Die BVG in der Krise: Warten, drängeln, stehenbleiben
Die Berliner sind unzufrieden mit dem öffentlichen Nahverkehr und die rot-rot-grüne Koalition streitet, wer schuld ist. Warum rollt es nicht?
Die Berliner sind unzufrieden mit der BVG. Sie seien „pappsatt“, sagt der Regierende Bürgermeister, Michael Müller (SPD) und greift die zuständige Senatorin der Grünen, Regine Günther, und auch BVG-Chefin Sigrid Nikutta scharf an. An diesem Dienstag muss sich Nikutta in der SPD-Fraktion Rede und Antwort stehen.
Wie ist die aktuelle Lage bei den Berliner Verkehrsbetrieben?
Über eine Milliarde Menschen transportieren die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) jedes Jahr. In zehn Jahren stieg die Zahl der Fahrgäste um 28 Prozent. Mit 1,1 Milliarden waren es 2018 ein neuer Rekord.
Die Zahl der Beschäftigten in dem landeseigenen Betrieb ist im vergangenen Jahrzehnt von 10600 auf 12100 gestiegen, also über 15 Prozent. Dagegen verringerte sich die Zahl der U-Bahn-Wagen in diesem Zeitraum deutlich. 2008 gab es 1312 U-Bahn-Wagen im Bestand, 2017 waren es nur noch 1272. Der Fahrgast braucht keine Statistik, um festzustellen, dass es in den Zügen voller geworden ist. Das können Berliner und Touristen jeden Tag erleben.
„Wir merken, dass 20 Jahre nichts investiert wurde in neue Züge.“ Dieses bittere Fazit stammt von der grünen Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne). Mitte Dezember hatte Pop – an einem Werktagmittag – eine U-Bahn-Werkstatt der BVG besucht. Die riesige Halle stand voll mit Zügen. Dies wäre in einem Industriebetrieb ein Zeichen boomender Konjunktur. Für die BVG war es ein Zeichen akuter Krise, denn an einem Werktag dürfen eigentlich keine U-Bahnen in der Werkstatt stehen, sie müssen fahren. Aber die 1272 Wagen sind teilweise nur noch auf dem Papier vorhanden.
Warum hat sich die Krise bei der U-Bahn so dramatisch zugespitzt?
Die Fahrzeuge werden immer älter, benötigen immer mehr Reparaturen. Die Zahl der Schmierer und Vandalen, die Züge zerstören, ist gestiegen. Dann kommt auch noch Pech dazu. Ausgerechnet die jüngsten Fahrzeuge der Großprofil-Baureihe „F“ sind nur noch Schrott. Die Lieferung aus dem Jahr 1979 (F79) muss jetzt wegen irreparabler Schäden großenteils außer Betrieb genommen werden. 26 von 70 Wagen dieser Serie fahren noch, die verbleibenden F79 werden im Laufe dieses Jahres ausgemustert. Die älteren Lieferungen dieser Baureihe von Mitte der 70er Jahre haben diesen Fehler zum Glück nicht, sie fahren weiter.
Der Wartungsaufwand bei den alten Baureihen ist natürlich viel größer als bei modernen Zügen. U-Bahnen sind nur auf eine Lebensdauer von 35 Jahren ausgelegt. Jetzt kommen allmählich auch die zuletzt beschafften Züge der Baureihe „H“ in die Jahre, die Serienlieferung hatte 1997 begonnen. Auch an diesen Zügen häufen sich technische Probleme. Die Zeit für Wartung sei knapp, „die Züge werden auf 110 Prozent gefahren“, sagt ein Werkstattleiter.
Sieht es bei den Bussen und Straßenbahnen in Berlin besser aus?
Bei den Trams sank die Zahl der Fahrzeuge in den vergangenen zehn Jahren von 540 auf 329. Da die neuen Fahrzeuge aber deutlich größer sind, ist auch das Sitzplatzangebot größer geworden. Die Zahl der BVG-Busse stieg im selben Zeitraum von 1300 auf 1400. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist das Busspurnetz aber kaum erweitert worden. Das Durchschnittstempo lag viele Jahre lang konstant bei mageren 19 Kilometern pro Stunde, es soll im vergangenen Jahr sogar auf 18 km/h gesunken sein. Dieser eine Stundenkilometer weniger kostet die BVG Millionen Euro, denn es werden dadurch 70 Busse und 170 Fahrer zusätzlich benötigt. Nach internen Informationen steigt durch den dichter und aggressiver gewordenen Autoverkehr der Stress bei den Busfahrern, die Krankheitsquote ist sehr hoch. Wer der BVG bei Twitter folgt, liest jeden Tag von zeitweise eingestellten Buslinien, man kapituliert vor Staus, Demonstrationen, Falschparkern.
Ist Licht am Ende der Berliner U-Bahntunnel zu sehen?
Derzeit entspannt sich die Lage nur langsam. Etwa alle zwei Wochen bekommt die BVG einen Vier-Wagen-Zug der Baureihe „IK“ hinzu. Die Baureihe ist eigentlich konstruiert für die schmaleren U-Bahn-Tunnel der Linien 1 bis 4, das so genannte Kleinprofil. Eingesetzt wird ein Teil der Züge trotzdem auf den Großprofil-Linien 5 bis 9, wo die Tunnel breiter sind. Die schmalen Waggons wurden am Boden verbreitert, damit kein Fahrgast mit den Füßen in den Spalt zwischen Zug und Bahnsteig gerät. Ähnliche Provisorien hatte es zuvor nur in Kriegszeiten und in der DDR gegeben. Diese „Not-Bestellung“ von bis zu 80 Wagen bessert die Lage bei der U-Bahn.
Grundlegende Änderung ist frühestens ab 2021 in Sicht. Ende 2016 schrieb der Senat im Rahmen der „Zukunftssicheren Schienenfahrzeugbeschaffung“ 1060 Großprofil- und 440 Kleinprofilwagen europaweit aus. Mit der Lieferung der ersten Fahrzeuge sei 2021/2022 zu rechnen, teilte die Senatsverkehrsverwaltung dem Abgeordnetenhaus Ende vergangenen Jahres mit. Die Runderneuerung des U–Bahnwagenparks soll 2033 abgeschlossen sein. Der Zuschlag für den Großauftrag ist aber noch nicht erteilt, der Auftrag soll noch in diesem Jahr vergeben werden.
Auch über der Erde sollen in absehbarer Zeit neue Fahrzeuge im öffentlichen Personennahverkehr rollen. So hat Rot-Rot-Grün 950 Fahrzeuge bei Mercedes bestellt, 600 Gelenkbusse und 350 Eindecker. Die ersten Busse aus dieser Bestellung sind seit Dezember unterwegs. Bis zu 200 Doppeldecker werden bei einem britischen Hersteller eingekauft, 2020 sollen die ersten durch die Hauptstadt fahren.
Wer trägt politisch die Hauptverantwortung für die Misere?
Es hat lange gedauert, bis bei der jeweils zuständigen Berliner Landesregierung die Erkenntnis reifte, dass das traditionell zuverlässige und beliebte Verkehrsmittel U-Bahn nicht mehr weiter auf Verschleiß gefahren werden darf. Der Altersdurchschnitt der Flotte liegt jetzt bei 28 Jahren, die ältesten Wagen sind 61 Jahre alt. Zum Vergleich: Der Altersdurchschnitt des viel gescholtenen S-Bahnwagenparks beträgt nur 18 Jahre. Seit vielen Jahren kämpft die BVG mit Fahrzeugmangel. 2009 hatte die BVG-Führung sogar erwogen, die U3 und die U4 ganz einzustellen - das war mitten in der großen S-Bahn-Krise und ist deshalb nicht mehr so in Erinnerung. Trotzdem wurde bis heute vom Senat meistens nur Flickschusterei betrieben anstatt den riesigen Investitions- und Sanierungsstau aufzulösen.
Fachlich zuständig für den öffentlichen Personennahverkehr waren seit Mitte der 90er Jahre im Senat: Peter Strieder, Ingeborg Junge-Reyer, Michael Müller, Andreas Geisel (alle SPD), seit zwei Jahren ist es Regine Günther (parteilos, für Grüne). Aber auch die Finanzverwaltung Berlins, ohne die große öffentliche Investitionen nicht möglich sind, wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten weitgehend sozialdemokratisch geführt, wenn man den parteilosen, aber von der SPD nominierten Ulrich Nußbaum hinzuzählt. Er kann sich zwar zugute halten, den Zukunftsplan für eine Erneuerung der gesamten U-Bahn-Flotte im rot- schwarzen Senat bis 2015 noch mit angestoßen zu haben. Andererseits setzte auch Nußbaum, wie sein Vorgänger Thilo Sarrazin (SPD), bei der Berliner BVG gern aufs Sparen.
Jetzt bemühen sich die mitregierenden Sozialdemokraten erkennbar darum, die öffentliche Kritik an den Verkehrsbetrieben auf die unbeliebte und viel kritisierte Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther umzulenken.
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