„Politische Führung hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht“: Versuchter Sturm auf den Reichstag hätte verhindert werden können
Für die Demo von Rechtsextremen am Reichstag gab es gar keine Genehmigung vom Innenministerium. Die Polizei hätte sie unterbinden müssen.
Die Demonstration von Rechtsextremisten, aus der heraus Ende August Teilnehmer die Treppen des Reichstagsgebäudes hinaufstürmten, hätte nicht zugelassen werden dürfen – und ganz einfach verhindert werden können. Nach Tagesspiegel-Recherchen hätte es erst gar nicht zu der Aktion von Rechtsextremen und Reichsbürgern kommen müssen, wäre geltendes Recht durchgesetzt worden.
Politisch verantwortlich für die Panne und die weltweit beachteten Bilder vor dem Reichstag samt schwarz-weiß-roter Reichsfahnen ist Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD).
Dabei hatte er noch beim Verbot verschiedener für den 29. August angemeldeter Demonstrationen erklärt: Er wolle nicht erneut hinnehmen, „dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird“. Nun stellt sich heraus: Die Berliner Polizei hat den Rechtsextremisten die Bühne auf den Treppen des Reichstags erst eröffnet.
Für die vom Verein "Staatenlos" um den Ex-NPD-Kader Rüdiger Hoffmann angemeldete Kundgebung lag keine Ausnahmegenehmigung des Bundesinnenministeriums vor, wie ein Sprecher dem Tagesspiegel sagte. Diese Genehmigung wäre nach dem Gesetz aber nötig gewesen, da die Kundgebung im sogenannten befriedeten Bezirk um den Bundestag abgehalten wurde. Nicht gemeint ist damit die große Corona-Demo auf der Straße des 17. Juni, die am selben Tag stattfand.
Obwohl diese Ausnahmegenehmigung des Bundesinnenministeriums nicht vorlag, ließ die Polizei die Kundgebung zu. Als bis zu 500 Teilnehmer der Versammlung die Reichstagstreppen hinaufgestürmt waren, musste zunächst eine Handvoll Polizisten die Gruppe abwehren. Die Polizei hatte in diesem Moment zu wenige Beamte vor dem Reichstag postiert und war selbst von der Eskalation überrascht worden.
Ausnahmegenehmigung des Innenministeriums lag nicht vor, trotzdem wurde die Kundgebung genehmigt
Innensenator Geisel hatte sich darauf berufen, dass die Gerichte das Verbot der Corona-Demonstration wie auch der Reichsbürgerkundgebung aufgehoben hatten. Das von der Polizei verhängte Verbot wegen zu erwartender Verstöße gegen die Corona-Schutzregeln war vom Verwaltungsgericht und vom Oberverwaltungsgericht gekippt worden.
Später erklärte Geisel, der Schutz des Reichstags an jenem Demo-Samstag habe natürlich auf der Prioritätenliste der Polizei gestanden. "Das hätte nicht passieren dürfen!", sagte er.
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Tatsächlich ist noch etwas anderes passiert: Die Versammlungsbehörde der Berliner Polizei hat die fehlende Genehmigung durch das Bundesinnenministerium für das Verbot offenbar nicht beachtet. Es handelt sich um ein sogenanntes Spezialgesetz. Demnach sind Demonstrationen im befriedeten Bereich von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich verboten.
Nach dem Gesetz besteht ein sogenannter Erlaubnisvorbehalt. Das Bundesinnenministerium kann Kundgebungen in befriedeten Bezirken zulassen, vor allem wenn der Bundestag sitzungsfrei hat. Erst mit einem entsprechenden Bescheid sind Versammlungen im befriedeten Bezirk überhaupt legal.
Gerichte gingen davon aus, dass das Innenministerium die Demo erlaubt haben könnte
Bei der Aufhebung der Demo-Verbote am 29. August sind Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass das Bundesinnenministerium die Demonstration am Reichstag erlaubt haben könnte und diese nach dem Gesetz zuzulassen wären.
Tatsächlich wussten die Gerichte nur, dass der Demo-Anmelder beim Innenministerium die Zulassung der rechten Demonstration beantragt hat. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte dem Tagesspiegel aber, dass gar kein Bescheid erteilt worden sei.
Das Versammlungsverbot am Bundestag galt also ohnehin - selbst wenn die Versammlung in der sitzungsfreien Zeit hätte genehmigt werden müssen. Ohne Bescheid des Innenministeriums keine Genehmigung.
Die Demo hätte auch ohne Corona-Gefahr verboten werden können
Selbst Berlins Innenstaatssekretär Torsten Akmann (SPD) musste auf eine Anfrage des fraktionslosen FDP-Mitglieds und Innenpolitikers Marcel Luthe eingestehen: „Ein Zulassungsbescheid des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zur Durchführung einer Versammlung am 29. August 2020 innerhalb des befriedeten Bezirks des Deutschen Bundestages lag der Versammlungsbehörde nicht vor, ebenso wenig ein entsprechender Ablehnungsbescheid.“
Innensenator Geisel und die Berliner Polizei hätten gegen die Demonstration der Reichsbürger also auch ohne Corona-Gefahr vorgehen und auch nach Erlaubnis durch die Gerichte vom Reichstag abdrängen können.
Michael Knape, Dozent an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg und ehemaliger Berliner Polizeidirektor, sagte dem Tagesspiegel: „Es bestand von vorherein ein Verbot, sich dort zu versammeln, weil keine Ausnahmegenehmigung nach dem befriedete Bezirke-Gesetz vorlag. Dieses Gesetz steht vor dem Versammlungsgesetz.“
Ein Sprecher der Innenverwaltung erklärte hingegen, nur weil die Ausnahmegenehmigung durch das Bundesinnenministerium gefehlt habe, sei dies kein Grund, um eine Demonstration aufzulösen.
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Dem widerspricht Oliver Tölle, Dozent an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin. Er war bis 2017 oberster Justiziar der Berliner Polizei, nun bildet er Polizisten aus.
„Wenn keine Genehmigung des Bundesinnenministeriums für eine solche Demonstration im befriedeten Bezirk vorliegt, ist die Versammlung illegal“, sagte Tölle. „Zumindest hätte die Polizei jedenfalls eine solche Kundgebung von Beginn an aus dem Bereich des Reichstags nach geltendem Recht abdrängen und ihr einen anderen Platz außerhalb des Bereichs zuweisen können.“
Luthe: Politische Führung hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht
Der Berliner Abgeordnete Luthe macht Innensenator Geisel für das Desaster verantwortlich. „Die Bilder vor dem Reichstag konnten nur entstehen, weil die politische Führung ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat“, sagte Luthe dem Tagesspiegel. Es sei der Polizei nicht gelungen „entschlossen gegen Neonazikader vorzugehen und Bundesrecht durchzusetzen. Für diese Schlamperei trägt der Innensenator die alleinige politische Verantwortung."
Die Gesetzeslage sei klar, sagte Luthe. „Eine verbotene Versammlung ist aufzulösen und hätte gar nicht erst eine Bühne bekommen dürfen, wenn der Innensenator seinen Job gemacht hätte.“ Stattdessen hätten Extremisten vor dem Reichstag agitieren dürfen.