Cirque du Soleil am Potsdamer Platz: Von Greta lernen, heißt fliegen lernen
Nach den Musikanten kommen die Akrobaten: Der Cirque du Soleil bespielt ab Oktober 2020 das Theater am Potsdamer Platz. Doch womit eigentlich?
„Nysa“ also. Das wird hart für den Friedrichstadt-Palast. Bislang lag das Berliner Monopol für rätselhafte Show-Titel ja beim alteingesessenen Revuetempel. Mit sprechenden Wortschöpfungen wie „Qi“, „The Wyld“ oder aktuell „Vivid“ wird das Volk zugleich irritiert und interessiert. Ein Marketingkonzept, das auch dem Cirque du Soleil gefällt. Wobei „Nysa“ nicht nur ein griechischer Frauennamen ist, sondern mit „Neubeginn“ und „Gleichgewicht“ sogar wirklich was bedeuten soll.
„Nysa“ heißt die Show, mit der der Cirque du Soleil im Theater am Potsdamer Platz am 28. Oktober 2020 die erste ständige Vertretung in Europa eröffnet. „Scharf und weich zugleich“ soll es sich sprechen, teilt Marek Lieberberg am Donnerstag bei der Präsentation des Konzepts unter noblen Kristalllüstern im Hotel de Rome mit.
Das fasst die alles mit allem vernietende Philosophie der Produktionen des Zirkusunternehmens bestens zusammen. Dynamisch und poetisch. Technisch überwältigend, menschliche berührend. Erzählerisch und akrobatisch. Speziell und universell. Der Cirque du Soleil will alle zum Publikum haben.
So rosarot und wolkig wie das zusätzlich von Geld- und Blautönen durchsetzte Plakat von „Nysa“ fällt auch die Erklärung der Showideen aus. Marek Lieberberg, das altgediente Zirkuspferd unter den deutschen Konzertveranstaltern moderiert. Lieberberg ist Geschäftsführer beim deutschen Ableger des weltgrößten Konzertveranstalters Live Nation, der das Theater am Potsdamer Platz zukünftig betreibt.
Live Nation übernimmt das 1750- Plätze-Haus vom glücklosen Mieter Stage Entertainment, dessen Musicalkonzept hier floppte. Bei der ersten eigens für Berlin entwickelten Show des Cirque du Soleil, den der Superlative gewohnte Lieberberg als weltgrößten Veranstalter von Entertainmentshows tituliert, fungieren sie außerdem als Co-Produzenten. Eine Kombi, die den Eigentümer Brookfield, der im Untergeschoss des Hauses ab Januar auch das Stripper-Musical „Magic Mike Live“ beherbergt, überzeugt hat.
Die Berlinale genießt weiterhin Gastrecht
Dessen Abgesandter betont im Verein mit Lieberberg auch gleich noch mal, dass die Berlinale trotz des „langfristigen Mietvertrages“ von Live Nation und Cirque weiterhin Gastrecht im Haus genießt. Die Show pausiert in den Februar-Wochen. Sonst werden sieben Shows pro Woche gespielt. Und derzeit in einem Kernteam von 150 Mitarbeitern entwickelt. Das Regieduo Lulu Helbaek und Simone Ferrari ist deswegen in Mailand unabkömmlich.
Sie erläutert per Videoclip, was das Plakat erahnen lässt: Klar wird die Titelheldin Nysa, die als bezopfte Silhouette am Himmel einer namenlosen Stadt herumhüpft, die weder Fernsehturm noch Brandenburger Tor kennt, nicht als Berliner Göre eingemeindet. So konkret ticken die kreativen Köpfe nicht. Die lesen keine Stadtpläne, die haben Visionen. Und wo zu viel Identifizierbarkeit, da ist auch Ausgrenzung nicht weit. Oder wie es Daniel Ross, der Kreativdirektor, ausdrückt: „Die Show wird zu Berlin gehören, ohne direkt von Berlin zu handeln.“
Ängste überwinden, Grenzen sprengen, ins Unbekannte aufbrechen – das sind die Themen. Dass eine junge Frau auf Abenteuerreise geht, ist im Jahr 2020 so unausweichlich, dass es der Konkurrenz in der Friedrichstraße schon im vergangenen Oktober für „Vivid“ eingefallen ist. Wer sollte sonst gehen? Alte weiße Männer sind schlecht im Turnen.
Kreativdirektor Ross wird noch deutlicher. Die Show sei tatsächlich vom Kampf der schwedischen Umweltschützerin Greta Thunberg inspiriert. „Wir waren dabei, sie zu schreiben und zur selben Zeit ist Greta aufgetaucht. Für uns war das ein Zeichen für den richtigen Augenblick“.
Berlin, die zukünftige Show-Metropole
Angesicht dieser Konkretheit und des „intellektuellen Hintergrunds“, den das Regieduo dargestellt hat, beeilt sich Marek Lieberberg klarzustellen, dass „Nysa“ eine Akrobatikshow ist. Erzählt werde die Geschichte einer „furchtlosen jungen Frau, die aus der Komfortzone ihres eigenen Lebens heraustrete, um ihren Horizont zu erweitern. Zirkus mit Botschaft also.
Produzentin Nathalie Enault betont, dass es dafür im Theater am Potsdamer Platz auch der Eroberung des Luftraums bedürfe. Obwohl „Nysa“ – an den Spielort angepasst – als erzählerische Show konzipiert ist, darf das Publikum zukünftig mit fliegenden Menschen über den eigenen Köpfen rechnen.
Das gehört zur Kernkompetenz des Zirkus, dessen Show „Ka“ in Las Vegas mit einer verschwenkbaren Bühne komplett auf technische Überwältigung setzt. Die Marke, die der kanadische Straßenkünstler Guy Laliberté vor 35 Jahren in Montréal gründete, beschäftigt 4500 Angestellte. In Las Vegas laufen außer „Ka“ sechs weitere Shows. Gleichzeitig sind Tourproduktionen unterwegs.
Als permanente Einrichtung gibt es sie aber tatsächlich nur in Nordamerika und in China. Die Entscheidung für Berlin begründen sie mit dessen Rolle als zentraler europäischer Kulturmetropole. Mit Berlins Internationalität und Vielfalt. Genau die Dinge, die auch der Friedrichstadt-Palast in seinen Shows gern preist. Dort erweckt der Neuzugang die Hoffnung, Berlin zur Show-Metropole Deutschlands wenn nicht gar des Kontinents auszubauen. Nachdem Hamburg sich den Titel der Musical-Stadt geschnappt hat, muss doch wenigstens das hinhauen.