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Reizflut der Bilder. Szene aus "Vivid".
© Jens Kalaene/dpa

Friedrichstadt-Palast Berlin: Die (fast) perfekte Show: „Vivid“ im Friedrichstadt-Palast

Humorvoll: Mit „Vivid“ stößt der Friedrichstadt-Palast in neue Revue-Dimensionen vor. Ein Glücksgriff.

Das ist eine Sensation: „Vivid“, die neue Grand Show im Friedrichstadt-Palast, hat Humor! Alles war hier schon zu sehen, Unterwasserballette und steppende Aliens, Eisflächen, die aus der Tiefe auftauchen, und funkelnde Fontänen, der Weihnachtsmann kam über den Köpfen des Publikums eingeschwebt, die Bühne zerbrach in Einzelteile, es gab Überwältigungskitsch, technisches Klimbim, Haute Couture und wüsten Ausstattungsplunder. Beim Anblick der todesmutigen Artisten krampften sich regelmäßig sämtliche Körperteile zusammen – nur die Lachmuskeln, die blieben untrainiert.

Jetzt aber wird zum ersten Mal in der stolzen Geschichte des Hauses Heiterkeit zugelassen. Und das ist der Regisseurin Krista Monson zu verdanken. Aus Las Vegas, wo sie 14 Jahre beim Cirque du Soleil angestellt war, hat sie die Innovation mitgebracht. In Form von Jimmy Slonina. Zu Beginn sitzt er als muffeliger Spießer im Parkett, der sich sofort lautstark auf Englisch beim Saaldienst beschwert, als ein arabisch gekleideter Darsteller seine Tochter immersiv in die Show einbeziehen will.

Skuriller Playback-Slapstick als komödiantischer Höhepunkt

Das Mädchen aber nutzt die Gelegenheit, der Aufsicht des konservativen Vaters zu entwischen: Ruckzuck ist sie auf der Bühne zwischen spanischen Wänden verschwunden. Mr. Slonina hechtet hinterher, wird seine Tochter aber erst ganz am Ende des Abends wiederfinden, wenn sie durch die Erlebnisse in der fantastischen Theatertraumwelt zum weltoffenen Charakter gereift ist.

Weil Logik in diesem Genre keine Rolle spielt, erliegt auch der Vater zwischenzeitlich der Verführungskraft des Varietés, wird zur Rampensau, schnappt sich eine Zuschauerin aus dem Saal, zerrt sie auf die Szene, um sie dort mit Patrick Swayzes „She's Like The Wind“ anzuschmachten – wobei ihm die Bühnenarbeiter natürlich immer im falschen Moment die benötigten Requisiten anreichen, damit die Nummer zum skurrilen Playback-Slapstick ausarten kann.

Bis zur Pause eine perfekte Show

Das ist in der Tat komisch, hat den allerkleinsten Teil des Produktionsbudgets von zwölf Millionen Euro verbraucht und macht bei der Premiere am Donnerstag doch den größten Effekt. Weil mit Comedy-Elementen hier nun wirklich keiner gerechnet hätte. Die Wahl von Kristina Monson, die „Vivid“ zusammen mit dem hauseigenen Kreativdirektor Oliver Hoppmann entwickelt hat, ist überhaupt ein Glücksgriff. Die Amerikanerin katapultiert den Friedrichstadtpalast in eine neue Revuedimension: Der Glamour, der früher oft nur behauptet wurde, fühlt sich plötzlich ganz selbstverständlich an. Setdesigner Michael Cotton reißt die ohnehin schon breiteste Bühne der Welt zudem noch weiter auf, bezieht die handtuchschmalen Spielflächen, die rechter- wie linkerhand ins Parkett hineinragen, durch raffinierte Beleuchtungseffekte in die Szenerie mit ein.

Prominenter Besuch. Zur "Vivid"-Premiere kommen Jens Spahn (CDU, 2.v.l), Bundesgesundheitsminister, und ehemaliger Berlin-Bürgermeister Klaus Wowereit (r) mit Lebensgefährten.
Prominenter Besuch. Zur "Vivid"-Premiere kommen Jens Spahn (CDU, 2.v.l), Bundesgesundheitsminister, und ehemaliger Berlin-Bürgermeister Klaus Wowereit (r) mit Lebensgefährten.
© Jens Kalaene/dpa

So wie die spacigen Klänge aus der Soundanlage den Zuschauer akustisch förmlich umspülen, führt sich der Betrachter auch optisch wie in einem 180-Grad-Panorama. Bis zur Pause ist „Vivid“ schlicht perfekt: Die Gruppenchoreografie der Roboterarmee, Glaceia Henderson als soulig singende Grace-Jones-Wiedergängerin, die regenbogenbunten Froschmenschen, die auf fünf Meter hohen, schwankenden Grashalmen hocken, die Hutkreationen von Philip Treacy, denen Stefano Canulli angemessen verwegene Kostüme hinzugefügt hat, der Spitzentanz der Ballerinas in ihren Veilchenkostümen, die metrosexuelle Nummer, in der die Damen Bubikopf zum Zylinder tragen und die Herren weit schwingende Derwisch-Röcke zum nackten Oberkörper, schließlich die traditionelle Girlreihe, bei der die Tänzerinnen Kreissägen-Kappen tragen, die erst weiß leuchten und später vielfarbig - das alles hat Klasse. Und ist stimmig im Timing ausbalanciert, weil immer wieder ein, zwei Minuten Leerlauf eingebaut sind, damit der Betrachter die Chance hat, die Reizflut der Bilder halbwegs zu verarbeiten.

„Vivid“ beschwört die Utopie der globalen Familie

Die Eröffnungsnummer des zweiten Teils zeigt dann noch einmal, was man bisher so gar nicht vermisst hat: billige, schlüpfrige Erotik, eine Friedrichstadt-Palast-Ästhetik aus früheren Tagen. Schnell aber findet die Show zurück zum Wow-Effekt; für die Navas Troupe aus Ecuador, die zwei gigantische Todesräder beturnt, gibt es spontane Standing Ovations. Und dann ist plötzlich alles vorbei, ohne zweite Kickline-Nummer, ohne Bombast beim Schlussbild. Die bunte, 100-köpfige Truppe strömt einfach noch einmal zusammen, angenehm amerikanisch-pragmatisch, für eine finale Feier der Lebensfreude.

Wenn Goethes Farbenlehre schillert, dann ist Berndt Schmidt am Werk, der Intendant des Friedrichstadt-Palasts. Der letzte bekennende Humanist der deutschen Kulturszene glaubt schlicht daran, dass eine buntere Gesellschaft eine bessere ist - und er tut tatsächlich alles dafür. Dem luxuriös aufgemachten Programmheft liegen am Premierenabend „Respect each other“-Schilder bei, die man auf dem roten Teppich in die Kameras halten kann. Und bevor die Show startet, hält der Hausherr eine Rede, in der er betont, dass auf seiner Bühne Menschen aller Hautfarben und sexuellen Orientierungen zusammenarbeiten, die 27 verschiedene Muttersprachen haben, die „sich schätzen und, wenn es darauf ankommt, gegenseitig schützen“. Die Utopie der großen, globalen Familie wird hier für zweieinhalb Stunden beschworen.

Bombast mit didaktischem Anspruch

Bis zu 800 000 Menschen wird „Vivid“ erreichen, dürfte also auch manchen Zuschauer haben, der sich von allem verunsichern fühlt, was in Aussehen und Verhalten von der Norm abweicht.

Vielleicht bleibt es ein frommer Wunsch von Berndt Schmidt und seinem Team, dass sich auch diese Zuschauer von den multikulturellen, multiethnischen, Geschlechter- und Gedankengrenzen überwindenden Wunderwelten des Friedrichstadt-Palasts beeindrucken lassen - und das Gesehene hinterher auf ihre Lebensrealität anwenden. Vielleicht aber gelingt diese Horizonterweiterung auch, zumindest partiell. Dann wäre diese Berliner Massenvergnügungsstätte tatsächlich die größte Volksbildungsanstalt der Republik, dann wären wir im preußischen Arkadien, wo einst Voltaire mit dem alten Fritz philosophierte, der besten aller denkbaren Welten einen Tanzschritt näher gekommen.

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