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Jens Spahn bei einer Pressekonferenz zur aktuellen Corona-Lage.
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Update

Spahn und Merkel zum Astrazeneca-Impfstopp: Wenn der Gesundheitsminister dem Impfchaos noch etwas Positives abgewinnt

Die Astrazeneca-Impfungen für Menschen unter 60 Jahren sind gestoppt. Auf eigenes Risiko können diese das Vakzin aber dennoch erhalten. Wie es nun weitergeht.

Der Corona-Impfstoff von Astrazeneca soll nach einem Beschluss der Gesundheitsminister von Bund und Ländern ab Mittwoch nur noch für Menschen ab 60 Jahren eingesetzt werden. Grund seien weitere Fälle von "Hirnvenenthrombosen im Zusammenhang mit einer Impfung mit dem Impfstoff von Astrazeneca", heißt es in dem Beschluss, der dem Tagesspiegel vorliegt.

"Personen, die das 60. Lebensjahr vollendet haben", sollen nun vorrangig mit Astrazeneca geimpft werden. "Den Ländern steht es frei, bereits jetzt auch die 60-69Jährigen für diesen Impfstoff mit in ihre Impfkampagne einzubeziehen. Dies gibt die Möglichkeit, diese besonders gefährdete und zahlenmäßig große Altersgruppe angesichts der wachsenden 3. Welle nun schneller zu impfen".

Aber auch der Einsatz unterhalb dieser Altersgrenze von 60 Jahren bleibt "nach ärztlichem Ermessen und bei individueller Risikoanalyse und Entscheidung der impfwilligen Person nach sorgfältiger Aufklärung möglich.“

Das heißt, wer das Risiko selbst trägt, kann sich damit auch impfen lassen. Wenn Menschen unter 60 sich gemeinsam mit einem impfenden Mediziner für Astrazeneca entscheiden, sollen diese Impfungen grundsätzlich in den Praxen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte erfolgen.

Merkel: Folgen für Impfkampagne

In einer kurzfristig angesetzten Schalte informierte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder darüber. Im Anschluss erklärte sie in einer Pressekonferenz, es gebe Erkenntnisse, die "wir nicht ignorieren können."

Impfen sei aktuell das wichtigste Mittel. Zum Glück gebe es mehrere Impfstoffe. "Wir müssen dem Impfstoff vertrauen können. Vertrauen entsteht aus dem Wissen, dass jedem Verdacht nachgegangen wird. Dafür stehen Bund und Länder ein."

Die Entscheidung von Dienstag habe Folgen für die Impfkampagne. Es müssten Veränderungen an Lieferplänen, bei den mobilen Teams und den Hausärzten vorgenommen werden.

Kanzlerin Angela Merkel.
Kanzlerin Angela Merkel.
© Markus Schreiber / POOL / AFP

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn betonte: "Es ist ohne Frage ein Rückschlag." Nun könnten die über 60-Jährigen aber schneller geimpft werden. "Die Älteren in dieser wachsenden dritten Welle zu schützen, ist wichtig."

Er bat diese Gruppe ausdrücklich, sich impfen zu lassen. Der Impfstoff sei gerade auch bei Älteren sehr wirksam. "Impfen ist fast immer die bessere Entscheidung."

[Mehr zum Thema: Warum der Vergleich bei den Nebenwirkungen von Astrazeneca und der Pille hinkt (T+)]

Auf die Frage, ob Merkel sich denn jetzt auch impfen lasse, schließlich sei sie über 60, antwortete die Kanzlerin: "Die Möglichkeit, sich impfen zu lassen, ist für mich näher gerückt." Es komme jetzt aber darauf an, wie das Land Berlin die neue Situation umsetze. Spahn bekräftigte zugleich das Versprechen, trotz der neuen Lage jedem Bundesbürger im Sommer ein Impfangebot machen zu können.

Der Streit zwischen Bund und Ländern über das weitere Vorgehen in der Pandemie ist nach Aussage von Kanzlerin Angela Merkel noch nicht geschlichtet. "Der Prozess des Nachdenkens ist noch nicht abgeschlossen", sagt Merkel in Berlin. Es sei aber immer am besten, wenn Bund und Länder zusammenarbeiteten. Und es gelte, "alles zu tun, um diese Welle so schnell wie möglich zu brechen".

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Corona-Impfzentrum Flughafen Tempelhof in Berlin. Vorerst wird in der Stadt an Jüngere kein Astrazeneca mehr verimpft.
Corona-Impfzentrum Flughafen Tempelhof in Berlin. Vorerst wird in der Stadt an Jüngere kein Astrazeneca mehr verimpft.
© imago images/Stefan Zeitz

Zuvor hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) eine entsprechende Altersbeschränkung für Astrazeneca empfohlen. Grundlage seien derzeit verfügbare Daten zum Auftreten „seltener, aber sehr schwerer thromboembolischer Nebenwirkungen“. Diese seien 4 bis 16 Tage nach der Impfung ganz überwiegend bei Personen im Alter unter 60 Jahren aufgetreten, teilte das beim Robert Koch-Institut (RKI) angesiedelte Gremium mit.

Dabei geht es um Auffälligkeiten mit Fällen von Blutgerinnseln (Thrombosen) in Hirnvenen in zeitlichem Zusammenhang zu Impfungen, die vor allem bei jüngeren Frauen gemeldet wurden.

Berlin setzte Impfungen zuerst aus

Zuvor hatte Berlin Corona-Impfungen mit Astrazeneca für Patienten unter 60 Jahren vorsorglich ausgesetzt. Das gab Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) am frühen Nachmittag bekannt. Sie verwies auf neue Daten über etwaige Nebenwirkungen des Impfstoffs.

Auch Brandenburg setzte die Impfungen für unter 60-Jährige am Dienstag aus. Die Stadt München zog nach eigenen Angaben kurz darauf nach. Am frühen Abend hatte auch das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium einen sofortigen Impfstopp für Astrazeneca für Männer und Frauen unter 60 Jahren erlassen.

Was passiert mit der Zweitimpfung?

Nun stellen sich viele Bürger, die die erste Dosis bekommen haben, die Frage, was nun mit der Zweitimpfung passiert. Dazu hatte Dirk Heinrich, der Bundesvorsitzende des Virchowbundes und medizinische Leiter des Hamburger Impfzentrums, jüngst dem Tagesspiegel gesagt, auch eine Zweitimpfung mit den mRNA-Impfstoffen von Biontech oder Moderna sei theoretisch möglich.

 „Es gibt Stimmen, die sagen, eine Mischung wäre sowieso gar nicht so verkehrt, weil jeder Impfstoff löst eine etwas andere Immunreaktion aus und die Wirkung könnte dadurch sogar besser sein, wenn es erst mit dem einen, dann mit dem anderen Impfstoff durchgeführt würde“.

Jeder Impfstoff habe eine eigene Reaktion. Diese Immunantwort sei aber vermutlich genauso wirksam und vielleicht sogar wirksamer, weil mehr Immunreaktionen ausgelöst werden. Das sei aber wissenschaftlich noch nicht endgültig erforscht. Dann müsste zudem überlegt werden, ob anschließend eine dritte Impfung gegeben werden muss, also zwei Impfungen mit dem anderen Impfstoff. Er hatte vorgeschlagen, jetzt vor allem die Jüngeren mit dem Biontech-Impfstoff zu impfen.

Söder: „Wer sich traut, der soll auch die Möglichkeit haben“

Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU) schlägt angesichts der Turbulenzen um Astrazeneca vor, die Impfreihenfolge für das Vakzin komplett aufzulösen. „Irgendwann wird man bei Astrazeneca speziell mit sehr viel Freiheit operieren müssen und sagen müssen: Wer will und wer es sich traut quasi, der soll auch die Möglichkeit haben“, sagte Söder am Dienstag in München.

Astrazeneca funktioniere nicht so, wie die meisten gehofft hätten, sagte Söder. „Bei Astrazeneca ist ja jeden Tag irgendein neues Problem zu erwarten. Und das spürt man auch ehrlicherweise in der Wahrnehmung draußen“, betonte er.

Am Morgen hatten schon Berlins landeseigene Kliniken die Impfungen mit dem Astrazeneca-Präparat für Frauen unter 55 Jahren ausgesetzt, am Mittag wurde dann beschlossen: Man schließe sich dem Stopp des Landes für alle unter 60-Jährigen an. "Obwohl in der Charité keine Komplikationen nach Impfungen mit Astrazeneca aufgetreten sind, will die Charité hier vorsorglich agieren und abschließende Bewertungen abwarten", teilte die Uniklinik mit.

Sowohl in der Charité als auch in den Vivantes-Krankenhäusern haben Tausende Mitarbeiter schon die erste Astrazeneca-Dosis erhalten. Da in den Kliniken mehrheitlich Frauen arbeiten, dürften nun dennoch viele Impfungen vorerst ausfallen.

An der Charité arbeiten insgesamt 19.000 Beschäftigte. Im Vivantes-Konzern, der neben Kliniken auch Pflegeheime betreibt, sind es 17.000. In der Charité sind nach Tagesspiegel-Informationen zwei Drittel der Mitarbeiter geimpft, davon wiederum 70 Prozent mit dem Astrazeneca-Mittel.

Die Charité in Berlin setzt Astrazeneca-Impfungen für junge Frauen vorerst aus.
Die Charité in Berlin setzt Astrazeneca-Impfungen für junge Frauen vorerst aus.
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Ab Jahreswechsel waren an der Charité und in den Vivantes-Kliniken zuerst Pflegekräfte und Ärzte auf Covid-19-Stationen mit dem Biontech-Mittel geimpft worden. In den letzten Wochen wurde das Personal anderer Stationen, zuletzt auch patientenferne Mitarbeiter mit Astrazeneca geimpft. Kommende Woche sollten einzelne Patienten, an der Charité zudem Studenten mit Astrazeneca versorgt werden.

Erst am Montag meldete der Kreis Euskirchen in Nordrhein-Westfalen, dass Corona-Impfungen mit Astrazeneca für Frauen unter 55 Jahren gestoppt würden. Zunächst sollen dort zwei Thrombose-Fälle untersucht werden: Eine 47 Jahre alte Frau war nach der Impfung verstorben.

Die Patientin hatte wenige Tage nach der Impfung eine Sinusvenenthrombose im Hirn entwickelt. Eine andere Bewohnerin entwickelte nach der Impfung ebenfalls eine Thrombose, sie wird derzeit behandelt. Auch die Uniklinik Rostock hatte vor einigen Tagen die Impfungen mit Astrazeneca für Risikogruppen gestoppt.

Am Dienstag hatten fünf Uni-Kliniken in NRW einen Impfstopp mit dem Vakzin für jüngere Frauen empfohlen. Das Risiko von weiteren Todesfällen sei zu hoch.

Mitte März hatten die Regierungen zahlreicher Staaten die Impfungen mit dem Präparat von Astrazeneca gestoppt. Nach der Impfung, so der Verdacht, wurden gehäuft Fälle spezieller Thrombosen, also Blutgerinnsel, im Hirn gemeldet. Ob die Thrombose-Fälle in direktem Zusammenhang mit der Impfung stehen, ist umstritten.

Laut aktuellen Daten des Paul-Ehrlich-Institutes (PEI), das Fälle von Nebenwirkungen bei den Corona-Impfstoffen sammelt, sind bisher bei rund 2,7 Millionen Astrazeneca-Impfungen 31 Fälle einer Hirnthrombose aufgetreten, die damit in Zusammenhang stehen könnten. 29 bei Frauen. 9 Menschen starben.

Der Impfstoff von Astrazeneca ist in Berlin deutlich unbeliebter als vom Senat erhofft. Hunderttausende, die Zugriff auf einen Impfcode haben, nutzen diese Berechtigung offenbar nicht, um einen Impftermin auszumachen.

Astrazeneca-Stopp auch bei Berliner Polizei

Die Berliner Polizei hatte die Impfungen mit Astrazeneca bereits in der vergangenen Woche ausgesetzt. Das geht aus einem Schreiben an die 25.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hervor, das dem Tagesspiegel vorliegt.

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In dem Schreiben vom vergangenen Mittwoch zum Umgang mit dem Warnhinweis der Europäischen Arzneimittelagentur "für jüngere Frauen bezüglich Astrazeneca" heißt es: "Von einer erneuten behördlichen Impfcodevergabe ist vorerst abzusehen."

Polizisten, die bereits die erste Impfung mit Astrazeneca bekommen haben, könnten sich entscheiden, "ob sie den vollen Impfschutz durch die zweite Impfung in Anspruch nehmen oder aus persönlichen Gründen darauf verzichten".

Aus der Behörde ist zu hören, dass es für den Impfstopp weitere Gründe gebe. Demnach will die Polizeiführung vermeiden, dass sich Beamte nach einer Impfung mit Astrazeneca vermehrt krank melden – und zwar schon bei der kleinsten Impfreaktion.

Berliner Unternehmer forderten angesichts der chaotischen Lage, die Zulassung und den Import des russischen Impfstoffs Sputnik V zu beschleunigen. „In der Bekämpfung der Pandemie ist der Schutz von Menschenleben durch die Zulassung eines weiteren Impfstoffes und dessen Einkauf wichtiger, als politisch gefärbte Auseinandersetzungen über das Herstellerland“, teilte die Interessengemeinschaft Ostdeutscher Unternehmensverbände mit. Nötig seien unkomplizierte Entscheidungen, um die „historische Herausforderung zu meistern“. Ideologische Vorbehalte dürften keine Rolle spielen. (mit dpa)

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