Nach Rücktritt aus Nationalelf: Was Berliner Türken über die Özil-Debatte denken
Wie sehen Berliner mit türkischen Wurzeln die Lage? Wir haben drei von ihnen befragt. Sie berichten von täglicher Ausgrenzung und Alltagsrassismus.
Die durch den Rücktritt Mesut Özils ausgelöste Debatte über Integration und das gesellschaftliche Klima gegenüber Migranten beschäftigt auch viele Berliner mit türkischen Wurzeln. Um die 200.000 Menschen verschiedener türkischer Communitys leben in der Stadt, rund die Hälfte von ihnen besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Drei von ihnen erzählen, wie zugehörig sie sich in Berlin fühlen und was die aktuelle Debatte bei ihnen auslöst.
"Ein trauriges Signal"
„Ich finde es zwar nicht richtig, dass Özil ein Foto mit Erdogan gemacht hat. Aber es ist auch falsch, dass gesellschaftlich so eine große Sache daraus gemacht wurde“, meint Selen Eriçok, 26. Die politische Einstellung anderer Nationalspieler hingegen wäre selten ein Thema, so die in Berlin geborene Deutsch-Türkin. „Die jetzige Situation ist ein trauriges Signal für junge Menschen mit migrantischem Hintergrund, für die Mesut Özil ein sportliches Vorbild war, weil auch die sich jetzt ihre Chancen langfristig geringer ausrechnen.“
Die Studentin der Sozialwissenschaften kritisiert zudem den fehlenden Umgang von Institutionen wie dem DFB mit Rassismus-Vorwürfen. Ihrer Meinung nach ist das ein gesamtgesellschaftliches Problem: „Es hat mir jahrelang zu schaffen gemacht, einer Gruppe anzugehören, deren Sprache und Kultur bei vielen unbeliebt ist.“ In die Türkei verspüre sie zwar Fernweh, aber fühle sich dort dennoch fremd.
„Ich fühle mich sehr heimisch in Berlin“, sagt sie, „aber nur in bestimmten Gegenden.“ Selen Eriçok lebt im Neuköllner Ortsteil Britz. „Kurz nach der letzten Bundestagswahl wurden hier Stolpersteine von Rechten entfernt. Solche Vorfälle in der Stadt machen mir zunehmend Angst.“ Trotz derartiger Ereignisse sieht sie Berlin als ihren Lebensmittelpunkt. „Meine Großeltern haben geholfen, diese Stadt mitaufzubauen. Und auch heute sind die Migranten ein Teil von dem, was Berlin so attraktiv macht.“ Ausgrenzung bestimmter Gruppen ist für Eriçok kein neues, aber sich steigerndes Problem. „Ich habe das Gefühl, unsere Gesellschaft ist zunehmend gespalten. Wir müssen irgendwie wieder zusammenfinden.“
"Debatte mit Doppelmoral"
Über die Doppelmoral der aktuellen Debatte beklagt sich Cemal Sen, der im Alter von 17 Jahren in den siebziger Jahren aus einer Kleinstadt an der türkischen Schwarzmeerküste nach Berlin kam. Seit 22 Jahren ist er als Taxifahrer auf Berlins Straßen unterwegs, steht mit seiner Taxe meist in Kreuzberg, wenn er während seiner nächtlichen Schichten auf Fahrgäste wartet.
Von Erdogan halte er überhaupt nichts, dessen Ansichten seien genau das Gegenteil von seinen, betont er mehrfach. „Und trotzdem denke ich, Özil hat mit seinem Rücktritt genau richtig gehandelt. Wenn sich ein Lothar Matthäus mit Putin trifft, ist das in Ordnung, aber wenn Özil und Erdogan das tun, regt Deutschland sich auf“, erklärt er. Sen wechselt zwischen dem Türkischen und dem Deutschen, hin und zurück, oft mit leichtem Berliner Einschlag.
Für ihn wird die neu entbrannte Debatte nicht viel ändern. Zu oft hat er sich diskriminiert gefühlt in Deutschland. „Ich sehe mich als Türken... als Berliner Türken. Denn Deutschland hat mir leider zu keiner Zeit das Gefühl gegeben, Deutscher sein zu können.“ Obwohl Sen nur noch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, habe er sich oft wie ein Mensch zweiter Klasse gefühlt. „Ich wurde zu oft erniedrigt, ob beim Finanzamt, beim Bürgeramt, beim Wohnungsamt oder während der Arbeit – überall.“ Regelmäßig sei er auch mit Vorurteilen und Alltagsrassismus seiner Berliner Fahrgäste konfrontiert. „Aus welchem Land kommen Sie? Seit 22 Jahren muss ich solche Fragen tagtäglich beantworten. Irgendwann reicht es.“
Trotz seiner Enttäuschung schildert er immer wieder, dass Deutschland seinen Kindern eine bessere Zukunft ermöglicht hat. „Für meine Kinder ist es anders, sie sind in dieser Stadt zur Welt gekommen, sind hier zur Schule gegangen. Meine Tochter ist Lehrerin, mein einer Sohn wird Ingenieur, der andere ist KfZ-Gutachter.“ Trotz Jahrzehnten der Migration mangelt es laut Sen jedoch immer noch am Bekenntnis Deutschlands, sich als Einwanderungsland zu verstehen.
"Ich möchte mich nicht festlegen"
Auch Meryem Esen (Name geändert), Angestellte bei einem Berliner Startup, kennt die Fragen zur ihrer Herkunft. „Ich möchte mich nicht immer festlegen müssen, aber wenn mich jemand unbedingt auf eine Identität festnageln will, könnte ich mich als Berlinerin oder Europäerin bezeichnen.“
Esen wurde in der Türkei geboren und ist in Berlin aufgewachsen, lebte für Studium und Job zeitweise in beiden Ländern. Sie schätzt Berlin als tolerante Stadt, in ländlichen Regionen sei man als Mensch mit türkischem Hintergrund zu häufig Rassismus ausgesetzt. Berlin sei dabei anders als der Rest des Landes: „Hier hat man weniger Probleme, denn in den meisten Stadtteilen, besonders innerhalb des S-Bahn-Rings, sind die Menschen Migration gewöhnt.“
Für sie hat Özil mit seinem Entschluss richtig gehandelt. „Wenn er Tore schießt, ist er ein Beispiel für gelungene Integration. Wenn er ein Foto mit Erdogan macht, gilt er als das Gegenteil.“ Ernsthafte Konsequenzen aus der erneut entbrannten Diskussion erhofft sie sich nicht. Dennoch müsste man Migration regelmäßig neu denken. „Integration ist immer noch keine Einbahnstraße. Auch die Gesellschaft muss sich auf Menschen mit verschiedenen Hintergründen einstellen.“
Tarik Kemper
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