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Protestierende vor der Gorillas-Zentrale in Prenzlauer Berg.
© Christoph M. Kluge

„Die digitale Sklaverei muss ein Ende haben“: Was der Gorillas-Arbeitskampf über die ganze Lieferdienst-Branche verrät

Fahrradkuriere stehen meist in einem krassen Abhängigkeitsverhältnis. Die Politik muss die Beschäftigten der Start-ups besser schützen. Ein Gastbeitrag.

Fahrradkurier*innen haben mit ihren großen kastenförmigen Rucksäcken in der Pandemie das Stadtbild bestimmt. Sie stehen sinnbildlich für den Boom des E-Commerce und der Lieferbranche. Inzwischen kämpfen in Berlin Wolt, Lieferando, Uber Eats, Gorillas, Flink, Getir und Foodpanda von Delivery Hero um die größten Marktanteile. Ein Kampf, der wortwörtlich auf dem Rücken der Beschäftigten stattfindet.

Der Lieferdienst Gorillas bietet mehr als 1000 Supermarktprodukte an und verspricht, diese innerhalb von zehn Minuten bis an die Haustür zu liefern. Das kostet dann eine Liefergebühr von nur 1,80 Euro. Möglich wird das durch die dürftigen Arbeitsbedingungen der „Rider“, also der Fahrradkurier*innen. Sie verdienen lediglich 10,50 Euro pro Stunde, müssen teilweise mit 30 Kilo schweren, schlecht gepolsterten Rucksäcken auf klapprigen Fahrrädern durch den gefährlichen Berliner Stadtverkehr heizen.

Für den Gorillas-Gründer Kagan Sümer kommt es angeblich auch auf andere „Werte” an. Ihm gehe es um die Gemeinschaft, sagt er. Deswegen würden künftig DJ-Sets in den Lagerstandorten gespielt. In der Firmenzentrale soll Kunst der Fahrer*innen ausgestellt werden. Um den Unmut der Beschäftigten zu lindern, hat Sümer eine Fahrradtour quer durch Deutschland zu allen Lagerhäusern angekündigt. Ein nettes Rahmenprogramm sorgt aber noch nicht für bessere Arbeitsbedingungen. Was hilft den Rider*innen die „Gemeinschaft“, wenn sie bei strömendem Regen und Zeitdruck durch den Stadtverkehr fahren müssen, dabei sich und ihre Gesundheit gefährden, für einen Lohn, der alles andere ist als armutsfest?

Die Beschäftigten bei Gorillas wollen deshalb jetzt für ein Novum in der Lieferbranche sorgen und einen Betriebsrat gründen. Doch obwohl dem Gründer die „Gemeinschaft“ seiner Belegschaft angeblich so wichtig ist, gibt es immer wieder Probleme bei der Koordinierung der Betriebsratswahlen.

Besonders betroffen sind junge Leute mit Migrationsgeschichte

Es ist gerade in der Plattformökonomie ein weit verbreitetes Phänomen, dass junge Unternehmen in einem unglaublichen Tempo wachsen, die Arbeitnehmer*innenrechte dabei aber häufig auf der Strecke bleiben. Doch innovative Geschäftsideen dürfen die Errungenschaften erfolgreicher Arbeitskämpfe nicht aushebeln. Besonders betroffen sind junge Arbeitnehmer*innen mit Migrationsgeschichte, die zu einem großen Teil nicht fließend Deutsch sprechen und sich nicht mit dem deutschen Arbeitsrecht auskennen.

Die Kreuzberger Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe (SPD).
Die Kreuzberger Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe (SPD).
© privat

[Die Autorin: Cansel Kiziltepe sitzt seit 2013 für die SPD im Bundestag. Die Diplom-Volkswirtin aus Kreuzberg ist außerdem in der IG Metall und im Berliner Mieterverein aktiv.]

Es sind nicht die klassischen Berufsfelder, in denen hier Konflikte zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen auftreten. Aber es sind Konflikte, die nicht verschwinden werden und an die sich Gesetze, die Politik und gewerkschaftliche Arbeit anpassen müssen.

Mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz haben wir als SPD an wichtigen Stellschrauben gedreht. Betriebsratswahlen werden dadurch einfacher und mehr Personen, die sich für Betriebsratswahlen einsetzen, werden künftig geschützt. Doch es braucht noch weitere, grundsätzliche Änderungen, damit auch in Zukunft ein starker Arbeitnehmer*innenschutz allen Beschäftigten zugutekommt. Betriebsratsfeindliche Aktionen müssen konsequenter verfolgt werden und es braucht spezialisierte Staatsanwaltschaften.

Gorillas bietet als einer der wenigen Lieferdienste Arbeitsverträge an

In der Plattformökonomie kommt die entscheidende Frage der Definition des Arbeitsverhältnisses hinzu. Standardmäßig werden Plattformarbeiter*innen nicht als Angestellte beschäftigt, sondern als Solo-Selbstständige. Das hat oft entscheidende Nachteile, wenn es um Urlaubsansprüche, garantierte Arbeitsstunden oder Gesundheitsschutz geht. Doch es gibt immer mehr Fälle in Europa und auch in Deutschland, in denen Gerichte entscheiden, dass dieses Geschäftsmodell der Plattformen nicht rechtmäßig ist.

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Gorillas ist eines der wenigen Unternehmen der Branche, die ihren Beschäftigten Arbeitsverträge anbieten. Diese gehen über zwölf Monate und beinhalten eine Probezeit von sechs Monaten. Die Belegschaft besteht zu einem substanziellen Teil aus Nicht-EU-Bürgern. Deren Aufenthaltsstatus hängt eng mit einem nachweisbaren festen Arbeitsverhältnis zusammen. Damit steht ein großer Teil der Beschäftigten der Gorillas in einem krassen Abhängigkeitsverhältnis. Der Verlust des Jobs bedeutet dann nicht nur das Wegfallen der Einkommensquelle, sondern schlimmstenfalls das Ende des Aufenthalts in Deutschland.

Das sind schlechte Voraussetzungen, um als Beschäftigte laut zu werden und die geltenden Arbeits- und Mitbestimmungsrechte einzufordern. Die Kennzahlen für die Tarifbindung und Mitbestimmung sinken seit Jahren. Nur noch knapp 52 Prozent der Beschäftigten in Deutschland werden nach Tarifvertrag bezahlt und nur 44 Prozent der Beschäftigten werden durch einen Betriebs- oder Personalrat vertreten.

[Lesen Sie mehr: Umstrittener Express-Lieferdienst: Kreuzberger wehren sich gegen „Gorillas“-Lagerhaus im Kiez (T+)]

Dabei profitieren Unternehmen von Tarifbindung und Mitbestimmung. Die Beschäftigten in mitbestimmten Unternehmen sind produktiver, seltener krank und länger im Betrieb. Diese Unternehmen sind in Krisen resilienter und besser in die Gesellschaft integriert. Arbeitnehmer*innen bevorzugen es laut zahlreichen Studien, für ein tarifgebundenes Unternehmen zu arbeiten.

Eine „coole“ Arbeitsatmosphäre ersetzt keine Rechte

Das innovative Unternehmertum ist für Berlin von immenser Bedeutung. Wir können stolz sein auf die zahlreichen Start-ups, die sich in den vergangenen Jahren in Berlin gegründet und niedergelassen haben. Doch es ist wichtig, dass die Errungenschaften vergangener Arbeitskämpfe nicht durch den Anschein einer „coolen“ Arbeitsatmosphäre eingerissen werden.

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Junge, schnell wachsende Unternehmen müssen die Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten von Anfang an mitdenken. Nur Betriebe, die fair bezahlen, sichere Arbeitsbedingungen bieten und Mitbestimmung ermöglichen, haben eine Daseinsberechtigung. Wachstum darf nicht auf dem Rücken der Beschäftigten erzeugt werden. Dafür gilt es, die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Gewerkschaften, Politik und Gesetze müssen sich an die schnell wachsenden Unternehmen der Digitalwirtschaft anpassen. Es gilt, das Mitbestimmungs-, Tarif- und Streikrecht auch für Gig-, Cloud- und Crowd-Worker*innen bedingungslos zu gewährleisten. Befristungen von Arbeitsverträgen müssen eingeschränkt und Probezeitregelungen überprüft werden. Außerdem braucht es eine schnelle Erhöhung des Mindestlohns auf mindestens 12 Euro.

Die Förderung innovativer Geschäftsmodelle ist wichtig. Berlin muss weiterhin ein Ort sein, der jungen Unternehmen gute Möglichkeiten zur Gründung bietet. Doch die New Economy darf kein neues digitales Prekariat erschaffen. Dafür müssen die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, und dafür müssen gute Arbeitsbedingungen schon bei der Gründung mitgedacht werden, damit alle Beschäftigten auf starke Arbeitnehmer*innenrechte zählen können.

Cansel Kiziltepe

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