Berlin ohne Kapellen, Krabbelgruppen, Jugendkeller: Was fehlen würde, gäbe es die Kirche nicht mehr
Erst Ausgetreten, dann wieder eingetreten: Warum Christoph Stollowsky zur Evangelischen Kirche zurückgekehrt ist – ein Plädoyer.
Mal ein bisschen Hokuspokus wagen? Zaubern wir sie einfach alle fort: Die evangelischen Kirchengemeinden in Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf, in Reinickendorf, Kreuzberg, Pankow, Köpenick, Mitte oder Marzahn. Für meine Familie und mich im Steglitzer Ortsteil Lichterfelde hätte dies zur Folge: Simsalabim, auf einmal sind sie weg, die Johann-Sebastian-Bach-Kirchengemeinde, die Johannes-Gemeinde, die Paulus- und Petrusgemeinde rund um unser zu Hause.
Wäre das überhaupt ein Verlust? Oder vielleicht sogar ein Gewinn? Ganz im Sinne all jener Kritiker, die Kirche und Glauben für nicht mehr zeitgemäß halten und deshalb ihrer Gemeinde die Mitgliedschaft aufkündigen oder gar nicht erst beitreten? Zumal sie die Kirchensteuer als eine unselige Verbindung von Staat und Kirchengemeinden ablehnen.
Für meine über 90-jährige Mutter würde dies bedeuten: Kein Seniorencafé mehr in der Johann-Sebastian-Bach-Gemeinde, zu dem sie ehrenamtliche Helfer im Kleinbus abholen. Keine Tanzgruppe mehr für ältere Menschen, organisiert von der nahen Johannes-Kirchengemeinde.
Etliche Flüchtlingsfamilien würden überdies ihr neues zu Hause in Gemeindehäusern verlieren, vorbei wären die Sonntagabend-Musiken bei „Johannes“, auch „Kultur in Petrus“, die beliebte Jazz- und Kleinkunst-Reihe, fiele weg. Es gäbe keine Chöre mehr für Kinder und Erwachsene, die gleichermaßen begeistert Paul Gerhardts berührende Kirchenlieder, Musical-Songs oder Gospels singen.
Es gäbe keine kirchlichen Initiativen mehr gegen Antisemitismus, für Toleranz und Stolpersteinverlegungen. Krabbelgruppen, Literaturkreise, Schülerzirkel, Spiele- und Familiennachmittage, Filmabende, Treffs für alleinerziehende Mütter sowie Besuchsdienste für Senioren oder Einsame würden gestrichen. Einst kunterbunt belebte Gemeindehäuser wären verschlossen, keine Jugendkeller mehr, bei „Paulus“ wären der Forscherclub „Coole Kids“ und das „Café Tandem“ dicht, ein multikultureller Treff. Und das ist bei weitem nicht alles.
Kirchengemeinden sind die Basis für viele Angebote
Könnte der Staat all diese gesellschaftlichen Angebote der Kirche ersetzen? Nein, das Land Berlin und die Bezirke können ja ihre eigenen sozialen Leistungen nur mit Mühe erbringen.
Okay, manche Kirchenangebote wie Kitas oder Horte werden staatlich kräftig gefördert, aber den Großteil aller Gemeindeaktivitäten erbringen freiwillig engagierte Bürger. Die Kirchengemeinden sind deren Basis, sie ermöglichen die Organisation, sie stellen die Infrastruktur.
Und sie setzten sich, um all dies zu erhalten, oftmals für eine tolerante politische Gesinnung ein. Ohne die protestantischen – aber auch katholischen Gemeinden – würde ein mit großem Einsatz geknüpftes, engmaschiges soziales Netz zerrissen, das Menschen vielfältig bereichert, Freiräume bietet oder sie in seelischer Not auffängt.
Haben die Kritiker das vor Augen, wenn sie leichthin erklären, die Kirchengemeinden seien verzichtbar? Ja, sogar die Austrittsgebühr von 30 bis 50 Euro müsse abgeschafft werden, weil sie die Religionsfreiheit beeinflusse und Menschen vom Austritt abhalte.
Bei Diskussionen fällt mir auf, dass oft vorschnell abgeurteilt wird, ohne genaues Hinsehen, ohne Neugier und Fairness. Obwohl es einfach wäre: Die Websites der Gemeinden und Lokalzeitungen informieren reichhaltig. Und jeder, der sich erst mal unverbindlich einen Eindruck vom Gemeindeleben verschaffen will, ist willkommen.
Ich selbst gehe eher selten in den Gottesdienst. Als junger Mann kehrte ich der Kirche den Rücken, 2000 trat ich wieder bei und zahle seither überzeugt Kirchensteuer. Es waren weniger religiöse Gründe. Ich staune zwar angesichts all der Wunder unserer Welt, bin spirituell empfänglich und offen für Kräfte, die meine Vorstellungskraft übersteigen. Aber ich kann das Glaubensbekenntnis nicht überzeugt mitsprechen.
Nein, Triebkraft war für mich vorrangig ein Gebot der Fairness. Meine jüngste Tochter Lena besuchte damals die Kita der Johannes-Gemeinde, sie erlebte dort auch christliches Brauchtum, Lieder, Bibelgeschichten, was aus meiner Sicht zu einer guten Herzensbildung gehört, egal wie sie später damit umgeht. Lena erfuhr im Kinderchor die Freude am Singen. Und meine Mutter wanderte jahrelang mit Gemeindegruppen, sie tanzt bis heute bei „Johannes“. Da wollte ich nicht nur nehmen, sondern auch geben.
Heiliger Geist? Gott? Egal, wie jeder Einzelne dies erlebt. Unsere Kirchengemeinden praktizieren ein gelebtes Christentum. Sie übernehmen gesellschaftliche Verantwortung im Sinne der Bergpredigt. Das ist für mich entscheidend – und ein hoher Wert, sie zu unterstützen.
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