Prävention gegen Genitalverstümmelung: Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern sollen Pflicht werden
Immer mehr Mädchen in Berlin droht eine Beschneidung. Der Senat setzt auf verpflichtenden „U“-Untersuchungen. Auch Missbrauch könnte so früher erkannt werden.
Immer mehr in Berlin lebende Mädchen wurden beschnitten oder sind von einer Beschneidung bedroht. Der Senat will das Problem angehen, was nicht ganz einfach ist. „Da Genitalverstümmelung fast ausschließlich unter Geheimhaltung in den Familien stattfindet, ist eine Erkennung und Information der Fachkräfte im Jugendamt sehr erschwert“, heißt es in einer bislang nicht veröffentlichten Antwort der Senatsgesundheitsverwaltung auf eine schriftliche Anfrage der AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus.
Wenn das Jugendamt von diesen Fällen erfahre, greife das vorgegebene Berliner Kinderschutzverfahren. In Einzelfällen stünden spezialisierte Fachberatungsstellen zur Verfügung. Nur: Ob und wie die Jugendämter von den Fällen erfahren, hängt vom Zufall ab. Aus der Antwort geht hervor, dass weder bei den Früherkennungsuntersuchungen im Kindes- und Jugendalter, noch an anderer Stelle eine standardisierte Dokumentation in Bezug auf eine mögliche Verstümmelung im Genitalbereich erfolgt. Auch aus diesem Grund möchte der Senat nun ein Gesetz auf den Weg bringen, das Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen zur Pflicht macht. In den Bundesländern Bayern, Hessen und Baden-Württemberg sind die Untersuchungen U1 bis U9 bereits verpflichtend.
Fast 700 Mädchen in Berlin durch Beschneidung gefährdet
Das Problem ist tiefgreifend. Nach einer kürzlich veröffentlichten Dunkelzifferstatistik der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes sind allein in Berlin knapp 4000 Frauen von Beschneidung betroffen und fast 700 Mädchen sind gefährdet, beschnitten zu werden.
Als Grund für den seit Jahren zu beobachtenden Anstieg nennen Expertinnen die verstärkte Migration aus Ländern wie Somalia und Eritrea, wo die grausame Verstümmelung der Frauen praktisch standardmäßig bis zu einem Alter von 15 Jahren bei den Mädchen praktiziert wird. Charlotte Weil, Referentin bei Terre des Femmes sagte dem Tagesspiegel, die Organisation setze sich schon seit langem dafür ein, dass die „U“-Untersuchungen bei Kindern verpflichtend werden, auch „weil das große präventive Möglichkeiten bringt. Das bringt Eltern vielleicht dazu, die Mädchen unversehrt zu lassen, weil sie sonst auffliegen könnten.“
Durch das Gesetz könnte Missbrauch früher erkannt werden
Viel ist über das geplante Gesetz „zur Stärkung der Kinder- und Jugendgesundheit“ noch nicht bekannt. Es befindet sich derzeit in der Gesundheitsverwaltung in „hausinterner Abstimmung“, heißt es, danach wird es weiteren Senatsverwaltungen zur Mitzeichnung übermittelt und dann ins Abgeordnetenhaus eingebracht. Durch verpflichtende Kinder- und Jugenduntersuchungen könnte auch Kindesmissbrauch und Gewalt früher erkannt werden.
In der Antwort der Senatsverwaltung auf die AfD-Anfrage, heißt es außerdem, dass im Jahr 2016 insgesamt "unter 20 Berlinerinnen" mit der Hauptdiagnose Genitalverstümmelung entlassen wurden, im Jahr 2017 waren es "unter zehn". Die weibliche Genitalverstümmelung werde aber nur dann in der Krankenhausdiagnosestatistik erfasst, wenn sie der Anlass für die Behandlung war. Die Senatsverwaltung weist daraufhin, dass eine systematische Datenerhebung einer gesetzlichen Grundlage bedürfe, die es nicht gebe. "Gesundheitsdaten unterliegen einem besonderen Schutz", heißt es.
Ab 2020 gibt es die neue Koordinierungsstelle Genitalverstümmelung
Meist werden die Verstümmelungen der Kinder ohnehin im Ausland durchgeführt. Zurück in Deutschland leben sie mit den schmerzhaften und traumatisierenden Folgen. In Berlin gibt es für die von vollzogener Beschneidung Betroffene verschiedene Anlaufstellen. Neu eingeführt werden soll im kommenden Jahr eine Koordinierungsstelle Genitalverstümmelung, die diese Angebote zusammenführt. Mit ihr will der Senat auch sogenannte „Change Agents“, wie Terre des Femmes sie bereits auf ehrenamtlicher Basis einsetzt, in die betroffenen Diaspora-Gesellschaften in Berlin einführen. Sie sollen dort niedrigschwellige Angebote machen und die Frauen aufklären. Im Doppelhaushalt 2020/2021 hat das Parlament dafür pro Jahr 120.000 Euro eingeplant.
Das Geld für die neue Stelle könnte knapp werden
Die AfD-Abgeordnete Jeanette Auricht, die die Anfrage an die Senatsverwaltung gestellt hatte, ist das allerdings zu wenig. „Die geplante Koordinierungsstelle ist sicher nicht schädlich, wird aber mit einem Jahresetat von 120.000 Euro kaum etwas ausrichten können“, sagte Auricht dem Tagesspiegel. Auch Terre des Femmes hatte sich mehr Geld für die Koordinierungsstelle erhofft. „Wie gut Berlin im Umgang mit Genitalverstümmelung aufgestellt ist, wird besonders davon abhängen, wie die Arbeit der neuen Stelle anläuft“, sagte Weil.