Neue Doppelspitze zur Zukunft der Berlinale: "Die Berlinale soll ein Publikumsfestival bleiben"
Die Filmfestspiele werden renoviert. Was verändert sich? Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek über Programmreformen, Netflix und die Kinos am Potsdamer Platz.
Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek sind das neue Führungsduo der Berlinale und folgen an der Spitze des Filmfestivals Dieter Kosslick nach. Andreas Busche und Christiane Peitz sprachen mit der neuen Doppelspitze über ihre Pläne für die kommenden 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin.
Signor Chatrian, Sie leben seit Januar hier. Wie gut ist Ihr Deutsch inzwischen?
CARLO CHATRIAN (auf Deutsch): Es ist noch etwas winzig, wir sollten besser Englisch reden.
Frau Rissenbeek, die Berlinale hat gerade zwei große Sponsoren verloren. Glashütte Original hatte unter anderem den Dokumentarfilmpreis mit 50 000 Euro dotiert. Schon dieses Jahr wurden die Ticketpreise erhöht. Haben Sie ein Finanzproblem?
RISSENBEEK: Sponsoren definieren heute sehr genau, welche Ziele sie mit ihrem Engagement verfolgen. Die Öffentlichkeit ist viel fragmentierter, es geht nicht mehr allein darum, möglichst viele Menschen zu erreichen. Darum ist es inzwischen eine komplexere Aufgabe, Sponsoren zu gewinnen. Wir haben weiter langjährige Hauptpartner an Bord und sind im Austausch mit neuen Interessenten. Wir sind zuversichtlich, dass der Dokumentarfilmpreis weiter dotiert sein wird.
CHATRIAN: Klar ist, die Berlinale soll ein Publikumsfestival bleiben.
Sie wollen die Zahl der Filme nicht reduzieren? Es gibt ja die Forderung, das Festival müsse entschlackt werden.
CHATRIAN: Ich spüre in Berlin einen Riesenhunger auf Filme. Und solange es die Qualität nicht beeinträchtigt, habe ich mit der Quantität kein Problem. Alle sind sich aber auch darin einig, dass wir das internationale Standing der Berlinale nicht mehr allein an der Zahl der Weltpremieren festmachen dürfen. Wir konzentrieren uns darauf, die Filme zu programmieren, an die wir glauben. Wir müssen uns etwas Naivität und Optimismus bewahren. Wären wir verzagt, würde das der Berlinale nur schaden.
Sie führen einen zweiten Wettbewerb ein, „Encounters“. Das Auswahlkomitee wird auf sieben Personen reduziert, die Leitungen der anderen Sektionen Forum und Panorama gehören künftig nicht mehr dazu. Bleiben das die einzigen gravierenden Reformen?
CHATRIAN: Für 2020 ja. Die Festivalstruktur hat sich verändert. Ich habe eine andere Aufgabe als mein Vorgänger Dieter Kosslick. Er war Geschäftsführer und Künstlerischer Leiter in Personalunion, jetzt gibt es eine Arbeitsteilung zwischen mir und Mariette Rissenbeek. Ich bin ausschließlich Künstlerischer Leiter – von einem Festival, das viele eigenständige Sektionen vereint.
Haben Sie als ausschließlich Künstlerischer Leiter nun mehr Zeit zu reisen?
CHATRIAN: Im April war ich in Los Angeles und habe mich mit Vertretern der Studios und einigen Independent-Produzenten getroffen. Im Frühling war ich in arabischen Ländern und in Paris. Im Herbst steht eine große Reise nach Asien an. Mariette wird mich auf einigen Reisen begleiten. Ich halte es für unverzichtbar, als Künstlerischer Leiter engen Kontakt zu Produzenten zu pflegen. Es verändert die persönliche Bindung. Sympathien helfen bei Verhandlungen.
In dem neuen Wettbewerb sollen „ästhetisch und formal ungewöhnliche Werke“ von unabhängigen Filmschaffenden laufen. Der Bären-Wettbewerb lebte bisher doch auch von starken Arthouse-Filmen.
CHATRIAN: Ich möchte zwei kohärentere Wettbewerbe schaffen, in denen die Unterschiede zwischen den konkurrierenden Produktionen nicht zu extrem ausfallen. Es hilft der Jury, wenn sie nicht Äpfel mit Birnen vergleichen muss. Und es hilft den Filmen, wenn sie den Markt zielgenauer adressieren können. Zum Glück sorgt der Markt immer wieder für Überraschungen. Wer hätte gedacht, dass der diesjährige Cannes-Gewinner „Parasite“ ein Riesenerfolg in Südkorea wird? Aber die Produzenten haben klare Erwartungen an die Vermarktung ihrer Filme, meist im Zusammenhang mit der Höhe ihres Budgets. Die Berlinale sollte diese Erwartungen erfüllen können, ohne die kleineren Filme zu benachteiligen.
Wo würde denn künftig ein Film wie „Körper und Seele“ von Ildikó Enyedi laufen, der 2017 den Goldenen Bären gewann?
CHATRIAN: Im Wettbewerb um den Goldenen Bären. Ildikó Enyedi ist eine renommierte Regisseurin, sie hat 1989 mit ihrem Debüt in Cannes die Goldene Kamera gewonnen, ist also keine Unbekannte. In „Encounters“ sollen Filme laufen, die noch keine großen Produktions- strukturen im Rücken haben oder von den Regisseurinnen und Regisseuren selbst an uns herangetragen werden. Die neuen Technologien sorgen dafür, dass manche Filme komplett in Eigenregie entstehen. Sie haben ein anderes Verhältnis zum Markt, es sind zartere Pflänzchen.
Und wie wollen Sie „Encounters“ vom ähnlich ausgerichteten Forum abgrenzen?
CHATRIAN: Es werden dort bis zu 15 Filme laufen, und es ist ein Wettbewerb. „Encounters“ soll Aufmerksamkeit generieren. Im Forum geht es mehr um Austausch, wobei ich der neuen Leiterin Cristina Nord nicht vorgreifen möchte. Das Panorama hat wieder ein eigenes Profil: Hier ist das Publikum die Jury und vergibt seine eigenen Preise. Die Berlinale ist ein Haus mit vielen Zimmern, einem großen Foyer, einem gemütlicheren Wohnzimmer und dem Esszimmer, in dem sich alle versammeln. Und das Beste daran: Manchmal verirren sich die Gäste in Zimmer, die sie noch nicht kennen.
Cannes hat seine Rolle als ständige Vertretung der renommierten Arthouse-Produktionen, Venedig fokussiert sich auf Hollywood und die Oscars. Und die Berlinale?
CHATRIAN: Ich blicke nicht zu sehr nach Cannes und Venedig. Unsere Aufgabe besteht darin, die effektivste Struktur zu schaffen, um einen Film zu unterstützen. Unabhängige Filme haben es heute immens schwer, außerhalb von Festivals noch eine Öffentlichkeit zu finden. Und ich rede nicht von Youtube oder Vimeo.
Sie wollen nicht mit Cannes und Venedig um die besten Filme konkurrieren?
CHATRIAN: Das ist nicht mein Hauptantrieb. Wenn ich einen Film mag, denke ich darüber nach, wie die Berlinale ihm helfen kann. Und wir sollten die Stärke der Marke „Berlinale“ nicht verkennen.
Zuletzt waren oft Klagen zu hören, dass zu wenig große Namen nach Berlin kommen.
CHATRIAN: Für die Attraktivität der Berlinale sind unsere Gala-Premieren im Berlinale- und Friedrichstadtpalast ebenso wichtig. Der Fokus beim Wettbewerb liegt nicht primär auf Filmen mit Stars, obwohl wir die natürlich sehr gerne haben. In Locarno hatte ich bei den Vorstellungen auf der Piazza Grande jeden Abend mindestens einen Star. Ich möchte auch gar nicht übertrieben selbstsicher erscheinen, ich bin mir der Schwierigkeiten bewusst. Nicht zuletzt aufgrund des Termins der Berlinale, bislang kurz vor der Oscar-Verleihung und 2020 erstmals kurz danach.
Könnte man das Festival vorziehen, damit der Termin für Oscar-Kandidaten wieder attraktiv wird?
RISSENBEEK: Terminlich gibt es kaum Alternativen. Anfang Dezember wäre kein guter Zeitpunkt, so kurz vor Weihnachten. Und im November kommen wir zu nahe an den American Film Market in Los Angeles, was für den Filmmarkt der Berlinale ein Problem wäre.
Sollte man auf der Suche nach interessanten Independent-Filmen in Zukunft vielleicht weniger Richtung USA und mehr nach Asien oder Südamerika blicken?
CHATRIAN: Die amerikanische Filmindustrie ändert sich rasant, die Studios konzentrieren sich zunehmend auf eine Sorte von Kino, die ich nicht unbedingt im Wettbewerb sehe – ohne das kategorisch ausschließen zu wollen. Die Berlinale lebt von diesen Publikumsfilmen. Aber auch die Indie-Szene ist wieder sehr lebendig. Diese Filme profitieren allerdings von einer starken Präsenz auf US-Festivals. Und nach Asien und Lateinamerika schauen wir schon lange.
In Berlin gab es bisher nur vereinzelt Proteste gegen Netflix-Produktionen. Wie halten Sie es mit den Streaming-Produzenten?
CHATRIAN: Wir sind uns einig, dass wir Netflix nicht boykottieren werden. Festivals sind heute Teil der Verwertungskette. Wir müssen von Fall zu Fall entscheiden, wie wichtig die Berlinale für einen bestimmten Film ist. Die Branche befindet sich im Übergang. Wir dürfen uns nicht von einer jüngeren Generation von Filmfans entfernen, für die Netflix so selbstverständlich zum Filmerlebnis gehört wie ein Kinobesuch. Gleichzeitig wollen wir die Kinos nicht gefährden.
RISSENBEEK: Unsere Regel bleibt, dass Filme, für die eine Kinoauswertung vorgesehen ist, bei uns laufen können. Aber die Stärkung des Kinos als Ort hat Priorität. Zusammen mit der Reihe „Generation“ wollen wir junge Menschen näher ans Kino heranführen. Auf der Berlinale können sie erleben, was es heißt, einen Film in einem dunklen Raum gemeinsam mit einem großen Publikum zu sehen. Und die Kinobetreiber haben inzwischen verstanden, dass auch sie ihren Teil dazu beitragen müssen, das Kino als Ort wieder attraktiver zu machen. Vielleicht können wir da auch etwas zusammen entwickeln.
Der Potsdamer Platz als Festivalzentrum hat eine unsichere Zukunft. Die CinestarKinos schließen Ende des Jahres. Das Kartellamt prüft gerade, ob Vue International die Kette übernehmen darf, weil ihnen auch die Cinemaxx-Kinos gehören. Der Vertrag mit dem Musicaltheater als Berlinale-Palast läuft 2022 aus. Denken Sie über Alternativen nach?
RISSENBEEK: Es zeichnet sich ab, dass wir das Cinestar für die Berlinale 2020 weiter nutzen können, darüber verständigen wir uns gerade mit den Vermietern.
Ist denn ein zentraler Spielort für ein Festival von der Größe der Berlinale überhaupt noch von Bedeutung?
CHATRIAN: Ich bin relativ neu in der Stadt. Die Berlinale liegt am zentralen Potsdamer Platz extrem günstig. Seit ich hier lebe, habe ich die Stadt aber auch von einer anderen Seite kennengelernt. Berlin ist eine Metropole, es mangelt nicht an Spielstätten. Wir müssen offen für alle Möglichkeiten bleiben. Ein Blick in die Geschichte zeigt übrigens, dass das Kino gerade in Zeiten des Umbruchs immer kreative Lösungen gefunden hat.
Carlo Chatrian, 1971 in Turin geboren, leitete von 2012 bis 2018 das Filmfest Locarno. Er studierte zunächst Literatur und Philosophie und arbeitete schon früh als Filmkritiker und Publizist. Unter anderem schrieb er Bücher über die Regisseure Wong Kar Wai und Errol Morris. 2008 stieß er zum Kuratorenteam in Locarno. Im Juni 2018 wurde er zum Nachfolger von Dieter Kosslick als Künstlerischer Direktor der Berlinale ernannt, erstmals in einer Doppelspitze.
Mariette Rissenbeek, 1965 in Posterholt/Niederlande geboren, ist die neue Geschäftsführerin der Berlinale. Vorher war sie seit 2011 Chefin der Agentur German Films mit Sitz in München, die das deutsche Kino im Ausland vertritt. Sie studierte Germanistik und Theaterwissenschaften, arbeitete zunächst für den Tobis-Verleih in Berlin und wechselte 1995 in die Produktion, unter anderem bei Ziegler Film und mit einer eigenen Firma in Hamburg. Bei German Films begann sie 2002.
Rissenbeek war Mitglied der Findungskommission, die die Kosslick-Nachfolge regeln sollte. Der Kommission gehörten außerdem Kulturstaatsministerin Monika Grütters und der frühere Berliner Senats-kanzleichef Björn Böhning an.
Rissenbeek und Chatrian traten ihre Ämter offiziell am 1. Juni 2019 an. Die 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin finden vom 20. Februar bis zum 1. März 2020 statt.