Hodenkrebs: Warum ausgerechnet da unten?
Die Diagnose Hoden- oder Prostatakrebs erschüttert Männer zutiefst. Viele sehen ihr Selbstbild bedroht. Dabei kann ein offener Umgang mit der Erkrankung heilsam wirken – für Betroffene und ihr Umfeld.
Lukas Brock ist ein einfühlsamer Mensch. Geleitet vom Wunsch, anderen zu helfen, studierte er Sozialpädagogik. Nach dem Abschluss startete er voller Elan als Sozialarbeiter. Doch nach einem halben Jahr in seiner zweiten Anstellung kam die knallharte Unterbrechung. Diagnose: Hodenkrebs, Stadium 3N, das heißt maximal fortgeschritten. „Als ich das gehört habe, hat mich ganz schön die Angst gepackt, dass ich vielleicht sterben werde“, sagt Brock. Und natürlich habe er sich auch gefragt, warum ihn der Krebs ausgerechnet „da“ heimsucht. Statt seinem Traumberuf nachgehen zu dürfen, musste der damals 26-Jährige von heute auf morgen die Arbeitswelt mit der Klinikwelt tauschen. Während der rund 120 Tage Krankenhausaufenthalt gab es für ihn zwei Operationen und drastische Behandlungen zu überstehen, darunter eine Hochdosis-Chemotherapie, die ihm seine Körperbehaarung raubte und sein Knochenmark zerstörte.
Heute, drei Jahre später, geht es Lukas Brock wieder gut. Seine Lebensenergie ist zurückgekehrt, seit Kurzem arbeitet er wieder als Sozialarbeiter. Bei unserem Treffen in einem türkischen Café in der Nähe seiner Weddinger Arbeitsstelle wirkt er regelrecht heiter und aufgeräumt und erzählt ganz offen. Dass er von seiner Erkrankung vorher nichts gemerkt habe. Ja, zunehmend schlapp habe er sich damals gefühlt, erinnert er sich, habe sich aber nichts Böses dabei gedacht. Vielleicht der berufliche Stress? Möglich. Aber Krankheit, zudem noch eine so schwere? Nein. Da seine Hoden schon immer unterschiedlich groß waren, hat er dort jedenfalls nicht die Ursache für seine schwächelnde Verfassung vermutet. Ein Gang zum Hausarzt, die Tastuntersuchung seiner Hoden und übliche Routine- und Blutuntersuchungen ergaben zunächst auch einen tadellosen Befund. „Topfit“, hatte der Mediziner gesagt und damit seine Werte gemeint. Doch gerade weil er sich nicht topfit fühlte, war er ja zum Arzt gegangen. Brock ist sportbegeistert und war viel mehr Leistung von sich gewohnt, und jetzt diese dauernde Müdigkeit...!?
Kann man der Erkrankung einen Sinn geben?
Der Sozialarbeiter ging mit der Empfehlung nach Hause, Vitaminpräparate zu probieren, davon könnte seine Erschöpfung verschwinden. „Aber ich habe mich trotzdem immer energieloser gefühlt“, erinnert sich der Wahlberliner, der zur Zeit seiner Erkrankung noch in Wien lebte. Ein paar Wochen später sei dann auch ein seltsames Ziehen in der Leistengegend dazugekommen, Rückenschmerzen hätten sich eingestellt, dann habe sein Gewicht sichtbar abgenommen. „Und da habe ich auch gemerkt, dass einer meiner Hoden geschwollen ist.“
Mit ungutem Gefühl ging Lukas Brock wieder zum Arzt, der dieses Mal eine umfassendere Blutuntersuchung veranlasste. Der Befund: dramatisch hohe Entzündungswerte. Alarmiert überwies ihn der Mediziner zur Abklärung direkt in eine Klinik, in der man hochakuten Hodenkrebs feststellte. Die Operation war gleich für den nächsten Tag angesetzt. In einem Routineeingriff wurde Lukas Brock der betroffene Hoden entfernt, doch in seinem fortgeschrittenen Stadium hatte der Krebs bereits Metastasen in Bauch- und Brustraum sowie im Halsbereich gebildet. Eine weitere OP wurde nötig, zudem die Hochdosis-Chemotherapie.
Was hat ihm geholfen, die erschütternde Diagnose, den langen Klinikaufenthalt, die schweren Operationen und die starke Chemotherapie zu überstehen? „Vor allem mein soziales Umfeld“, ist der 29-Jährige überzeugt. Alle hätten zu ihm gestanden. Hilfreich sei sicher gewesen, dass er von Anfang an sehr offen mit allen gesprochen habe, sowohl über Diagnose und Behandlungsdetails als auch über seine Gefühle. „Über meine Ängste und Sorgen zu reden, hat jedenfalls die Beziehungen zu meiner Familie, meinen Freunden und selbst zu meinen Arbeitskollegen gestärkt und vertieft“, sagt Brock. Und natürlich habe er sich auch therapeutisch begleiten lassen. Die Gespräche haben ihm sehr gut getan. Darüber hinaus begann er zu meditieren, lernte ein ruhiges Instrument zu spielen und las spirituelle Literatur. „Die Frage nach dem Sinn der Erkrankung und des Lebens hat mich verstärkt beschäftigt“, erinnert er sich.
Er muss achtsamer mit seiner Energie haushalten
Bis er allerdings seine Erfahrungen auch mit Fremden, etwa anderen Betroffenen habe teilen können und wollen, brauchte er eine Weile. Ein Jahr nach dem Ende seiner Chemotherapien hat Lukas Brock eine Webseite eingerichtet (www.mindfulsurvivor.com), um dort über seine Erfahrungen zu sprechen: „Mich ganz offen der Welt zu zeigen, zu erzählen und auch Betroffene und Angehörige zu beraten hat mir dann das Gefühl gegeben, dass all das, was ich erlebe, einen Sinn hat.“
Der Sozialpädagoge weiß, dass er nach außen vor allem positiv und entspannt wirkt. Doch er gibt zu, dass auch ihn die Erkrankung an einer sensiblen Stelle seiner Männlichkeit getroffen hat. Einen Hoden einzubüßen hat er zwar als nicht so dramatisch empfunden und entsprechend auf einen Ersatzhoden aus Silikon verzichtet, auch wegen des Entzündungsrisikos. „Aber als ich nach den Therapien wieder sexuell aktiv war, war ich schon verunsichert und habe mich gefragt, ob das jetzt komisch aussieht“, sagt Brock. Was ihm allerdings weit mehr zu schaffen mache, sei, dass er zwar weiterhin eine Erektion und einen Orgasmus haben könne – aber keinen Samenerguss mehr. „Die Nerven, die für den Samenauswurf zuständig sind, sind beschädigt worden, als die Metastasen im Bauchraum entfernt wurden.“ Abgesehen davon habe die Operation eine enorme Narbe auf seinem Bauch hinterlassen, die sein ganzes Erscheinungsbild verändere, wenn er nackt sei.
Ansonsten ist der Hauptunterschied zu seinem Zustand vor der Erkrankung, dass er jetzt achtsamer mit seiner Energie haushalten muss. Ob das sein Selbstbild als Mann beschädigt? „Eher nicht. In Sachen Männerbild nicht mit zu engen Vorstellungen zu leben, ist ein Vorteil vieler schwuler Männer“, winkt Brock mit dem Zaunpfahl. Die Frage, was „normal“ sei als Mann, begleite ihn naturgemäß schon viele Jahre. Die Auseinandersetzungen hätten ihn zum Glück von einigen Rollenzwängen befreit. Da er im Frühjahr aus der österreichischen in die deutsche Hauptstadt gezogen ist, hat er zum zeitlichen nun auch räumlichen Abstand gewonnen. Damit spürt er verstärkt den Bedarf, sich direkt mit Betroffenen auszutauschen. „Ich glaube, dass mir das helfen wird, bisher Unverarbeitetes anzugehen, das nur andere Betroffene verstehen.“
Bei der Suche nach Möglichkeiten, sich in Berlin mit anderen Krebsbetroffenen über Gefühle auszutauschen, stieß Brock auf jede Menge Gesprächsgruppenangebote für Frauen. Die einzige psycho- soziale Gruppe für männliche Betroffene, die er berlinweit fand, ist die der Krebsberatung Berlin. Geleitet wird sie von Psychotherapeut Christof Weber. Er begleitet in eigener Praxis auch zahlreiche Krebsbetroffene in Einzeltherapien. Dass Lukas Brock ihn angerufen hat und sich für die Gruppe interessiert, freut ihn. „Meiner Erfahrung nach ist es ein sehr gutes Zeichen, wenn ein an Krebs erkrankter Mann von sich aus die Initiative ergreift und sich Unterstützung organisiert“, sagt der Gestalttherapeut.
In der Gruppe können gestandene Männer plötzlich zu Weinen anfangen
Die meisten Männer seien durch ihre Krebserkrankung so tief in ihrer Männlichkeit getroffen, dass sie nicht über Gefühle sprechen wollten. Schon gar nicht, wenn – wie oft bei Prostatakrebs – auch noch Erektionsstörungen oder Inkontinenz hinzukommen. „Wenn überhaupt, ist für sie eine Einzeltherapie das höchste der Gefühle“, weiß Weber. Aber in einer Gruppe über sich und seine Schwächen und Gefühle zu sprechen und dort womöglich auch noch zu weinen, das sei für viele undenkbar. Wenn daher jemand wie Lukas Brock den Austausch mit anderen Betroffenen suche, sei das außergewöhnlich.
Der Therapeut weiß: es sind alte, klischeehafte und nur vermeintlich überwundene Vorstellungen von Männlichkeit, die die meisten Männer blockieren. Demnach müsse jeder trotz Erkrankung „seinen Mann“ stehen, hart sein, weiter Leistung bringen, sich keinesfalls Gefühlen hingeben – und schon gar nicht weinen. „Für die Männer, auf die das zutrifft, ist das unheimlich schade“, sagt der Therapeut. Denn der Austausch mit anderen Betroffenen sei sehr heilsam. Außerdem entlaste er nicht nur den Erkrankten selbst, sondern auch die Angehörigen, die oft nicht mehr wüssten, wie sie Sohn, Partner oder Vater noch helfen können.
Seit 13 Jahren erlebt Weber in seiner Gruppe, was in so einem Rahmen Erstaunliches passiert. „Da kapieren gestandene Männer, auch Führungskräfte, die teils mit Zweit- oder Dritterkrankung kommen: Ach wirklich, es gibt noch andere, die genau die gleichen Probleme haben wie ich?“ Sie würden endlich sehen, dass sie nicht alleine sind, dass auch andere Männer erkranken, Ängste und Sorgen haben, und dass sie auch darunter leiden, nie Gefühle zeigen und schwach sein zu dürfen. „Das zu begreifen, erleben die Teilnehmer als befreiend“, sagt Weber. Es entlaste sie, nehme Druck. Und alle profitieren in der Gruppe voneinander. Die Teilnehmer hören zu, welche Lösungen andere für ihre Probleme entwickeln, und haben andersherum Zuhörer für ihre eigenen Gedanken. „Und so ist selbst der, der nichts sagt, weil er sich vielleicht nicht traut, wichtig für die Gruppe, weil er ein emotional beteiligter Zuhörer ist“, führt der Therapeut aus. Das nenne man in der Therapie „Zeuge“.
Und wenn es dann und wann auch noch einem Mann „passiere“, dass ihm vor anderen Tränen kommen – weil ihn einfach die Verzweiflung übermannt und er spürt, dass in diesem Umfeld Gefühle erlaubt sind und wertschätzend miteinander umgegangen wird –, sei das ein Geschenk für die Gruppe. „Solche Ereignisse werden zu sogenannten Türöffnern, zur Erlaubnis für alle, dass man auch als Mann Gefühle haben und weinen darf“, so Weber.
Natürlich brauche es seine Zeit, bis sich ein Betroffener öffnen könne. Aber nach und nach verändere sich bei den Teilnehmern die Vorstellung von Männlichkeit – und dadurch der Umgang mit sich und anderen. Bei über 100 Gruppenteilnehmern hat der Gestalttherapeut diese Veränderung schon live miterlebt. „Und in den durchschnittlich zwei Jahren, die ein Teilnehmer bleibt, kann sich eine Menge bewegen“, weiß Weber aus Erfahrung.
Diesen und weitere interessante Artikel rund um spezifische Gesundheitsthemen der Geschlechter finden Sie im aktuellen Gesundheitsratgeber „Tagesspiegel Frau & Mann 2018/2019“. Das Heft kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520 sowie im Zeitschriftenhandel. Weitere Infos zum Thema Hodenkrebs unter www.krebsberatung-berlin.de, auf der Webseite von Christof Weber (leben-cw.de) und im Blog von Lukas Brock (mindfulsurvivor.com).
Andreas Monning