Gastronomie in Berlin: Von Tisch zu Tisch durch die Restaurants der Stadt
Sie entdeckten Tim Raue, waren im alten "Bacco" und direkt nach dem Mauerfall im "Fioretto" in Köpenick: Seit fast drei Jahrzehnten ziehen Elisabeth Binder und Bernd Matthies für den Tagesspiegel durch die Berliner Gastronomie. Ein Rückblick.
In Berlin über Genuss reden – das wirkt immer noch ein bisschen anrüchig. Ist Berlin nicht diese Wurst- und Bier-Metropole, deren Eingeborene sichtbare Protzerei hassen, abgesehen davon, dass sie dafür sowieso kein Geld haben? Aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit.
Das Berlin der Kaiserzeit prasste locker auf Pariser Niveau und mit Know-how, und auch in der jüngeren Vergangenheit gab es immer etwas Gutes zu essen: Immer noch sind es durchaus nicht nur Spezialisten, die sich noch an Henry Levy und sein Maître“ erinnern, das in den späten Siebzigern zu den deutschen Top Five gezählt wurde. Auch die Feinschmeckeretage des KaDeWe ist seit langem ein kulinarisches Reiseziel.
Von der geteilten Stadt im Abseits zum Reiseziel mit 26 Michelin-Sternen war es dennoch ein weiter Weg.
Kolja Kleeberg gründete sein „Vau“ am Gendarmenmarkt vor gut 18 Jahren – damit ist er der mit Abstand dienstälteste Sternekoch der Stadt. Einen ähnlichen Status hat nur Karl Wannemacher, der schon mehr als 30 Jahre am Herd seines „Alt Luxemburg“ steht, das ebenfalls lange einen Stern trug. Ein weithin bekanntes Traditionsrestaurant mit Jahrhundertvergangenheit gibt es aber nicht, auch wenn manches erfolgreich so tut.
Im Osten trank man, was da war
Dieser rasche Wandel hat mit der holprigen Hauptstadtwerdung Berlins zu tun, aber auch mit der hohen Dynamik der kulinarischen Kultur und den veränderten Ansprüchen an ein attraktives Restaurant. Wo früher praktisch nur italienische, französische und chinesische Gerichte Abwechslung boten, sind nun die meisten Küchen der Welt verfügbar, die Nachfrage nach vegetarischer Kost steigt, und die Top-Chefs kochen sowieso, was sie wollen, weil ihre Gäste Überraschungen, Experimente, neue Produkte und Kombinationen wünschen.
Wir vom Tagesspiegel sind ein wenig stolz darauf, dass wir diese imponierende Entwicklung von Anfang an begleitet haben, genau genommen schon kurz vor dem Anfang. Unsere erste Restaurantkritik unter dem Stichwort „Von Tisch zu Tisch“ erschien bereits 1988, als die Mauer zwar schon bröckelte, aber die Stadt dennoch in zwei Teile trennte, die auch kulinarisch kaum unterschiedlicher hätten sein können. Ein Köche-Quartett, bestehend aus Siegfried Rockendorf, Peter Frühsammer, Franz Raneburger und Karl Wannemacher bestimmte den West-Kurs, aber weiter unten ließen die Ansprüche rasch nach. „Rot oder weiß?“ war die Standardfrage der Kellner, wenn man im Westen nach Wein fragte. Im Osten trank man, was da war, „Erlauer Stierblu“ oder den ominösen „Grauen Mönch“, wenngleich in den Interhotels gegen Devisen schon damals alles verfügbar war, was sich der Gast wünschen konnte.
Dass die Stadt einmal jährlich mindestens drei Gourmetfestivals feiern würde, manchmal auch mehr, dass sich Weinmessen und Weinfestivals aneinanderreihen würden, lag außer Reichweite der Vorstellungskraft. Denn öffentlich praktizierter Genuss vertrug sich mit sozialistischen Prinzipien ebenso wenig wie mit dem Pragmatismus der West-Berliner.
Entstanden aus einer Glosse unter der Überschrift „Der Gelegenheitsgourmet“ im Frühjahr 1988 über die überflüssigen Gespreiztheiten in einem Berliner Spitzenrestaurant entstand im September desselben Jahres die Restaurantkritik, die seitdem jede Woche im Tagesspiegel erscheint (neuerdings freitags) – abwechselnd von Bernd Matthies und Elisabeth Binder.
Es begann mit dem damals hochgelobten und sündhaft teuren „Harlekin“ im frisch eröffneten Grand Hotel Esplanade. Darauf folgte das populäre, auch preislich volkstümlichere Kempinski-Eck. Undercover begannen wir dann rasch, auch auf der anderen Seite der Mauer zu testen: Das thüringische Restaurant „Goldene Gans“ im Grand-Hotel in der Friedrichstraße lag damals in einem anderen Weltreich, der Test wurde zum Abenteuer, die Rezensentin zur Grenzgängerin. Dass für die Tester bald eine halbe Stadt dazu kommen sollte, in der nach und nach eine eigene aufregende Restaurantszene entstehen würde, war nicht zu erahnen.
Nur ging das alles nicht so schnell, wie alle dachten. In jenem Frühling zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung wurde in vielen östlichen Restaurants, gerade auch auf dem Lande, tatsächlich noch Dosenspargel serviert. Und viele neue Restaurants gingen so schnell, wie sie gekommen waren. Viele erinnern sich noch an Doris Burneleit, die in Köpenick mit viel Improvisationstalent und Energie das einzige italienische Restaurant der DDR betrieb, das „Fioretto“. Im Westen scheiterte sie zunächst und wurde schließlich erst zurück in Prenzlauer Berg mit der „Trattoria Paparazzi“ so glücklich wie ihre Gäste.
Keine kulinarischen Unterschiede zwischen Ost und West
Heute kann kein Zugereister mehr einen Unterschied entdecken zwischen Ost und West, und kaum jemand kann sich noch vorstellen, wie die Trampelpfade in Prenzlauer Berg und Friedrichshain ohne Restaurants ausgesehen haben, von Mitte nicht zu reden. Wir waren im alten „Bacco“, dem legendären Edel-Italiener, in dem Claudia Cardinale und Sophia Loren verkehrten, als die Berlinale noch im Zoo-Palast gefeiert wurde. Als Massimo Mannozzis Sohn Alessandro in der Friedrichstraße das „Bocca di Bacco“ aufmachte, das heute die Hollywood-Größen anzieht, waren wir auch dabei. Und wir entdeckten Tim Raue und begleiteten den gegenwärtig am hellsten Stern am Berliner Küchenhimmel von Anfang an.
Die Zahl der Sterne-Restaurants ist stetig gewachsen, inzwischen gibt es 20 in Berlin, davon sechs mit zwei Sternen. Hinzu kommt eine große Zahl von gehobenen Wohlfühl-Restaurants und immer mehr kleine ethnische Restaurants, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll zu probieren, zu schmecken, zu genießen.
Der Text erschien zuerst im neuen „Tagesspiegel Genuss Guide“
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