Berlin 2030 - Unsere Serie blickt in die Zukunft - Auftakt: Wachstum und Chancen: Die Zukunft beginnt jetzt
In der Metropolenregion Berlin könnten 2030 fünf Millionen Menschen in Wohlstand leben – nicht zuletzt mit dem Potenzial von Zuzüglern aus aller Welt und Großkonzernen, die jetzt als Start-ups beginnen. Der Auftakt einer Serie über die Stadt von morgen.
Es ist ein Schritt in eine Vergangenheit, die wieder Zukunft sein könnte. Wer durch das Portal tritt, wird in den engen Höfen bedrängt von Seitenflügeln und Hinterhäusern. Licht, Luft und Sonne spielten keine Rolle, als die Bevölkerung im 19. und frühen 20. Jahrhundert extrem wuchs und Berlin sich den zweifelhaften Titel erwarb, die „größte Mietskasernenstadt der Welt“ zu sein. Heute geben nur noch wenige Ensembles wie der Elisabeth-Hof in Kreuzberg einen Eindruck von der Drängnis, unter der damals gewohnt, gelebt und gearbeitet wurde. Kreuzberg ist mit aktuell 160 000 Einwohnern immer noch der am dichtesten besiedelte Bezirk Berlins – unvorstellbar erscheint, dass 1925 auf der gleichen Fläche 378 000 Einwohner gezählt wurden.
So wird es nie mehr werden. Doch Berlin wächst erneut. Die Bevölkerung hat in den vergangenen drei Jahren um 100 000 Menschen zugenommen; bis 2030 könnten es noch 250 000 Menschen mehr werden. Hinter der Stadtgrenze, wo Falkensee schon die am schnellsten wachsende Gemeinde Deutschlands ist, werden sich zusätzlich Menschen konzentrieren – Brandenburger, die näher an den Jobs der Hauptstadtregion sein wollen oder auch aus anderen Bundesländern neu Hinzugezogene. Das Siedlungsgebiet Berlins wird dann weit über die jetzige Stadtgrenze hinausgreifen. Dabei ist es völlig egal, ob die Politik bis 2030 noch eine Länderfusion zustande bekommt: Im Herzen werden sich die dann fünf Millionen Menschen im Ballungsraum als Berliner fühlen.
Auf den Schnellbahnstrecken wird es dann nicht nur aus Wünsdorf oder Falkensee im Handumdrehen ins Zentrum gehen. Denn nur mit einem massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs kann der Metropolenraum eine unerträgliche Umweltbelastung durch den Autoverkehr vermeiden. Schon jetzt werden immer mehr Wege mit dem Rad zurückgelegt, während der Anteil des Autoverkehrs zurückgeht. Für die deutschen Autofirmen ist Berlin bereits der Testmarkt, auf dem neue Mobilitätskonzepte erprobt werden – etwa mit den Carsharingfirmen DriveNow von BMW oder car2go von Daimler-Benz. Die Strategen gehen davon aus, dass sie in Zukunft nicht mehr Autos verkaufen, sondern jederzeit verfügbare Mobilität in enger Bindung an den Schienenverkehr.
Für das jetzige Stadtgebiet erwarten Wissenschaftler wie der Hannoveraner Professor Rainer Danielzyk , dass bis 2030 die Bevölkerung in manchen Quartieren um ein Viertel zunimmt. Wenn so viele Menschen zusätzlich untergebracht werden müssen wie der Großbezirk Steglitz-Zehlendorf heute zählt, dann wird das nicht ohne Verteilungskämpfe um das knappe Gut Raum abgehen. Es wird nicht nur enger werden. Wie Berlin, die traditionelle Mieterstadt, diese zusätzlichen Menschen unterbringt, ohne dass es zu sozialen Spannungen und Verdrängung einkommensschwacher Familien kommt oder Bezirke ihren traditionellen Charakter verlieren, ist eine zentrale Aufgabe für die Politik. Denn gerade die bislang niedrigen Mieten sind ein Standortvorteil, weil das Berlin attraktiv macht für junge Menschen, die mehr Ideen als Geld haben.
„Berlin darf nicht vergessen, dass die Stadt interessant geworden ist, weil es schöpferische Menschen angezogen hat“, warnt Françoise Cactus. Die Sängerin der international erfolgreichen Band „Stereo Total“ hat gerade eine mehrwöchige USA-Tournee hinter sich. In Berlin lebt die Französin seit 20 Jahren und fürchtet, dass Berlin seinen „relaxten Charakter verliert“. „Wenn es hier so öde wird wie in Paris, dann kann ich auch wieder nach Paris ziehen.“ Eine Herauforderung ist deshalb die Frage, wie Berlin es schafft, Zuzügler zu integrieren und allen Kindern gleiche Start- und Bildungschancen zu bieten. Unbeantwortet ist, wie preiswerter Wohnungsbau organisiert werden kann. Ob es reicht, die vielen vorhandenen Lücken oder Brachen im Zentrum zu bebauen oder ob Berlin wieder Großsiedlungen am Stadtrand errichtet wie weiland Gropiusstadt oder das Märkische Viertel, ist ebenso offen.
2030 könnte Berlin auch wieder die größte Industriestadt Deutschlands sein – was sie bis zum zweiten Weltkrieg war. Nur, dass dann nicht mehr der Maschinenbau und Schwerindustrie dominieren, sondern „intelligente Produktion“, smarte Technologien oder wissenschaftsbasierte Erzeugnisse wie Arzneimittel und Pharmaprodukte „Made in Berlin“ sein könnten. Der Einstieg ist gemacht. Seit nunmehr sechs Jahren wächst in Deutschlands Armenhaus Berlin die Wirtschaftskraft überdurchschnittlich und auch die Arbeitslosigkeit geht langsam zurück. Berlin ist bei innovativen Technologien und in forschungsintensiven Branchen ein Magnet für die Kreativen der Welt.
Die hiesigen Start-ups hängen alle rivalisierenden deutschen Großstädte ab. In die Boomtown an der Spree fließt zehnmal mehr Wagniskapital als nach Hamburg; München ist weit abgeschlagen. Dafür stehen Unternehmer wie Jan Beckers, der mit 30 Jahren schon ein halbes Dutzend Start-ups gegründet hat, und nun mit dem Onlinespielevermarkter Hitfox erfolgreich ist. Das vor zwei Jahren gegründete Unternehmen beschäftigt bereits 90 Leute, bis Jahresende sollen es doppelt so viele sein. Die Hälfte davon sei aus dem Ausland gekommen. Nach Berlin kämen gute Leute aus aller Welt sehr gerne, sagt Becker, der gerade von der Jury der Branchenvertretung „Next 100“ zum wichtigsten Kopf der europäischen Digitalindustrie gewählt wurde. Sein Unternehmen hat inzwischen Büros in Seoul, Paris und San Franzisco.
Bei der Wahl der Stadt, in der kreative und gebildete Menschen ihre Projekte verwirklichen wollen, sind die drei T entscheidend: Talente, Technologie und Toleranz.
Die Konzentration auf neue, innovative Felder zeigt Wirkung: In den vergangenen drei Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen um 75 000 gestiegen. Rund 170 000 zusätzliche Arbeitsplätze sind bis 2030 möglich, wenn sich die Stadt auf die Felder Wissen und Forschung, intelligentes Produzieren und Spitzentechnologie konzentriert, ist die renommierte Beratungsfirma Prognos überzeugt. Andere Studien gehen von mehr als 300 000 neuen Jobs aus. In den Städterankings belegt Berlin nicht mehr die hinteren Plätze. „Standortvorteile wie Bildung und Innovationsfähigkeit, Internationalität und Erreichbarkeit haben sich immer weiter verbessert“, heißt es im aktuellen Ranking des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) zur Zukunftsfähigkeit deutscher Großstädte, bei dem Berlin auf Platz fünf landete.
Die Firma Younicos ist ein Beispiel, wie man erfolgreich neue Wege geht. Die Firma mit Sitz in Adlershof, der Berliner Brutzelle für neue Unternehmen, baut in Schwerin Europas größten Akku für Ökostrom. Die Speichertechnologie ist unentbehrlich für das Ziel einer Energiewende, damit der in Starkwindphasen produzierte Strom aus Windkraftanlagen gespeichert werden kann für Zeiten, wo Flaute herrscht. Und die Azoreninsel Graciosa hat das Unternehmen mit den 60 Mitarbeitern beauftragt, eine autarke Energieversorgung zu installieren.
Für den Zukunftsforscher Matthias Horx sind bei der Wahl der Stadt, in der kreative und gebildete Menschen ihre Projekte verwirklichen wollen, die drei T entscheidend: Talente, Technologie und Toleranz. „Berlin hat Talente und Toleranz in hohem Maße, bei der Technologie hapert es noch.“ Für den in Wien lebenden Publizisten, der weltweit die Entwicklung großer Metropolregionen beobachtet, ist in Berlin „das kreative Potenzial der zentrale Standortfaktor“. Kreative Metropolen ziehen Menschen an, konstatiert Horx: „Das ist ein sich selbst verstärkender Effekt.“ Weltweit zögen Menschen dorthin, wo es nicht nur Jobs, sondern auch kulturelle Komplexität, Anregungen und Kommunikation gibt. All das gibt es in Berlin, wo man billig leben, sich ausprobieren und preiswert Lebensentwürfe realisieren kann.
Das „kreative Prekariat ist die Kraft der Stadt“, sagt Horx: Hier breiten sich „Coworking Spaces“ aus, wo kleine Unternehmen an einem Ort gemeinsam arbeiten, sich vernetzen und damit Synergieeffekte erzeugen. Vom betahaus in Kreuzberg über das House of Clouds, Raumstation oder United Urbanites – in Berlin gibt es inzwischen mehrere Dutzend Coworking Spaces. Sie alle sind unkonventionelle Ansätze für eine postindustrielle Produktion. Mit seiner „Virilität“ sei Berlin ein „breeding ground für kreative Unternehmen, die irgendwann ökonomisch explodieren können“, also aus dem Status eines Start-ups heraus rasant wachsen und viele Arbeitsplätze schaffen. Darauf setzt wohl auch der Internetkonzern Google, der mit einer Million Euro das Gründerzentrum „Factory“ unterstützt. Im ehemaligen Mauerstreifen an der Bernauer Straße soll aus einem alten Fabrikgebäude ein „Brutkasten“ für weltweit erfolgreiche Internetunternehmen werden.
Im Wettkampf der Metropolen werde auch immer wichtiger, sich auf den Weg zur „Smart City“ zu machen, mit nachhaltiger Stadtentwicklung und CO2-neutraler Lebens- und Produktionsweise. Die ökologische Zielsetzung sei etwas, was besonders junge Paare anziehe, die irgendwann Familie sein möchten, sagt Horx: kein zu unterschätzender Faktor in einer alternden Gesellschaft. Ein Anfang ist gemacht in Berlin: Der Senat hat das Ziel proklamiert, bis 2050 klimaneutrale Stadt zu werden.
Zentrale Faktoren jeder Entwicklungsstrategie müssen dabei Wissenschaft und Forschung sein. In Berlin konzentrieren sich 14 Universitäten und Fachhochschulen und über 40 außeruniversitäre Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen – so viel wie in keiner anderen europäischen Region. Die Verzahnung mit den Unternehmen aber trägt noch nicht Früchte: Bei der Zahl der Patentanmeldungen liegt Berlin weit zurück.
Peter Zühlsdorff ist optimistisch, dass sich das ändert und mit „unglaublicher Geschwindigkeit entwickeln wird“.
Dass Berlin seine alten Industrien verloren hat, sieht der Manager, der an der Spitze vieler deutscher Großunternehmen wie Wella, Tengelmann (Kaiser’s), Obi, Escada oder Merck stand und bis im vergangenen Jahr auch Aufsichtsratschef der Wirtschaftsfördergesellschaft „Berlin Partner“ war, für die Zukunft durchaus als Vorteil. „Berlin hat die Chance, unbeschwert von alten Industrien gleich was Neues zu machen“, sagt der erfahrene Unternehmer. „Berlin ist dabei, ein Schmelztiegel von Menschen aus aller Welt zu werden“, ist Zühlsdorff überzeugt. Er verweist darauf, dass auch Silicon Valley 30 Jahre Vorlauf gebraucht habe, bis es eine Erfolgsstory wurde. „Die Start-ups von heute sind die Großunternehmen von 2030“, sagt Zühlsdorff.
Dem kann Technologieinvestor Ciaran O’Leary nur zustimmen. „In Berlin entsteht kritische Masse“, stellt der weltweit aktive Risikokapitalgeber fest: Die Stadt „fängt an, auch international die besten Leute anzuziehen – aus London, San Francisco, Stockholm oder Madrid“. Und er ist überzeugt: „Ich glaube, dass die kommenden Mark Zuckerbergs gerade in Berlin über die Straßen laufen und ihr Unternehmen schon gegründet haben.“
In der Mietskaserne Elisabeth-Hof hängt über dem Portal 1 eine Uhr, darüber ein Spruch: „Die Stunde ruft – Nütze die Zeit!“. Das gilt auch für Berlin. Die Zukunft hat längst begonnen. Bis 2030 sind es noch 17 Jahre.
Wie die Hauptstadtregion sich entwickelt, welche Herausforderungen auf Berlin zukommen, und welche Probleme die Politik lösen muss. Wie der Wandel gestaltet werden kann – unsere neue Serie in neun Teilen.
Die Hauptstadtregion, ihre Chancen, ihre Herausforderungen - Unsere Serie "Berlin 2030" blickt in die Zukunft.