Sommer in Berlin: Wenig Kleidung ist nicht immer mehr
Die Berliner legen ihre Kleidung ab, sobald es wärmer als 25 Grad wird. Dabei ist mehr freie Haut nicht unbedingt ein Beweis für körperliche Befreiung. Eine Kolumne.
In der Nähe der Schillingbrücke am Ostbahnhof steht ganz oben auf einer Mauer in riesigen Lettern das Wort: PIMMEL. Jedes Mal, wenn ich an der Brücke vorbeikomme, frage ich mich: Welch dringendes Bedürfnis hat den Sprayer (oder die Sprayerin – interessanter Gedanke, dass es sich um eine Frau handeln könnte) dazu gebracht, den gefährlichen Aufstieg zu wagen, um ganz dicht unter dem Himmel das Wort für das männliche Geschlechtsorgan in gigantischen Buchstaben anzuschreiben?
Die Kreativität der Sprayer speist sich aus einem Labyrinth von Phantasiegebilden und unerfüllten Träumen. Ich überlasse es Ihnen, sich die tausend möglichen Szenarien auszumalen, die zu der akrobatischen Aktion geführt haben könnten. Ganz bestimmt aber muss man in diesen allzu heißen Tagen nur in Berlin spazieren gehen, um die Inspirationsquelle zu entdecken.
Schamgefühl gehört nicht zu den typisch deutschen Eigenschaften
Machen Sie sich frei! Anscheinend hat Berlin diese nachdrückliche Aufforderung gehört und setzt sie nun ohne Zögern in die Tat um. Eine ganze Stadt präsentiert Ihnen einen kollektiven Striptease. Die Berliner legen ihre Kleidung ab, sobald das Thermometer mehr als 25 Grad zeigt. Hosen, Hemden, Schlüpfer fliegen durch die Gegend wie die ausgerissenen Margeritenblätter des Liebesorakels. Pech hat, wer ein kleines Stück Haut verstecken will. In diesem Land hat FKK eine lange Tradition. Und Schamgefühl, auf Französisch la pudeur, ein so zartes Wort, gehört nicht zu den typisch deutschen Eigenschaften. „Hier ist es nicht der für einen flüchtigen Moment entblößte Knöchel einer muslimischen Frau, der einem die Sinne raubt“, amüsiert sich eine kabylische Freundin. An einem sonnigen Morgen gingen wir im Tiergarten spazieren, wo auf dem Rasen Nackte mit breit gespreizten Beinen träge ausgestreckt lagen, wenige Meter von der Straße des 17. Juni mit ihren vielen Autos und Passanten entfernt.
Nicht nur für eine Algerierin ist das ein surrealistisches Spektakel, auch eine Französin staunt. Stellen Sie sich nur einmal Nackte im Jardin du Luxembourg vor, wo schon das Ausziehen der Strümpfe ein Anschlag auf die guten Sitten ist. Niemals, absolut niemals würde man an einem französischen Strand außerhalb der umzäunten Anlagen für Nudisten jemanden sehen, der ohne Bikini umherschlendert. Und wenn Sie sich an den Ufern der Berliner Seen umschauen: Verrenkt sich ein Badender im Schutz seines Handtuchs, um seine Badehose anzuziehen, können Sie sicher sein, dass es sich um einen Franzosen handelt.
Ich erinnere mich daran, wie ich im Sommer nach dem Fall der Mauer zu einem sehr mondänen Empfang eingeladen war, auf einem Schiff, das langsam durch die engen Kanäle fuhr. Auf dem Deck: Smalltalk und Sekt. Eine Zusammenkunft hochkarätiger Intellektueller, die Damen mit Strohhüten, die Herren im Sommeranzug und mit Panama. Am Ufer: Pimmel und gegrillte Würstchen. Die Zonis, wie man sie damals noch nannte, spielten Adam und Eva. An Bord tat die leicht genierte Runde so, als würde sie die an einem strahlenden Sommertag vorbei gleitende Peep Show nicht wahrnehmen. Hätten Sie gern noch ein Schälchen Erdbeeren mit Sahne, meine Liebe? Und wie denken Sie über die künftige architektonische Entwicklung von Berlin, Herr Professor? Nur zu gern hätte ich gewusst, was die bis zum Hals zugeknöpfte Versammlung über diese FKK-Prozession dachte, die ihnen buchstäblich unter der Nase vorbeizog.
Ungeniertes Zeigen der Nacktheit verleugnet die Grundlagen der Erotik
„Wie verklemmt ihr Franzosen doch seid!“, schimpfen die Deutschen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch – die Dinge sind nicht so einfach, wie sie aussehen. Alles ablegen, sich in der Öffentlichkeit nackt wie ein Wurm zeigen, das ist nicht unbedingt ein Beweis für die körperliche Befreiung. Im Gegenteil, dieses gewissermaßen hygienische und ungenierte Zeigen der Nacktheit verleugnet die Grundlage der Erotik: das Spiel von Zeigen und Verbergen, der subtile Wechsel von Verschleiern und Entschleiern. Ja, der für einen Sekundenbruchteil wahrgenommene Knöchel ist so viel erregender als der allen Blicken dargebotene Pimmel.
Wenn es gestattet ist, alles zu zeigen, verliert die Frivolität ihre subversive und großartige Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten. Gehen Sie zum Baden an den Teufelssee. Kein sinnlicher Schauer überläuft die von der Sonne geröteten Körper, die sich dicht an dicht ausstrecken. Viel aufregender ist die Frage: Was verhüllt das Handtuch des Badenden vom Schlachtensee? Ich bin dafür, dass man im Sommer in Berlin das Tragen zumindest eines Feigenblattes vorschreibt.
Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.