probleme: Vielerorts gebe es technische Herausforderungen und mangelnde Möglichkeiten, auf eine datensichere Onlineberatung umzustellen, gibt die Vorsitzende des Deutschen Frauenrates, Mona Küppers, zu Bedenken.
Heike Herold vom bundesweiten Verein Frauenhauskoordinierung hofft, dass durch diese Notsituation Frauenhausplätze ausgeweitet und Frauenhäuser besser ausgestattet werden.
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Schon in normalen Zeiten sind die Wartelisten für Frauenhäuser lang, regelmäßig müssen Betroffene abgewiesen werden. Nun dramatisiert sich die Situation durch die Zunahme von Gewaltvorfällen bei gleichzeitiger Einhaltung des Infektionsschutzes.
In einer Information der Frauenhauskoordinierung heißt es, vor der Aufnahme einer Frau und ihrer Kinder müsse die potentielle Gefährdung durch eine Erkrankung an Covid-19 „im konkreten Einzelfall geklärt werden“.
Anhand von Fragen soll das Risiko eingeschätzt werden und das Frauenhaus bzw. dessen Träger auf dieser Grundlage „abwägen und entscheiden, ob die Frau und ihre Kinder aufgenommen werden können oder nicht.“
Bei Verdachtsfällen oder bestätigten Covid-19-Fällen in Frauenhäusern müssen diese dementsprechend isoliert werden. Im schlechtesten Fall und bei sowieso schon begrenzten Kapazitäten führt das zu einem Aufnahmestopp.
Berlin plant Notunterbringung für Betroffene
„Auch in Krisenzeiten ist Gewaltschutz eine Staatsaufgabe“, schreibt Maria Wersig, Juraprofessorin und Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, dem Tagesspiegel. Sie fordert, dass alle nötigen Maßnahmen ergriffen werden: „Der Ausbau der Frauenhauskapazitäten darf kein Tabu sein und Beratungsstellen brauchen Unterstützung beim Ausbau mobiler und digitaler Angebote.“
2019 standen laut Senatsverwaltung für Gleichstellung in Berlin insgesamt 729 Plätze in sechs Frauenhäusern, sowie Zufluchtswohnungen und Zweite-Stufe-Wohnungen zur Verfügung. Man arbeite nun intensiv an „einer Notunterbringung von gewaltbetroffenen Frauen für den Fall, dass der Bedarf von den Frauenhäusern nicht aufgefangen werden kann“, schreibt Pressesprecher Moritz Quiske.
Noch in diesem Jahr sei zudem die Eröffnung eines siebten Frauenhauses geplant. Diese Planung bleibe trotz Krise unverändert.